Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Erich Fromm, Rainer Funk et al.: Wissenschaft vom Menschen

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 03.06.2020

Cover Erich Fromm, Rainer Funk et al.: Wissenschaft vom Menschen ISBN 978-3-8379-2958-4

Erich Fromm, Rainer Funk, Rainer Funk, Rainer Funk: Wissenschaft vom Menschen. Ein Lesebuch. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2020. 209 Seiten. ISBN 978-3-8379-2958-4. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Reihe: Erich Fromm psychosozial.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Autor

Erich Fromm, geboren im Jahr1900 in Frankfurt am Main als Sohn jüdischer Eltern, gestorben 1980 in Muralto, Tessin, war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker und Sozialpsychologe – sowie stets ein politischer Mensch. Seit Ende der 1920er Jahre, damals noch in Berlin lebend, vertrat er einen humanistischen, demokratischen Sozialismus. Seine zahlreichen Publikationen zur Psychoanalyse, zur Religionspsychologie und zur Gesellschaftskritik haben ihn als einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts etabliert, der weit über die jeweiligen Fachwelten hinaus bekannt und diskutiert wurde. Im deutschsprachigen Raum verbinden sich mit seinem Namen vor allem zwei Bücher: „Die Kunst des Liebens“aus dem Jahre 1956 sowie „Haben oder Sein“ von 1976. Beides sind kluge Sachbücher – aber eben bestenfalls „populärwissenschaftliche“ wie Kritiker aus der akademischen Welt geringschätzig anmerken.

Wer bei Lektüre dieses oder jenes Buchbeitrags eine ideen-, lebens- und zeitgeschichtliche Einordnung wünscht, kann auf eine vom Herausgeber besorgte und online verfügbare tabellarische Biographie zurückgreifen (http://fromm-online.org/). Wer noch mehr von Leben und Werk Erich Fromms wissen möchte, ohne dass man dazu eine umfangreiche und gelehrte Biographie wie die von Lawrence J. Friedman und Anke M. Schreiber (Göttingen: Hogrefe, 2013) lesen muss, sei verwiesen auf Rainer Funks flüssig geschriebene und mit viel Gewinn zu lesende Bildmonographie Erich Fromms, die schon drei Jahre nach dessen Tod im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschien – und heute antiquarisch für wenig Geld zu erwerben ist.

Herausgeber

Rainer Funk, Jg. 1943, studierte Philosophie sowie katholische Theologie und wurde dann, was damals auch noch für Nicht-Mediziner und Nicht-Psychologen möglich war, Psychoanalytiker. In den Jahren 1974 (da hatte Erich Fromm schon zwei Herzinfarkte) bis 1980 (vierter und tödlicher Herzinfarkt nach einem dritten1978), d.h. in den letzten Jahren Erich Fromms, in denen der im Tessiner Muralto, nahe bei Locarno (dort eine Mietwohnung ab 1969) am Nordufer des Lago Maggiore lebte, war er persönlicher Mitarbeiter von Erich Fromm. Über den verfertigte er die Schrift „Mut zum Menschen. Erich Fromms Denken und Werk, seine humanistische Religion und Ethik“ (Stuttgart: DVA, 1978), mit der er 1977 im Fachbereich Katholische Theologie der Universität Tübingen promoviert wurde. In den Jahren der Zusammenarbeit mit Erich Fromm erarbeitete er die (damals noch zehnbändige) „Erich Fromm Gesamtausgabe“ (Stuttgart: DVA, 1980). Erich Fromm setzte Rainer Funk als seinen Nachlassverwalter ein. Seitdem baut der aus dem Nachlass und der Bibliothek Erich Fromms in Tübingen das Erich-Fromm-Archiv auf; er ist Inhaber der Rechte an Erich Fromms Schriften und im Vorstand der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft tätig.

