Timo Storck: Übertragung
Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 02.09.2020

Timo Storck: Übertragung.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2020.
185 Seiten.
ISBN 978-3-17-037571-0.
29,00 EUR.
Reihe: Grundelemente psychodynamischen Denkens.
Autor
Timo Storck ist Psychoanalytiker und Professor für Psychologie und Psychotherapie mit Schwerpunkt Tiefenpsychologie an der Psychologischen Hochschule Berlin. Als seine wissenschaftlichen Schwerpunkte nennt er Psychosomatik, Psychoanalytische Konzeptforschung und Methodologie. Im Verlag Kohlhammer sind im Rahmen der Reihe „Grundelemente psychodynamischen Denkens“ bisher folgende Titel erschienen: Das dynamische Unbewusste (2019), Objekt (2019), Sexualität und Konflikt (2018) und Trieb (2018). Das Buch „Übertragung“ geht auf öffentliche Vorlesungen zurück, die der Autor im Wintersemester 2018/2019 an der Psychologischen Hochschule Berlin gehalten hat.
Aufbau und Inhalt
Storck bearbeitet sein Thema in fünf Schwerpunkten:
- Das psychoanalytische Konzept der Übertragung: Grundlagen, Verbindungen und Variationen (16 ff.)
- Die Gegenübertragung des Psychoanalytikers (43 ff.)
- Übertragungsformen bei verschiedenen psychischen Störungen (76 ff.)
- Übertragung, Gegenübertragung und Veränderungsprozess in psychoanalytischen Behandlungen (99 ff.)
- Übertragung interdisziplinär (139 ff.)
In der „Einleitung“ (11 ff.) ordnet der Autor die Übertragungsthematik in den Kontext der vier bereits erschienenen Bände der Reihe ein und nimmt Loriots Film „Ödipussi“ als Hinweis auf die zentrale und gleichwohl alltägliche Erfahrung, „dass wir etwas aus unserer Beziehungsbiografie mit uns herumtragen und dass dadurch gefärbt wird, wie wir aktuelle Beziehungen erleben“ (15). Im abschließenden Kapitel „Zusammenfassung und Ausblick“ (167 ff.) resümiert er das Erarbeitete in 10 Thesen.
Im Kapitel „Grundlagen“ zeichnet Storck den Weg nach, den der Übertragungsbegriff bei Freud zwischen den „Studien über Hysterie“ (1895) über die „Traumdeutung“ (1900) bis hin zu den „Bruchstücke[n] einer Hysterie-Analyse“ (1905) genommen hat: zunächst sehr allgemein im Sinne eines „Mittel(s) der Bewusstwerdung“ (43), später enger gefasst, um die „Aktualisierung früherer Beziehungserfahrungen in der aktuellen, analytischen“ (43) zu kennzeichnen. Mit der unbewussten „Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes“ (27) erhält die Beziehung zwischen beiden eine spezielle Note. Sie wird zum eigentlichen Gegenstand der analytischen Arbeit. Storck diskutiert das Übertragungsphänomen im Hinblick auf die durch Freud eröffneten Zusammenhänge (35 ff.) von „Unbewusstem“, „Widerstand“, „Übertragungsneurose“, „Regression“ und „Durcharbeiten“, bevor er sich anhand eines Fallbeispiels insbesondere der Grenzziehung zwischen den am Übertragungsgeschehen Beteiligten zuwendet.
Die von Storck vorgenommene Erweiterung des Übertragungsbegriffs im Sinne von Melanie Kleins „Gesamtsituation“ (44) und von Wolfgang Mertens’ „Beziehungsfeld“ (43) lässt bereits ahnen, dass er auch die „Gegenübertragung“ komplexer auffasst, als das Freud möglich war, der in den vom Patienten im Analytiker ausgelösten Gedanken, Gefühlen, Phantasien und Wünschen bei aller Fruchtbarkeit für die Selbstanalyse eher ein Risiko für die Behandlung gewittert hatte. Der Autor behält zwar, wenn er vom „schmalen Grat zwischen professioneller Responsivität und Entgleisung“ (49) spricht, eine gewisse Skepsis bei, aber die (keineswegs synchronen) Vorarbeiten von Klein, Heimann, Racker, Joseph, Little und Money-Kyrle bieten ihm ausreichend Argumente dafür, die positiven Seiten der Gegenübertragung im Hinblick auf das Selbstverständnis des Analytikers und die Analyse der „Erlebnisformen der analytischen Beziehung“ (46) in den Vordergrund zu stellen. In sie gehen – nach Möglichkeit geklärte – Elemente der „Eigenübertragung“ (65 ff.) ein, die von vorausgegangenen Interaktionserfahrungen und -repräsentanzen gespeist werden. Die Sinnhaftigkeit eines so umfassenden Verständnisses von Gegenübertragung gerade für die unmittelbare Beziehungsarbeit demonstriert Storck an einem von Habibi-Kohlen dokumentierten Fallbeispiel (69 ff.).
