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Thomas Barth, Anna Henkel (Hrsg.): 10 Minuten Soziologie

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 23.06.2020

Cover Thomas Barth, Anna Henkel (Hrsg.): 10 Minuten Soziologie ISBN 978-3-8376-4968-0

Thomas Barth, Anna Henkel (Hrsg.): 10 Minuten Soziologie. Nachhaltigkeit. transcript (Bielefeld) 2020. 188 Seiten. ISBN 978-3-8376-4968-0. D: 17,99 EUR, A: 17,99 EUR, CH: 22,90 sFr.
Reihe: 10 Minuten Soziologie - 4.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

In unserem Wirtschaftssystem ist ein Umbau des Systems auf weniger Wachstum, weniger Ressourcenverbrauch, weniger Mobilität nicht wirklich ernsthaft vorgesehen. Er beißt sich mit dem bestehenden System. In den Debatten um Nachhaltigkeit geht es also eigentlich um die Frage, ob das System im Hinblick auf die zukünftigen Herausforderungen noch das Richtige ist bzw. ob ein systemimmanenter Wandel in Richtung Nachhaltigkeit tatsächlich möglich ist. Eine diesbezügliche Konfrontation würde keinen Kampf gegen Personen (wie in den 68'er Jahren) implizieren, sondern bedeutet eine Auseinandersetzung mit einem System und seinen Wirkmechanismen. Damit verbunden ist die Frage, wie sich „die“ Soziologie gegenüber dieser Auseinandersetzung positioniert. Ergreift sie Partei, mischt sie sich ein oder bleibt sie in einer neutralen, reflektierenden Beobachterposition?

Herausgeber*in

Thomas Barth (Dr. phil.), geb. 1981, ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie der LMU München. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen gesellschaftliche Naturverhältnisse, politische Soziologie sowie Arbeit und Nachhaltigkeit.

Anna Henkel (Dr. phil.), geb. 1977, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit Schwerpunkt Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der soziologischen Theorie sowie der Wissens-, Materialitäts- und Nachhaltigkeitsforschung.

Entstehungshintergrund

Die Beiträge der Reihe „10 Minuten Soziologie“ werden von Anna Henkel herausgegeben. Sie thematisieren einen „Gegenstand“ aus unterschiedlichen Perspektiven, d.h. zeichnen sich durch eine Vielfalt theoretischer Ansätze, empirischer Gegenstände und konzeptioneller Zielsetzungen aus.

Der Reihe „10 Minuten Soziologie“ liegt eine enge Verknüpfung zwischen universitärer Lehre und wissenschaftlicher Veröffentlichung zugrunde. An der Leuphana-Universität Lüneburg wurde diese Reihe ursprünglich in der Philosophie entwickelt und später von anderen Wissenschaftszweigen übernommen. An verschiedenen Wochentagen jeweils zwischen 12 Uhr und 12.10 Uhr finden Vorlesungen statt, z.B. im Bereich der Soziologie. Spezifikum dabei ist, dass es in jeweils einem Semester ein Oberthema gibt. Im Wintersemester 2018/2019 lautete dieses Thema „Nachhaltigkeit“. In den Vorträgen zu verschiedenen Facetten der Nachhaltigkeit wurden jeweils ein „Fall“ und eine theoretische Perspektive aufeinander bezogen. Dies ist ein zentrales Charakteristikum der Reihe „10 Minuten Soziologie“: Ein theoretisches Konzept wird auf einen empirischen Gegenstand bezogen, um diesen damit neu verstehen und erklären zu können. Inzwischen können auf youtube verschiedene 10-minütige Vorlesungen betratchtet werden, die eine interessante Ergänzung zu den schriftlichen Ausarbeitungen in den jeweiligen Bänden darstellen.

Aufbau

Aufgeteilt ist das Buch in eine Einleitung (S. 7–17), vier Artikel zum Oberthema „Nachhaltigkeit als umkämpftes gesellschaftliches Feld“, sechs Artikel zum Thema „Handlungsfelder der Nachhaltigkeit“ und zwei Artikel zum Themenbereich „Theoriekritik“. Der Band schließt ab mit einer kurzen Vorstellung der insges. 15 Autor*innen.

Inhalt

In der Einleitung gehen Thomas Barth und Anna Henkel auf die Vielschichtigkeit und Omnipräsenz des Begriffes „Nachhaltigkeit“ ein. Sie sehen die Aufgabe der Soziologie darin, eine reflexive Perspektive auf den Nachhaltigkeitsdiskurs und auf die mit ihm verbundenen Praktiken des „doing sustainability“ einzunehmen (S. 8). In der Folge werden die einzelnen Beiträge des Bandes zusammenfassend vorgestellt.