Zu seinem 70. Geburtstag wurde Rainer Funk mit einer „Festschrift“ geehrt. Sie steht unter der Überschrift „Humanismus in der Postmoderne“ (Johach & Bierhoff, 2013), und mit ihm soll Rainer Funks Wirken und Werk, das über editorische Leistungen längst hinausgewachsen ist, gewürdigt werden. Im Buch geht es zentral um die Frage, wie unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen ein zeitgemäßer Humanismus verstanden und gelebt werden kann und wie diese Bedingungen zu gestalten sind. Die einzelnen Beiträge suchen aus unterschiedlichen Perspektiven auf diese Frage eine Antwort. Unter den Autor(inn)en finden sich bekannte Namen, von denen nur drei genannt seien: Hans Jellouschek, manchmal als „Deutschlands Beziehungspapst“ bezeichnet, Helmut Johach („Plädoyer für die Therapeutische Gemeinschaft“. Gestalttherapie, 21[2]/2007, S. 44 – 61) und Hans-Joachim Maaz (Das gespaltene Land. München: Beck, 2020).

Entstehungsgeschichte

Rainer Funk hat schon fünf Jahre nach Erich Fromms Tod ein Buch vergleichbaren Charakters und ähnlicher Zielsetzung herausgegeben: „Erich Fromm Lesebuch“ (Stuttgart: DVA). Es ging damals und geht heute darum, Interessierten ein vollständigeres Bild von Erich Fromm machen zu können, als es die bloße Lektüre von „Die Kunst der Liebe“ und „Haben oder Sein“ erlaubt. Nur ist die Textauswahl eine andere; im vorliegenden Buch ist viel mehr Material aus dem damals noch unveröffentlichten Nachlass Erich Fromms eingeflossen. Soweit zum Inhalt.

Und nun zum Editorischen. Das vorliegende Buch erscheint 120 Jahre nach Erich Fromms Geburts- und 40 Jahre nach seinem Todesjahr, zu „runden“ Gedenkjahren also. Es erscheint nicht allein, sondern in der von Rainer Funke im Psychosozial-Verlag herausgegebenen Buchreihe „Erich Fromm psychosozial“ zusammen mit sieben weiteren Publikationen Frommscher Schriften. Darunter ist ein Buch wie „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung“ von 1930, erstmals veröffentlicht aber erst 1980; man sollte es einmal detailliert vergleichen mit dem Werk eines seines zeitweiligen Berliner Mitstreiters: Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ von 1933 (Reich/​Peglau, 2020; vgl. Heekerens 2020). In der Reihe findet sich auch „Das Menschenbild bei Marx“, 1963 in erster deutscher Übersetzung erschienen (Frankfurt am Main: Europäischen Verlagsanstalt), das wir „non-konformistischen Linken“ in Heidelberg ab 1969 lasen – zusammen mit den Marxens „Pariser Manuskripten“, die uns Reclam in Leipzig 1968 mit einer wohlfeilen Publikation zugänglich gemacht hatte.

Die Reihe enthält auch eine Sammlung einzelner Aufsätze unter dem Titel „Über den Ungehorsam und andere Essays“. Was Erich Fromm unter „Ungehorsam“ verstand, erfuhren wir nicht über seine einschlägige Abhandlung „Disobedience as a psychological and moral problem“ von 1963; die war für das deutsche Publikum erst Anfang der 1980er zugänglich. Aber wir erlebten es um 1970 herum als theoretische Rechtfertigung unseres praktizierten Ungehorsams, was er im Vorwort von „Summerhill“ (Neill, 1969) schrieb:

„Die offene Autorität wird unmittelbar und unverhüllt ausgeübt. Eine Autoritätsperson sagt ganz offen zu dem ihr Unterworfenen: ‚Du musst das tun. Wenn du es nicht tust, werden wir bestimmte Zwangsmaßnahmen anwenden.‘ Die anonyme Autorität … bemüht sich, den Zwang zu verheimlichen. Sie tut so, als sei sie gar nicht vorhanden, als geschähe alles mit Zustimmung des Individuums. Während der frühere Lehrer zu Johnny sagte: ‚Du musst das tun. Wenn du es nicht tust, bestrafe ich dich‘, sagt der Lehrer von heute: ‚Das möchtest du doch bestimmt gern tun.‘ Heute besteht die Strafe für Ungehorsam nicht mehr aus Prügeln, sondern darin, dass der Erzieher eine Leidensmiene aufsetzt oder – noch schlimmer – dem Kind das Gefühl gibt, nicht ‚angepasst‘ zu sein, sich nicht wie alle anderen zu verhalten. Wo die offene Autorität physischen Zwang anwendet, bedient sich die anonyme Autorität der psychischen Manipulation“ (zitiert nach http://www.kleine-spirituelle-seite.de).