„Erkennt man an, dass psychische Störungen mit einer bestimmten Weise zu tun haben, in der Affekte und Beziehungen erlebt werden, […] dann ist zu erwarten, dass sich Übertragungs-Gegenübertragungsdynamiken je nach Symptomatik voneinander unterscheiden“ (76). Die Angemessenheit dieser Annahme möchte Storck anhand von Melanie Kleins Konzept der „projektiven Identifizierung“ (ebd.) durchspielen. Er klärt dazu das damit verbundene, von Bion noch ausdifferenzierte Begriffsrepertoire („Projektion“, „Introjektion“, „Identifizierung“) und geht insbesondere den Abwehrfunktionen der Projektion nach, die sich darin äußern, dass „unliebsame Anteile nicht als dem Selbst, sondern Anderen zugehörig“ (77) erlebt werden. Welche Verwandlungen die Projektion jeweils bei neurotischen Störungen, Persönlichkeitsstörungen, psychotischen Störungen oder bei psychosomatischen Erkrankungen durchmacht und in welcher Weise die analytische Beziehung davon betroffen wird, zeichnet der Autor trennscharf nach. Auch hier sieht er seine Grundannahme bestätigt: „Für alle psychischen Störungen kann gesagt werden, dass sich Übertragungsphänomene als ’Beziehungsphänomene’ verstehen lassen sowie als Weg, das nichtverbalisierbare Erleben in Szene zu setzen […]“ (98).
Unter „Übertragung, Gegenübertragung und Veränderungsprozess in psychoanalytischen Behandlungen“ (99 ff.) zieht Storck in einem ersten Schritt Elemente der psychoanalytischen Beziehung heran, die das Übertragungsgeschehen gleichsam orchestrieren: den „’Rucksack’ an Beziehungsbiografie“ (100) auf beiden Seiten, die Mischung von Persönlichem und Professionellem in der Gegenübertragung und die von Racker als „therapeutische Ich-Spaltung“ (102) bezeichnete Trennung in ein „erlebendes irrationales“ und ein „beobachtendes rationales Ich“ (ebd.) auf Seiten des Analytikers, mit ihrem Gegenstück auf der Seite des Analysanden (vernünftiger versus neurotischer Teil). In einem zweiten Schritt unterscheidet er „Übertragung und Gegenübertragung in unterschiedlichen psychoanalytischen Richtungen“ (105 ff.), nämlich in der „Strukturalen Psychoanalyse“ Lacans (105 ff.), in der „Selbstpsychologie“ Kohuts (109 ff.) und in der „Relationalen Psychoanalyse“ Mitchells und Arons (111 ff.) – mit ihren voneinander abweichenden Einschätzungen hinsichtlich der Gegenübertragung, der Bedeutung der Selbstobjekte, der Rolle von Trieb- bzw. Bindungstheorie und der Bedingungen der Selbstoffenbarung des Analytikers. In einem dritten Schritt fragt Storck nach der Fruchtbarkeit reflektierter Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse für „Regressionsförderung“ (115 ff.), „Abstinenz“ (118 ff.), „Szenisches Verstehen“ (121 ff.), „Deutung“ (125 ff.) und „Durcharbeitung“ (129 ff.), wenn damit „Einsicht“ und „strukturelle Veränderung“ (131) erreicht werden sollen. Von Seiten der Forschung fehlen ihm in diesem Zusammenhang operationalisierbare Konzeptionen von Übertragungsdeutungen, „die empirisch zugänglich und konsensfähig“ (134) sind.
„Übertragung interdisziplinär“ (139 ff.) überschreibt Storck den abschließenden Diskursbereich. Er hebt noch einmal zwei Besonderheiten der Psychoanalyse im Hinblick auf die therapeutische Beziehung hervor: ihre an der Bearbeitung der Gegenübertragung abzulesende „kasuistische Reflexionskultur“ (143; nach Hamburger) und ihre „Arbeit in der Übertragung und […] an der Übertragung“ (144; nach Körner). Die Bindungstheorie bietet dort Anschlussmöglichkeiten, wo sie „Bindungsrepräsentationen“ (148) erforscht, das Konzept der „generalisierten Interaktionsrepräsentationen“ (149) dort, wo es über „die Internalisierung von Beziehungserfahrungen und deren Aktualisierung“ (150) aufklärt. In den ausgewählten therapeutischen Richtungen entdeckt Storck etwa in der Kognitiven Verhaltenstherapie psychoanalysenahe Überlegungen hinsichtlich des Übertragungsphänomens, aber erhebliche Unterschiede in der „Behandlungstechnik“ (158). Die Systemische Therapie sei generell weniger biografiebezogen, und wo von „Selbstanteile(n)“ (159) des Therapeuten die Rede sei, gehe es nicht um seine Erschütterbarkeit, sondern um Verantwortlichkeit und Entschlussfähigkeit. Die Gesprächspsychotherapie wiederum fordere vom Therapeuten Authentizität und eine voraussetzungslose wertschätzende Haltung, frage aber nicht nach seinen „(noch) nicht erkannten Aspekten des Erlebens“ (160). Die Psychoanalyse dagegen setze auf die „Ungesteuertheit der emotionalen Kommunikation“ (162) mit dem Risiko der „Destabilisierung“ (ebd.) auf der Seite des Analytikers. – Mögliche Konvergenzen im Hinblick auf die Erscheinungsformen des Übertragungsgeschehens und Unterschiede in der therapeutischen Praxis demonstriert der Autor am Beispiel eines Jungen, der zunächst eine analytische Einzelanalyse und anschließend ein verhaltenstherapeutisches Gruppensetting durchläuft.