Im ersten Artikel stellt Anna Henkel die genealogische Perspektive (Nietzsche, Foucault) vor. Diese fragt nach der Entstehung von Deutungen aus dem Zusammenspiel von Wissen und Macht (S. 20). Henkel zeigt, dass die verschiedenen Deutungen von Nachhaltigkeit auf bestimmte Wissensformen zurückgreifen und Verantwortung für Nachhaltigkeit dementsprechend unterschiedlich zuordnen: So werde Nachhaltigkeit in der Umweltpolitik als ökologische Modernisierung verstanden, deren Ziel darin bestehe, moderne Industriestrukturen im Wesentlichen beizubehalten und dabei ein sog. „qualitatives Wirtschaftswachstum“ zu erreichen (S. 25). In Konzepten hingegen, die Nachhaltigkeit als Postwachstum definieren, sei Nachhaltigkeit im Wesentlichen mit einer ausgebreiteten Kritik am Wirtschaftswachstum verbunden (S. 27). Aus der Perspektive der Genealogie wird so der Machtaspekt deutlich, der „in der Bestimmung von Nachhaltigkeit und damit in der Bestimmung von Verantwortung für Nachhaltigkeit liegt“ (S. 28).

Sascha Dickel legt in seinem Beitrag den Fokus auf eine zeitsoziologische Perspektive, die auf der neueren soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmann's basiert. Seine These ist, „dass Nachhaltigkeit als Bestrebung interpretiert werden kann, die moderne Zeitordnung einer offenen Zukunft für die Gesellschaft zu bewahren“ (S. 33f; S. 44).

Björn Wendt nutzt die „chaotisch-unordentliche“ Komplexität der Wissenssoziologie Karl Mannheims', um das „ebenfalls chaotisch-komplexe Feld der Nachhaltigkeit zu systematisieren“ (S. 47). Seine an zentrale Begriffe Mannheim's angelehnte Frage lautet: „Ist Nachhaltigkeit … eher als Ideologie oder Utopie zu begreifen?“ (S. 52).

Frank Adloff und Sighard Neckel stellen das DFG-Kolleg „Zukünfte der Nachhaltigkeit“ an der Universität Hamburg vor, welches 2019 seine Arbeit aufgenommen hat und beschreiben drei idealtypische Zukunftsvorstellungen von einer nachhaltigen Gesellschaft: das Programm einer ökologischen Modernisierung, in dem Ökonomie und Ökologie vereint werden; das Programm einer „großen Transformation“ hin zu nicht-wachstumsbasierten, egalitären Sozialordnungen und einem radikal veränderten Naturbegriff und das Programm des dystopischen Szenarios eines ökologischen Notstands, der von autoritären Kräften für eine Suspension demokratischer Institutionen genutzt wird.

Benjamin Görgen geht in seinem Artikel von der Notwendigkeit einer „großen Transformation“ aller Lebensbereiche aus. Er fragt, durch welche Strategien sich unser alltägliches Tun in Richtung Nachhaltigkeit beeinflussen lässt? Der Fokus, so Görgen, habe sich zunächst vom Umweltbewusstsein der Individuen auf eine Veränderung ihres Umweltverhaltens verlagert. Dabei war der Fokus auf den Einstellungen individueller Akteur*innen sowie die Vernachlässigung der situativen, strukturellen und sozialen Einbettung immer wieder Gegenstand von Kritik (S. 74). Als Alternative zu dieser Betrachtungsweise stellt Görgen die praxistheoretische Perspektive vor, deren Potenziale er anhand der „alltäglichen und nachhaltigen Mobilitätspraktik des Fahrradfahrens“ (S. 75) verdeutlicht.

Thomas Barth thematisiert eine andere Art der Mobilität, die Automobilität. Im Zentrum seines kapitalismustheoretischen Artikels steht die Frage, worum es eigentlich geht, wenn über die Zukunft des Autofahrens und über die von Automobilherstellern wie BMW debattiert wird.

Nikolaus Buschmann und Jedrzej Sulmowski stellen die praxistheoretische Perspektive des „doing Verantwortung“ vor und illustrieren diese am Beispiel nachhaltigen Konsums.

Fabian Huber und Jens Köhrsen fragen nach der Bedeutung ökologischer Themen in Theologie und Religionswissenschaft. Auf Basis einer empirischen Erhebung kommen sie zu den Resultaten, dass 1. lokale religiöse Gemeinschaften das Engagement ihrer Dachverbände nur in geringem Maße übernehmen und 2. das erhöhte Engagement beim „Greening“ mit der Ressourcenausstattung der jeweiligen Gemeinschaft und den gesellschaftlichen Erwartungen an diese zusammenhängt (S. 122).