Thema

Anlässlich des 120. Geburtstags und 40. Todestages von Erich Fromm im März 2020 hat Rainer Funk mit insgesamt 34 Texten eine konzentrierte und kompetente Einführung in Erich Fromms Denken zusammengestellt, die einen guten Überblick über die vielfältigen Aspekte seiner Vorstellung von einer „Wissenschaft vom Menschen“ gibt. Erich Fromm hat mit seiner Sozialpsychologie eine wichtige Grundlage für eine interdisziplinäre Wissenschaft vom Menschen geschaffen, die das Ganze des Menschseins nicht aus den Augen verliert. Die kenntnisreiche Einleitung und Auswahl der Texte macht mit dem weit gefächerten Werk des humanistischen Wissenschaftlers bekannt. Ein Lesebuch für alle, die mehr und weniger Bekanntes wissen wollen über das Werk des Autors von „Die Kunst des Liebens“ und „Haben oder Sein“.

Aufbau und Inhalt

Das Buch beginnt mit einer Einleitung des Herausgebers, in der er mit wenigen Strichen das jeweils Eigene der acht Buchkapitel zu skizzieren und mit wenigen Angaben eine lebensgeschichtliche Einordnung zu ermöglichen sucht.

Den Buchkern besteht aus insgesamt 34 (arabisch nummerierte) Auszüge aus Texten, die in dem halben Jahrhundert zwischen 1929 (noch in Berlin) und 1979 (in Muralto, ein Jahr vor seinem Tod) entstanden sind/publiziert wurden und die der Herausgeber acht (römisch nummerierten) Kapiteln zuordnet. Die Überschriften sowohl der Einzelauszüge als auch der Kapitel stammen vom Herausgeber; ob sie sinnvoll oder irreführend sind, bedürfte näherer Analyse. Es ergibt sich folgendes Bild von Aufbau und Inhalt, wobei man sich bei der Inhaltsangabe begnügen muss mit Überschriften der Einzelbeiträge sowie kurzen Kapitel-Zusammenfassungen. Bei den Einzelauszügen ist von mir angeben, wann sie entstanden sind bzw. erstmals publiziert wurden; so kann man sie in einem ersten Schritt leichter ideen-, lebens- und zeitgeschichtlich einordnen.

I. Psychoanalyse der Gesellschaft

  • Die Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie (1929)
  • Zur Methode der Analytischen Sozialpsychologie (1930)
  • Der sozial typische Charakter (1937)
  • Die Aufgabe des Gesellschafts-Charakters (1949)
  • Mein wissenschaftlicher Ansatz (1969)
  • Eine humanistische Wissenschaft vom Menschen (1957)

Das erste Kapitel bietet Texte, die die von Erich Fromm vorgenommene sozialpsychologische Verbindung von Psychoanalyse und Soziologie, die humanistischen Werten verpflichtet ist, illustriert. Erkennbar wird, dass sich Erich Fromms „Psychoanalyse“-Konzept vom klassischen, sprich Freud(iani)schen Trieb-Konzept zunehmend entfernt.

Damit ist der Verstehenshintergrund geschaffen für alle nachfolgenden Kapitel, von denen das zweite und dritte der Darstellung von Erich Fromms Menschenbild dienen.

Was das humanistische Menschenbild Erich Fromms ausmacht, illustrieren vier Texte des zweiten Kapitels:

  • Gibt es eine Natur des Menschen? (1968)
  • Die grundlegende Alternative des Menschen (1964)
  • Existenzielle Bedürfnisse und das Wohl-Sein des Menschen (1959)
  • Die angeborene Fähigkeit zur Biophilie (1964)

Im dritten Kapitel „Die Bedeutung der Charakterbildung“ werden die von Erich Fromm konzeptualisierten Sozialcharakter-Orientierungen in einschlägigen Texten dargestellt:

  • Der Charakter als Ersatz für den Instinkt (1976)
  • Der autoritäre Charakter (1957)
  • Der Marketing-Charakter (1951)
  • Der narzisstische Charakter (1974)
  • Der nekrophile Charakter (1964)

