Hartmut Rosa, Jörg Oberthür et al.: Gesellschaftstheorie
Rezensiert von Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf, 09.06.2020

Hartmut Rosa, Jörg Oberthür et al.: Gesellschaftstheorie.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2020.
269 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5244-1.
24,99 EUR.
CH: 32,50 sFr.
Reihe: UTB - 5244. Soziologie
Als E-Book: ISBN 978-3-8385-5244-6.
Thema
Der Band stellt die Zugangsweisen und Beiträge einer Gesellschaftstheorie dar, indem er grundlegende gesellschaftliche Probleme mit repräsentativen soziologischen TheoretikerInnen analysiert.
AutorInnen
Prof. Dr. Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und theoretische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt. Dr. Jörg Oberthür arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jenaer Institut.
Die weiteren AutorInnen sind Dr. Ulf Bohmann, Dr. Joris A. Gregor, Prof. Dr. Stephan Lorenz, Prof. Dr. Karin Scherschel, Dr. Peter Schulz, Janos Schwab, Dr. Sebastian Sevignani.
Entstehungshintergrund
Das Thema des Buches ist ein klassisches, grundlegendes Lehrgebiet der Soziologie, das regelmäßig in Bachelor- und Masterstudiengängen behandelt wird. Die Mehrheit der MitarbeiterInnen des vorliegenden Buches sind bzw. waren am Institut für Soziologie in Jena, sodass in gewisser Weise ein Einblick in die Arbeit der dortigen Studiengänge, insbesondere aber in die Diskussionszusammenhänge in der Soziologie gewährt wird.
Aufbau und Inhalt
Die Veröffentlichung beginnt mit einer Einleitung, die auf ca. 20 Seiten die grundsätzlichen Überlegungen für die Darstellung enthält.
Darauf folgen sechs Hauptteile:
- Naturverhältnisse und ökologische Krise
- Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis
- Geschlechtlichkeit
- Ethnizität und Rassismus
- Soziale Ungleichheit
- Demokratie und Gesellschaft
Ein Fazit von zehn Seiten, eine gemeinsame Literaturliste von ca. 24 Seiten und ein ausführlicher Index schließen das Buch ab.
Der laufende Text wird ergänzt durch mehrere grau umrandete Kästen, in denen z.B. unter „Begriff und Definition“ grundlegende Definitionen gegeben, Anwendungen als „Fallbeispiel“ aufgegriffen oder kleine Exkurse und weiterführende Hinweise unter „Hintergrund und Debatte“ eingefügt werden.
Die sechs Kapitel behandeln jeweils auf ca. 30 Seiten die Themen. Die Abfolge der sechs Themenkapitel wird damit begründet (S. 31–33), dass als Erstes die grundlegende Beziehung der Menschen zu den natürlichen Grundlagen und deren Gestaltung steht, danach folgt das Subjekt in der Gesellschaft. Als drittes großes Thema tritt die Geschlechterfrage auf, daran schließen sich Fragen der Ethnizität und des Rassismus an. Als letzte Themen werden Analysen zur Ungleichheit in der Gesellschaft und das Verständnis von Politik und Gesellschaft erörtert.
In der Einleitung werden weiterhin der Aufbau und die Herangehensweise in den Beiträgen erläutert. Soziologie sei u.a. dazu da, zu Zeitdiagnosen beizutragen, indem sie gesellschaftliche Grundkonflikte aufgreift und Krisen analysiert; deswegen findet sich in jedem thematischen Kapitel zu Beginn eine Situationsanalyse. Eine soziologische Analyse zielt allerdings nicht wie praktische Sozialpolitik oder Sozialpädagogik auf Maßnahmen oder Problemlösungen (S. 13 – 15), sondern macht stattdessen eher Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen sozialen Phänomenen deutlich und führt in Diskurse ein, d.h. in die Reaktionen und Selbst-Verständigungen der Gesellschaft über die Phänomene. Diese unterscheiden sich je nach der Zeit, in der sie entstanden sind, und dadurch, welche Wirkungen sie zwischen sozialen Faktoren erkennen. In jedem Beitrag werden deshalb exemplarisch wenigstens drei Denker vorgestellt, die für die Entwicklung der Gesellschaftstheorie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart stehen und deren frühe, entwickelte und späte Moderne (S. 17, 33) repräsentieren.