Angela Pohlmann betrachtet Ansätze sozialer Praktiken am Beispiel der Nachhaltigkeit akademischen Lernens und Lehrens. Zusammenfassend konstatiert sie: „Vergleichbar den Praktiken universitären Lehrens und Lernens wird deutlich, dass auch wenn Individuen sich der klimaschädlichen Auswirkungen ihres Handelns bewusst sind, dieses Ziel in Einklang mit anderen Interessen und Notwendigkeiten gebracht werden muss“ (S. 136). Für Polmann ist dies ein Grund dafür, dass sich soziale Praktiken nicht so einfach transformieren lassen.

Stefan Böschen definiert Nachhaltigkeit als „eine Form zukunftssichernden gesellschaftlichen Problemlösens“ (S. 139). Er geht von in der Geschichte „auffallend gleichbleibende(n) Lösungsstrategien“ (ebd.) aus und rekonstruiert diese unter der Perspektive problemorientierter Forschung.

Marc C. Hübscher geht – vor dem Hintergrund einer angenommenen Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Verhalten – der Frage nach, „wie eine vernünftige Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung als Zukunftskunst gelingen kann“ (S. 159). Er stellt das „Nudging“ als Mittel einer „Zukunftskunst“ und als gutgemeinte Manipulation vor, mit dessen Hilfe ansonsten notwendige Verbote umgangen werden können.

Katharina Block fragt mit Rückgriff auf die relationale Phänomenologie Helmuth Plessners, „ob anthropologische Gründe für die Unverfügbarkeit nachhaltigen Handelns plausibel gemacht werden können“ (S. 167f).

Diskussion

Wer von diesem oder einem anderen Band aus der Reihe „10 Minuten Soziologie“ eine systematische Zusammenfassung verschiedener Ansätze erwartet, wird enttäuscht. Dies ist nicht die Zielsetzung der Reihe. Vielmehr sollen die 10-Minuten-Bände einen Einblick in die Vielfalt der verschiedenen theoretischen Perspektiven geben, die – gerade beim Thema Nachhaltigkeit – helfen, das Phänomen in seiner Komplexität zu verstehen. Dabei überzeugt der Ansatz der 10-Minuten Reihe, jeweils ein theoretisches Konzept und einen empirischen Sachverhalt aufeinander zu beziehen. Eine weitere Herausforderung an die Autor*innen liegt in der geforderten Kürze der Beiträge. Jeder einzelne Satz muss genau überlegt und Überflüssiges rigoros gestrichen werden. Auf diese Weise konnten die Herausgeberin und der Herausgeber – in dem hier besprochenen Band zum Thema „Nachhaltigkeit“ – spannende Einblicke in die gegenwärtigen Diskussionen rund um das Thema zusammenstellen.

Fazit

Das Thema Nachhaltigkeit wird in dem vorliegenden Band aus einer Vielzahl soziologischer Perspektiven kurz und knapp „angeknabbert“. Dies ist nicht negativ gemeint, sondern soll bedeuten, dass es den Herausgeber*innen nicht darauf ankommt, eine systematische Übersicht über das Thema zu geben, sondern Einblicke. Vermittelt werden theoretische Perspektiven, die jeweils auf einen empirischen Sachverhalt bezogen werden. Dieses Konzept ist überzeugend, denn es verdeutlicht auf anschauliche Weise die Vielfalt soziologischer Herangehensweisen und die Reichweite soziologischer Erklärungen für gegenwärtige Probleme.

Zurück zu der anfangs angeschnittenen Frage, wie sich „die“ Soziologie positioniert. Ergreift sie Partei, mischt sie sich ein oder bleibt sie in einer neutralen, reflektierenden Beobachterposition? Die Herausgeber haben sich eindeutig auf die letztgenannte Position festgelegt. Für all' diejenigen, die sich beim Kauf des Buches ein vehementes Streiten für die Verwirklichung von Nachhaltigkeitszielen und für eine Veränderung der Gesellschaft erwarten, wäre das Buch demzufolge eine Enttäuschung. Für Studierende der Soziologie und verwandter Wissenschaften und für alle anderen soziologisch Interessierten ist der Band „10 Minuten Soziologie. Nachhaltigkeit“ hingegen eine eindeutige Kaufempfehlung.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Es gibt 58 Rezensionen von Joachim Thönnessen.

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ISSN 2190-9245