„Die folgenden Kapitel bauen auf Fromms Menschenbild auf und bringen sein Konzept des Sozialcharakters zur Anwendung“ kommentiert der Herausgeber auf S. 10. Und fährt dann fort: „im vierten Kapitel wird die Rolle des Unbewussten und Verdrängten thematisiert. Der sozial-psychoanalytische Ansatz führt bei Fromm auch zu einem anderen Verständnis des Unbewussten.“ (ebd.) Es sind insgesamt vier Texte in IV. „Das Unbewusste“:

  • Das Unbewusste nach Sigmund Freud (1979)
  • Verdrängung, Widerstand, Übertragung (1974)
  • Das gesellschaftliche Unbewusste (1960)
  • Das Unbewusste ist der ganze Mensch (1963)

„Der Ansatz beim Bindungsbedürfnis hat den Psychoanalytiker Fromm schon sehr früh dazu gebracht, die Tatsache zu reflektieren, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das sich selbst und sein Bezogensein auf die Wirklichkeit und andere zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann. Wie ein solches Selbst als Internalisierung von Bezogenheitserfahrungen entwicklungspsychologisch zustande kommt, hat Fromm 1941 in seinem Buch Furcht vor der Freiheit erstmals beschrieben und wird im fünften Kapitel mit Texten belegt“ (S. 10).

V. Das Selbst

  • Individuation und Wachstum des Selbst (1941)
  •  Freiheit von und Freiheit für (1941)
  • Selbstliebe und Selbstsucht (1939)

Die vier Texte von Kapitel VI. Seelische Gesundheit und Gesellschaft handeln von seelischer Gesundheit und Gesellschaft. Wen die Kombination verwundert: „Die eigene seelische Gesundheit ist nach Fromm immer auch gesellschaftlich bedingt“ (S. 11). Was das bedeutet, illustrieren die Texte:

  •  Gesellschaftlich ausgeprägte psychische Defekte (1955)
  •  Was ist seelische Gesundheit? (1955)
  • Visionen einer seelisch gesunden Gesellschaft (1953)
  • Die Alternative eines humanistischen Sozialismus (1960)

„Die Bedeutung, die der Sozialcharakter für das psychische Gelingen von Mensch und Gesellschaft hat, spiegelt sich auch in seinem Verständnis von Psychotherapie sowie in der Art der psychotherapeutischen Beziehung wider. Die Texte des siebten Kapitels handeln hiervon.“ (S. 12)

VII. Die psychotherapeutische Beziehung

  • Meine Revision der psychoanalytischen Therapie (1969)
  • Psychoanalyse der Konflikte mit irrationalen Kräften (1964)
  • Wirkungen der psychoanalytischen Therapie (1974)
  • Therapeutisches Bezogensein als „direkte Begegnung“ (1959)

Die Texte des abschließenden achten Kapitels handeln von Fromms Verständnis des Religionsphänomens. … Er selbst verstand sich nicht als Atheist, weil Atheisten noch immer mit der Abschaffung Gottes beschäftigt sind, und auch nicht als Agnostiker, weil man damit dem Religionsphänomen nicht gerecht wird. Fromm verstand sich vielmehr als Nicht-Theist: Im Nicht-Theismus (wie er in manchen mystischen Richtungen gelebt wird) ist das Freisein von jedem Wissen und jeder Vorstellung von Gott zwingende Voraussetzung für religiöse Erfahrung (S. 12–13).

VIII. Religion und Humanismus

  • Religion als Orientierungsrahmen (1976)
  • Autoritäre und humanistische Religion (1950)
  • Gotteserfahrung mit und ohne Gottesbegriff (1966)
  • Credo eines Humanisten (1965)

Am Ende des Buches finden sich detaillierte Quellen- und Copyrighthinweise.