Diskussion
Timo Storck ist es gelungen, dem Übertragungsbegriff in wenigen überschaubaren Abschnitten in historischer, systematischer und interdisziplinärer Hinsicht Kontur zu verleihen. Dabei macht er zum einen deutlich, zu welch einem theoretischen Reichtum Sigmund Freuds frühe Beobachtungen an der Beziehungsdynamik zwischen ihm und „seinen Hysterikerinnen“ inzwischen geführt haben und welche Konsequenzen die Differenzierungen für die analytische Praxis hatten, zum andern, wie richtig und folgenreich es war, Freuds Skepsis gegenüber der Gegenübertragung zwar im Auge zu behalten, das Phänomen aber als Quelle für die Selbst- und Übertragungsanalyse zu nützen. Die eingefügten Fallbeispiele helfen, die theoretischen Zusammenhänge und ihre praktische Relevanz zu veranschaulichen. Das hier vorgestellte theoretische Wissen beruht einerseits auf einer umfangreichen Recherche zum Forschungsstand, andererseits auf langjährigen eigenen Vorarbeiten, die auch in die weiteren Bände der Reihe zu den Themen „Abwehr und Widerstand“, „Ich und Selbst“ und „Deutung“ eingehen sollen.
Der Vergleich des psychoanalytischen Verständnisses von Übertragung mit den Konzepten anderer therapeutischer Richtungen von Beziehung und Beziehungsreflexion wirft für mich die (von Storck nicht gestellte) Frage auf, wie sich die Nachbearbeitungen therapeutischer Prozesse in Kontroll- bzw. Fallanalysen und Supervisionen jeweils unterscheiden und wie Korrekturen eingeleitet werden: Über Einsichten? Über das Training in Behandlungstechniken? Über Arbeiten auf und an der emotionalen Ebene? Eine zweite, darüber hinausgehende Frage speziell an Analytikerinnen und Analytiker (die der Autor gleichfalls nicht stellt): Wie hältst du’s in diesem Gemenge von Übertragung und Gegenübertragung mit der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“? Wird sie nicht durch Gegenübertragungsimpulse ständig irritiert? Wo ist ihr systematischer Ort im Übertragungsgeschehen? Und: Wie ist sie unter dem Diktat zeitlicher Begrenzungen überhaupt durchgängig aufrecht zu erhalten? An einer einzigen Stelle verweist Storck auf mögliche „Forschungsperspektiven zur Übertragungsdeutung“ (134). Warum er dabei, ohne zu spezifizieren, auf „Operationalisierung“ setzt, hat sich mir nicht erschlossen. Das näherliegende Forschungsproblem für jemanden, der die Geschlechterfrage so ernst nimmt, dass er in seinem Text ständig die grammatikalischen Geschlechter wechselt, müsste doch darin bestehen, herauszufinden, wie sich Übertragung und Gegenübertragung als geschlechtsspezifische Prozesse und Dynamiken entschlüsseln lassen.
Das führt mich zum Formalen: Trotz des erklärenden Hinweises, was den Gebrauch der grammatikalischen Geschlechter angeht (13, Anm. 1), halte ich die vom Autor gewählte Lösung, sie in einem fort zu wechseln, nicht für angemessen. Wenn Storck sich schon nicht dazu bekennen wollte, dass – außer es geht um konkrete Personen – Männer das männliche und Frauen das weibliche grammatikalische Geschlecht verwenden, hätte er (nach entsprechender Vorankündigung) zumindest kapitelweise bei einem Geschlecht bleiben können. Gestört hat mich ferner an Storcks Textproduktion eine Anhäufung von Flüchtigkeiten, die spätestens dem Lektorat nicht hätten entgehen dürfen. Beispiele: „Unbewusste Aspekte der Biografie, der Beziehungen und dem aktuellen Selbsterleben, wird er aber nicht anders als szenisch-beziehungshaft einbringen können“ (58). Oder: „Wenn […] Frau C. vom Traum mit dem Lieblingshandtuch berichtet, der zum Putzlappen wird, […]“ (73). Oder: „Die psychoanalytische Auffassung der Übertragung steht […] im Zusammenhang mit anderen Konzepten, insbesondere dynamisch Unbewusstes, Objekte, Regression sowie dem Kontext der Konflikttheorie“ (151).
Fazit
Timo Storck hat eine theoretisch anspruchsvolle Abhandlung vorgelegt, die ihrem Thema gerecht wird, Kooperationen mit anderen therapeutischen Richtungen anregt, Forschungsfragen provoziert und zur Praxisreflexion anregt. In formaler Hinsicht lässt sie einige Wünsche offen.
Rezension von
Helmwart Hierdeis
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