Als Ziel des gesamten Buches und der dargelegten Gesellschaftstheorie wird benannt, gesellschaftliche Formationen und ihre Entwicklungsperspektiven zu erkennen, und dies sowohl theoretisch gesättigt als auch empirisch gehaltvoll zu tun (S. 15f).
Diskussion
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um ein Lehrbuch zur Gesellschaftstheorie, das sich vor allem an Studierende der Soziologie und verwandter Gebiete wendet. Er führt verständlich in relevante Themenfelder und Fragestellungen der wissenschaftlichen Diskussion ein; er legt die theoretischen Voraussetzungen offen und zeigt Deutungsmöglichkeiten für heutige Problemlagen auf. Nicht nur die Einleitung und das Fazit sind lesenswert, auch die anderen Beiträge haben dieses Attribut verdient. Das Buch stellt somit eine inhaltlich kompakte Einführung in die Sozialtheorie und in eine Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisen dar.
Die Veröffentlichung ist verständlich geschrieben und lesefreundlich gedruckt. Die Tatsache, dass unterschiedliche AutorInnen am Werk beteiligt sind, bemerkt man beim Aufbau, bei der inhaltlichen Tiefe und beim Sprachstil jedoch kaum, was auf eine gute, intensive Überarbeitung schließen lässt.
Die Reihenfolge der thematischen sechs Kapitel, in der die Ungleichheit so spät kommt und die Natur am Beginn steht, ist etwas ungewöhnlich, aber reizvoll. Man kann es gesellschaftstheoretisch mit K. Marx begründen (S. 31), man kann darin aber gleichzeitig auch Anknüpfungspunkte für gesellschaftliche Problemlagen erkennen (S. 24), wenn z.B. mit dem ersten Kapitel („Naturverhältnisse und ökologische Krise“) Diskussionen um das Anthropozän oder Umweltrisiken angegangen werden.
Die ausgewählten exemplarischen Kronzeugen für die jeweiligen theoretischen Zugänge sind teils gut bekannt, teils eher unbekannt. Selbstverständlich hätte man durchaus auch andere wählen können, aber die vorliegende Auswahl ist ohne Frage anregend. Für diejenigen, die sich in den Themengebieten auskennen, umfasst die Auswahl evtl. zu wenige Personen, und sie wüssten spontan auch noch weitere Thesen, die man berücksichtigen könnte – aber das bleibt das Vorrecht und die Präferenz der vorliegenden AutorInnen.
Die kurzen Darstellungen, die in den grauen Kästen unter den Kategorien „Begriffen und Definitionen“ und „Hintergrund und Debatte“ eingefügt werden, stellen prägnante Verständnisweisen in dem jeweiligen Zusammenhang bereit. Sie regen gleichzeitig auch zur Weiterarbeit und Diskussion an, und das nicht nur, wenn einem manche Definitionen, Hintergründe oder Literaturverweise etwas kurz erscheinen
Abschließend seien noch zwei kleine Anmerkungen zu den AutorInnenangaben gestattet: Es verwundert, dass die unterschiedlichen Autorinnen und Autoren in dem Inhaltsverzeichnis (S. 7 – 10) nicht den Kapiteln zugeordnet sind; ihre Namen erscheinen erst, wenn man die einzelnen Kapitel direkt liest oder hinten im „Autor_innenverzeichnis“ (S. 257f) nachschlägt. Dieses Autor_innenverzeichnis verzichtet weiterhin darauf, die akademischen Titel der AutorInnen zu nennen. Alle AutorInnen werden lediglich mit ihren beruflichen Positionen und inhaltlichen Arbeitsgebieten aufgeführt. Dadurch erscheinen sie in der Veröffentlichung gleichberechtigter und stärker durch ihre inhaltlichen Positionen legitimiert. In dieser Rezension sind die Titel jedoch unter „AutorInnen“ hinzugefügt worden, um auf einen Blick deutlich zu machen, dass hier eine Gruppe unterschiedlicher AutorInnen am Werk ist.
Fazit
Ein gelungenes Lehrbuch, das grundlegende Zusammenhänge der Gesellschaftstheorie darstellt und erörtert.
Rezension von
Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf
Administrative und politische Grundlagen der Sozialen Arbeit
Fakultät I Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften
Universität Vechta
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