Diskussion

Am Ende des Buches, als 34. Einzelbeitrag findet sich unter der Überschrift „Credo eines Humanisten“ ein Textstück, das Erich Fromm als Manuskript aus dem Jahr 1965 mit dem Titel „Some beliefs on man, in man, for man“ hinterlassen hatte, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Es beginnt mit den Worten: „Ich glaube, dass sich die Einheit des Menschen aus der Tatsache ergibt, dass der Mensch ein sich seiner selbst bewusstes Leben ist. Darin unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Der Mensch ist sich seiner selbst bewusst: seiner Zukunft (das heißt der Tatsache, dass er sterben muss), seiner Kleinheit und seiner Ohnmacht; er nimmt die anderen als andere wahr; er lebt in der Natur und ist ihren Gesetzen unterworfen, auch wenn er sie mit seinem Denken übersteigt.“ (S. 196) Das liest sich zu verschiedenen Zeiten selbst für ein und dieselbe Person unterschiedlich. Ich habe das Buch in der Karwoche gelesen und in der Osterwoche rezensiert. In den Zeiten von COVID-19 hat dieses „Erste Artikel“ des Frommschen „Credos“ eine besondere Eindrücklichkeit – zumindest für einen Nicht-Theisten.

Damit sind wir bei dem Punkt möglicher Erkenntnis bestimmender Perspektiven und verstehensrelevanter Vorkenntnisse, unter bzw. mit denen man (und frau) die vorliegenden Texte liest. Es gilt, sich dessen in beiden Punkten zu vergegenwärtigen, um die Texte nicht durch eine nicht-bewusst verzerrte Brille zu lesen. Meine eigenen Vor-Einstellungen zu Frommschen Texten ist, wie oben dargestellt, mindestens ein halbes Jahrhundert alt. Aber Erich Fromms veröffentlichtes Gedanken-Gut ist vielfältig und nicht ohne gewisse Anstrengung „unter einen Hut zu bringen“. Erst ein Jahrzehnt, nachdem ich seine Ausführungen zum frühen Marx und zum „Autoritären“ gelesen hatte, konnte ich, seit einigen Jahren an Sándor Ferenczi und Otto Rank interessiert (Heekerens, 2014a, 2014b, 2015, 2016), „Psychoanalyse – Wissenschaft oder Linientreue“ lesen. Der Text war bereits 1958 entstandenen, aber mir erst zugänglich durch die Gesamtausgabe von 1980 (dort: Bd. 8, S. 27–34), Dort kann man folgende Passage lesen:

„Die ‚Neufassung‘ der geschichtlichen Ereignisse durch Jones [1960-1962] führt in die Wissenschaft eine Methode ein, die wir bislang nur in der stalinistischen ‚Geschichtsschreibung‘ zu finden erwarteten. Die Stalinisten nannten Abtrünnige und Rebellen ‚Verräter‘ und ‚Spione‘ des Kapitalismus. Dr. Jones tut das gleiche in psychiatrischer Redeweise, indem er behauptet, dass Rank und Ferenczi, die beiden Männer, die Freud am engsten verbunden waren, aber später in einigen Punkten von ihm abwichen, seit vielen Jahren psychotisch gewesen seien. Er unterstellt, dass nur ihre Geisteskrankheit das Verbrechen ihres Abfalles von Freud erkläre, und im Falle Ferenczis, dass seine Klagen über die barsche und unduldsame Behandlung, die ihm von Seiten Freuds widerfuhr, ipso facto der Beweis der Psychose seien.“ (zitiert nach der heute als E-Book erhältlichen Ausgabe: https://ebook.medion.com)

In Heidelberg musste man noch Mitte der 1970er auf Jones’ Freud-Biographie schwören, um zur psychoanalytischen Ausbildung zugelassen zu werden.

Wie („Lesebuch“-)Texte gelesen und (möglicherweise) verstanden werden, hängt nicht nur vor Vorkenntnis und Erkenntnisinteresse ab, sondern auch von Wissen über den Enstehungskontext. Texte sind nur verständlich aus ihren Entstehungs- (und ggf. Tradierungs-)Kontext. Ich weiß: Für die üblichen „Buchstabengläubigen“ der „Buchreligionen“ (Judentum, Christentum und Islam) gilt das nicht; wer jedes Wort der Tora, der Bibel oder des Koran als unmittelbar von Gott gegeben hält, kann die „Kontext“-Frage nur für „gottlästerlich“ halten. Für alle anderen aber bleibt – und das nicht nur bei „Heiligen Texten“ – die Kontextfrage offen.

