Tanja Kuhnert, Mathias Berg (Hrsg.): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 06.11.2020
Tanja Kuhnert, Mathias Berg (Hrsg.): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
256 Seiten.
ISBN 978-3-525-40848-3.
D: 30,00 EUR,
A: 31,00 EUR.
Verfasser eines Geleitwortes: Rainer Schwing.
Thema
Seit 2008 ist die Systemische Therapie wissenschaftlich und seit Ende 2018 sozialrechtlich anerkannt. Systemische Beratung und Therapie wird bereits seit langem in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und in angrenzenden Kontexten wirksam genutzt. Obwohl diese Arbeitskontexte häufig keinen primär expliziten therapeutischen Auftrag verfolgen, sind dort systemtherapeutisches Wissen und Handeln hoch relevant. Allerdings hat nur ein kleiner Teil der aktuell systemtherapeutisch weitergebildeten psychosozialen Fachkräfte als approbierte/-r Psychotherapeut/-in Zugang zum Gesundheitswesen. Das Thema des Buches ist daher: Was kann und darf auch in nichtheilkundlichen Kontexten in Zukunft Systemische Therapie jenseits des Auftrag sein? Welche Unterscheidungen müssen zukünftig getroffen werden? Welche eigenen Konzepte beinhaltet die Systemische Therapie jenseits von Approbation und Heilauftrag?
Herausgeberin und Herausgeber
Tanja Kuhnert ist als Diplom-Sozialarbeiterin und M. A. Management in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen und als Systemische Beraterin und (Familien-)Therapeutin (DGfB/DGSF/SG), Supervisorin, Coachin und Organisationsberaterin (DGSF), Lehrende für Systemische Beratung, (Familien-)Therapie, Supervision und Coaching (DGSF), Traumatherapeutin (PITT), Traumafachberaterin (DGePT), ebenso wie als European Psychotherapist (ECP) für verschiedene DGSF zertifizierte Weiterbildungsinstitute tätig. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) e.V. Hier war sie als Gründerin und Sprecherin der Fachgruppe Armut-Würde-Gerechtigkeit, Mitglied im Forum Gesellschaftspolitik aktiv.
Prof. Dr. phil. Mathias Berg ist M.A. (Klinisch-therapeutische Soziale Arbeit), Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut/​Familientherapeut (DGSF, SG), Lehrender für Systemische Therapie und Beratung (DGSF) und Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abt. Aachen. Er arbeitet zudem in eigener Praxis in Köln, ist Lehrender am Kölner Institut für Systemische Beratung und Therapie (KIS), Vorstandsvorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft für Erziehungsberatung NRW und Vorstandsmitglied der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke).
Die renommierten Autorinnen und Autoren der Beiträge sind Mathias Berg, Jörg Breiholz, Benjamin Bulgay, Reinert Hanswille, Michaela Herchenhan, Dina Hollmann, Susanne Kiepke-Ziemes, Mathias Klasen, Rudolf Klein, Martina Kruse, Tanja Kuhnert, Tom Levold, Wolfgang Loth, Marion Ludwig, Martina Nassenstein, Matthias Ochs, Claudia Schiffmann, Herta Schindler, Cornelia Schmellenkamp, Rainer Schwing, Julia Strecker, Barbara Welle, Joachim Wenzel, Jan V. Wirth und Renate Zwicker-Pelzer.
Aufbau
Das umfangreiche 389-seitige Buch gliedert sich nach einem Vorwort von Rainer Schwing und einer Einleitung der Herausgeber und des Herausgebers in vier Teile, den Grundlagenteil mit drei Beiträgen, der Vorstellung der Systemischen Therapie in der Sozialen Arbeit im zweiten Teil mit neun Beiträgen und der Darstellung der systemischen Therapie in verwandten Kontexten im dritten Teil mit fünf Beiträgen. Im vierten Teil führen Reinert Hanswille und Tom Levold eine grundsätzliche Diskussion über bedeutsame Aspekte systemischer Therapie. Das Buch schließt mit einer Vorstellung der Autor*innen und dem Abkürzungsverzeichnis. Die einzelnen Beiträge beinhalten jeweils ein Literaturverzeichnis.