Manchmal scheint sie entbehrlich. So etwa bei Rainer Maria Rilkes Gedicht von 1906. Es beginnt mit den Worten: „Die Blätter fallen, fallen wie von weit, Als welkten in den Himmeln ferne Gärten; Sie fallen mit verneinender Gebärde“. Jeder Mitteleuropäer wird diese Worte sofort intuitiv verstehen: Es ist von „Herbst“ die Rede. Was aber ist mit all den Menschen, die weder unsere Jahreszeiten noch Laubbäume kennen? Es ist die Mehrzahl der Menschheit! Und sind wir nicht angesichts der Frommschen Texte mehrheitlich in der Position von Polynesiern bei der Lektüre von Rainer Maria Rilkes „Herbstgedicht“?

Diese Frage führt zur grundsätzlichen Anfrage an das hier zu besprechende Werk? Ist ein „Lesebuch“, das im Wesentlichen Texte ohne Kontextangaben bietet, wirklich etwas, das dem Erkenntnisgewinn dient? Je länger ich las, desto größer wurde mein Zweifel. Und umso mehr schob sich die Frage in den Vordergrund: Warum hat Rainer Funk nicht einen anderen Weg beschritten, um mögliche Leser(innen) an einen weniger bekannten Erich Fromm heranzuführen? Bei gleichem Seitenumfang hätte er doch ein Buch bewerkstelligen können, das weniger Texte bietet, für die aufgenommenen aber hinreichende Angaben zum jeweiligen ideen-, lebens- und zeitgeschichtlichen Kontext liefert. Wer, wenn nicht Rainer Funk hätte dies leisten können? Und wann bietet sich eine Chance für ein solches Unternehmen jemals wieder?

Fazit

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Diese Goethesche „Faust“-Formel hat auch im vorliegenden Falle sicher etwas für sich. Und wer die Texte gleichsam „querbeet“ liest, wird zu der Erkenntnis kommen, dass Erich Fromm ein Mann ist, der zusammen zu denken wagte, „was die Mode streng geteilt“ (Schiller). Die „Mode“ ist hier eine Metapher für die (berufs- und universitär-)disziplinäre Zersplitterung der „Wissenschaft vom Menschen“. So betrachtet, können Leser(innen) des vorliegenden „Lesebuchs“ viele Anregungen für eine „Zusammenschau“, die disziplinäre Grenzen (mitunter kühn) überschreitet, erfahren. Ob diese intellektuellen Anregungen aber zu so etwas wie reflektierter Erkenntnis werden, ist von verschiedenen Faktoren jenseits der „Lesebuch“-Lektüre abhängig; von solider Vorkenntnis etwa oder aber der gründlicher Nacharbeit an/in den Originaltexten.

Literatur

  • Heekerens, Hans-Peter (2014a). Rezension vom 20.03.2014 zu Sándor Ferenczi, 2013: Das klinische Tagebuch. Gießen: Psychosozial-Verlag. In: socialnet Rezensionen. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/16363.php.
  • Heekerens, Hans-Peter (2014b). Rezension vom 10.09.2014 zu E. James Lieberman, 2014: Otto Rank. Leben und Werk (2., unveränderte Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag. In: socialnet Rezensionen. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/16563.php.
  • Heekerens, Hans-Peter (2015). Rezension vom 26.08.2015 zu André Haynal, A. (2015). Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi, Balint. Gießen: Psychosozial-Verlag. In: socialnet Rezensionen. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/19358.php.
  • Heekerens, Hans-Peter (22016). Psychotherapie und Soziale Arbeit. Studien zu einer wechselvollen Beziehungsgeschichte. 2016. Coburg: ZKS-Verlag. Verfügbar unter: https://zks-verlag.de/wp-content/uploads/Hans-Peter-Heekerens-Psychotherapie-und-Soziale-Arbeit.pdf.
  • Heekerens, Hans-Peter (2020). Rezension vom 25.02.2020 zu: Wilhelm Reich, 2020: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau. Gießen: Psychosozial-Verlag. In: socialnet Rezensionen. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/26581.php.
  • Johach, Helmut und Burkhard Bierhoff (Hrsg.) (2013). Humanismus in der Postmoderne – Rainer Funk zum 70. Geburtstag. Pfungstadt: Erich Fromm-Archiv.
  • Jones, Ernest (1960-1962). Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bde. 1–3. Bern -Stuttgart: Huber.
  • Neill, Alexander S. (1969). Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
  • Reich, Wilhelm (2020). Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
Website
Mailformular

Es gibt 182 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245