Inhalt
In ihrer Einführung stellen Mathias Berg und Tanja Kuhnert das Anliegen des Buches vor. Hierzu gehören die Fragen (S. 16): Wie legitimiert sich (system-)therapeutisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Was ist der Sinn und Ziel von systemischer Therapie in sozialen Arbeitsfeldern, wenn es nicht in erster Linie um einen Auftrag zur Heilung psychischer Störungen geht? Ist systemische Therapie in sozialpädagogischer und angrenzender Arbeit als systemische Beratung zu bezeichnen?
Im Buch sollen die Qualitätsmerkmale systemtheoretischer Ansätze im nichtheilkundlichen Sektor beschrieben werden. Um die Vielfalt systemtheoretischer Arbeit zu beschreiben, werden eine Reihe psychosozialer Arbeitsfelder betrachtet.
Im ersten Teil beschreibt Matthias Ochs (im ersten Beitrag) theoretisch fundiert und unterhaltsam die Differenzierungen, Übergänge und Verschränkungen von Beratung, Therapie und Psychotherapie. Im zweiten Beitrag ordnet Joachim Wenzel die rechtliche Situation ein, dem sich der dritte Beitrag von Jan V. Wirth über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Sozialen Arbeit und der systemischen Therapie anschließt.
Im zweiten Teil werden Kontexte der Praxis Sozialer Arbeit präsentiert. Mathias Berg und Wolfgang Loth beschäftigen sich mit der Familien- und Erziehungsberatungund Mathias Klasen und Claudia Schiffmann mit der aufsuchenden Familientherapie als eine Hilfeform in der Arbeit mit Familien in besonderen Lebenslagen. Im Anschluss stellen Diana Hollmann und Cornelia Schmellenkamp die systemische Arbeit in der stationären Jugendhilfe vor. Marion Ludwig thematisiert die systemische Therapie im Rahmen des therapeutischen Einzel- und Gruppenwohnens für psychisch beeinträchtigte, wohnungslose Menschen. Herta Schindler erörtert die systemtherapeutische Biografiearbeit im Pflegekinder- und Adoptionsbereich, dem schließt sich eine Darstellung von Martina Nassenstein mit der Vorstellung des systemischen Arbeitens in der Schwangerschafts- und Familienberatung an. Barbara Welle und Jörg Breiholz fokussieren die systemische Arbeit mit Straffälligen und deren Familien. Im Anschluss stellt Anja Kuhnert systemtherapeutisches Arbeiten im Kontext des ambulant betreuten Wohnens vor. Abschließend beschäftigt sich Benjamin Bulgay mit systemisch-therapeutischen Aspekten in der Arbeit mit migrierten geflüchteten Menschen.
Der dritte Teil thematisiert die Systemische Therapie in fünf Beiträgen in sogenannten verwandten Kontexten. Renate Zwicker-Pelzer stellt die systemische Beratung und Familientherapie im Kontext von Pflege- und Angehörigenarbeit vor, im Anschluss beschäftigt sich Rudolf Klein mit der systemischen Suchtberatung und Suchttherapie. Im dritten Beitrag erörtert Susanne Kiepke-Ziemes die systemische Arbeitsweise in der Hospizarbeit und der Palliativversorgung. Martina Kruse und Michaela Herchenhan diskutieren systemtherapeutische Perspektiven in den frühen Hilfen. Abschließend beschäftigt sich Julia Strecker mit der systemischen Seelsorge.
Im vierten Teil fokussiert Reinert Hanswille insbesondere Unterschiede im störungsspezifischen Wissen und Können von systemischen Therapeut*innen mit und ohne Approbation. Anschließend kritisiert Tom Levold diese Ausführungen, abschließend geht nochmals Reinert Hanswille in einem Kommentar auf diese Ausführungen ein.
Das Buch schließt mit biografischen Hinweisen zu den Autor*innen und einem Abkürzungsverzeichnis.
Diskussion
Kenntnisreich erörtern die renommierten Autor*innen in ihren Beiträgen theoriebezogen und praxisnah die Unterschiede und Gemeinsamkeiten systemischer Therapie im Kontext mit jeweils anderen Bezugssystemen. Die meisten der Autor*innen absolvierten ein grundständiges Studium der Sozialen Arbeit (12x) oder der Diplompädagogik (7x). Vier Autoren absolvierten ein Psychologiestudium, an einer Hochschule lehren vier Autor*innen und an Instituten zwölf. Während immer noch häufig an den Hochschulen für Soziale Arbeit Fachleute aus den sogenannten Bezugswissenschaften lehren, argumentieren hier überwiegend Theoretiker und Praktiker der Sozialen Arbeit.
Im vorliegenden Buch stellen die Autor*innen systemtheoretische Perspektiven der Sozialen Arbeit und in den verwandten Kontexten jenseits des Heilauftrags vor. Die abschließende, sehr kontroverse Diskussion zwischen Reinert Hanswille und Tom Levold zeigt m. A. grundlegende unterschiedliche Bewertungen systemtheoretischer Konzepte, insbesondere in Bezug auf eine Anpassung, bzw. die Ermöglichung der Abrechenbarkeit systemische Leistungen im Gesundheitssystem auf.
Deutlich wird, dass die Beschreibungen der Autor*innen sehr unterschiedlich erfolgen. Mal wird beispielsweise angemerkt, ob nicht alles Handeln bereits systemisch ist, mehrfach wird systemisches Handeln im Kontext eines Arbeitsfeldes (Beispiel in der Migration, der Pflege, der Angehörigenarbeit, der Suchtberatung und Suchttherapie) beschrieben, mal wird eine aufsuchende Familientherapie der sozialpädagogischen Familienhilfe gegenübergestellt, mal wird von Therapie und Beratung gesprochen, meistens jedoch von Systemischer Therapie. Nicht deutlich wird für mich auch, nach welchen Unterscheidungen manche Arbeitsfelder als verwandte Kontexte unterschieden werden, d.h. wieso sie nicht der Sozialen Arbeit zuzuordnen sind (insbesondere die Suchtberatung und Suchttherapie). Weiterhin erschließt sich mir nicht, was bei der Beschreibung der systemischen Seelsorge typisch für die systemische Therapie ist. Diese von Julia Strecker beschriebenen Interventionen hätten meines Erachtens auch in einer gestalttherapeutischen Beratung erfolgen können. Bereits diese unterschiedlichen Bezeichnungen machen deutlich, dass die systemische Beratung und Therapie noch auf dem Wege ist, ihre Identität zu suchen. Erschwert wird diese Suche dadurch, dass jeweils Bezug auf unterschiedliche Funktionssysteme genommen wird, insbesondere auf das Gesundheitssystem und auf das Recht.
Im Buch fehlt mir eine offenere Erörterung der dahinterliegenden jeweiligen Interessen der Akteure, d.h., eine Erörterung, weswegen und aufgrund welcher beruflichen und theoretischen Interessen die jeweilige Unterschiedsbildung vorgenommen wird. Geht es zum Beispiel darum Arbeitsfelder weiterhin abzusichern, um einen Kampf um Aufmerksamkeit im gesamten Feld der psychosozialen Hilfen oder darum, noch mehr Arbeitsfelder ausschließlich als „systemisch“ abzusichern? Geht es darum sich für Auseinandersetzungen in den Fachverbänden zu positionieren? Nicht vergessen werden sollte jedoch, dass bei den Unterscheidungen, ob es sich um Heilkunde, Beratung, Sozialarbeit, Therapie, Psychotherapie oder Systemische Therapie handelt, es sich immer um Konstruktionen von Beobachtern handelt, die jeweils individuell auch anders getroffen werden können.
Eine Gefahr bei manchen der Betrachtungsweisen im Buch ist es, dass die Interessen der Klient*innen zweitrangig werden können, denn für diese steht im Mittelpunkt, dass sie die passende und nützliche Unterstützung erhalten, unabhängig davon, ob diese Unterstützung als Training, Coaching, Beratung, Psychotherapie oder Systemische Therapie bezeichnet wird.
Fazit
Dieses Buch kann allen systemischen Berater*innen und Therapeut*innen – Anfänger*innen und Fortgeschrittenen – empfohlen werden, die sich mit einer differenzierten Positionierung ihres Arbeitsauftrages jenseits der Psychotherapie beschäftigen wollen. Das Anliegen des Buches, die Systemische Therapie jenseits des Heilauftrages konkreter auszuleuchten (S. 16), wird erfüllt.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 06.11.2020 zu:
Tanja Kuhnert, Mathias Berg (Hrsg.): Systemische Therapie jenseits des Heilauftrags. Systemtherapeutische Perspektiven in der Sozialen Arbeit und verwandten Kontexten. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
ISBN 978-3-525-40848-3.
Verfasser eines Geleitwortes: Rainer Schwing.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26808.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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