Adrian Meule: Diagnostik von Essverhalten
Rezensiert von Prof. Dr. Eva Wunderer, 12.05.2020

Adrian Meule: Diagnostik von Essverhalten.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2020.
137 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2991-2.
22,95 EUR.
CH: 29,90 sFr.
Reihe: Kompendien Psychologische Diagnostik - 18.
Thema
Das Buch stellt Erfassungsmöglichkeiten zur Beschreibung des Essverhaltens vor. Dabei geht es nicht um die konsumierten Makro- und Mikronährstoffe, sondern um psychologische Aspekte des Essverhaltens. Der Fokus liegt auf Selbstbeurteilungsinstrumenten, einbezogen sind unterschiedlichste Verhaltensweisen, nicht nur solche, die explizit für spezifische Essstörungen kennzeichnend sind.
Autor
Dr. Adrian Meule beschäftigt sich eigenen Angaben zufolge seit ca. 10 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Essverhalten. Er arbeitet seit 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee mit den Forschungsschwerpunkten Essverhalten, Essstörungen und Adipositas.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt mit einer kurzen Einführung zu geschichtlichen Hintergründen von Essstörungen und Adipositas und einem Ausblick auf die folgenden Kapitel.
Im zweiten Kapitel werden die wesentlichen Essstörungen, Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung anhand der Kriterien in den Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 kurz vorgestellt. Auch weitere Essstörungen, wie Pica, Ruminationsstörung oder die Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme („ARFID“) finden Erwähnung. Das abschließende Unterkapitel ist der Adipositas gewidmet und berichtet neben diagnostischen Kriterien auch wesentliche Korrelate und Bedingungsfaktoren.
Es schließt sich ein Überblick zur Erfassung von Essverhalten je nach Setting (Labor vs. Alltag) an, wobei die künstliche Esssituation im Labor kritisch diskutiert wird. In der Alltagssituation sind Selbstberichtsmethoden am weitesten verbreitet, auf die das Buch folglich auch seinen Fokus legt.
Die Selbstbeurteilungsverfahren lassen sich je nach den zu erfassenden spezifischen Aspekten des Essverhaltens unterteilen. So werden Verfahren zur Erfassung von
- gezügeltem und emotionalem Essverhalten,
- Craving und suchtartigem Essverhalten,
- orthorektischem Essverhalten,
- intuitivem Essverhalten sowie
- Essstörungen vorgestellt.
- Das sechste Unterkapitel widmet sich speziellen Verfahren für das Kindes- und Jugendalter.
Bei allen Verfahren wird ein Überblick über den Entwicklungsprozess, den Aufbau und Inhalt des Instruments, Cut-off-Werte und teststatistische Aspekte (Faktorstruktur, interne Reliabilität, Retest-Reliabilität, Validität) gegeben sowie das Instrument kurz zusammenfassend diskutiert.
Kapitel 5 beschreibt überblicksartig wesentliche Interviewverfahren (SCID-5, DIPS, EDE, SIAB-EX).
In Kapitel 6 werden weitere essverhaltensrelevante Konzepte vorgestellt:
- Grazing („Abgrasen“), als wiederholtes ungeplantes Essen kleiner Nahrungsmengen,
- Neophobie und Ekel,
- Verfahren zur Erfassung von Essensmotiven,
- des Körperbildes sowie
- gewichtsbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung.
Das Buch schließt in Kapitel 7 mit drei Fallbeispielen von Betroffenen mit Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und nicht näher bezeichneter Essstörung mit Adipositas.
Diskussion
Der 18. Band der Kompendien Psychologische Diagnostik wird der selbstgesetzten Zielsetzung, nämlich einer Darstellung von Erfassungsmöglichkeiten zur Beschreibung des Essverhaltens mit Fokus auf psychologische Aspekte, gerecht. Der Autor weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass essgestörtes Verhalten in zahlreichen Varianten auftritt, und es ein Kontinuum von gesundem hin zu gestörtem Essverhalten gibt.
Das Buch ist übersichtlich gegliedert, Textmarken am Rand strukturieren den Text zusätzlich und heben wesentliche Punkte gut hervor.
Positiv zu bemerken ist, dass in die Beschreibung der Essstörungen bereits die neue Diagnostik nach ICD-11 einfließt, die in Deutschland erst in den nächsten Jahren eingeführt werden wird. Die einführenden Hintergrundinformationen zu Essstörungen und Adipositas sind kurz gehalten und ausreichend für den Zweck des Buches.
Die Instrumente sind umfassend und knapp, aber gut zusammenfassend dargestellt. Positiv hervorzuheben ist das Unterkapitel zu speziellen Selbstbeurteilungsverfahren für das Kindes- und Jugendalter, da die Unterscheidung je nach Altersgruppe in der Diagnostik oft vernachlässigt wird. Schön sind die zusammenfassenden Empfehlungen zum Abschluss jedes Unterkapitels, die das Buch zu einer wertvollen Unterstützung bei der begründeten Auswahl eines Verfahrens für die Forschung oder Praxis machen.
Aus Sicht der Praxis wären deutlichere Hinweise, wo die Instrumente genau zu finden sind und vor allem wie sie zu nutzen sind (Copyright-Bedingungen, Kosten, freie Verwendung erlaubt?) sehr hilfreich gewesen. Die Items einiger Fragebögen sind direkt im Buch abgedruckt, vermutlich war dies bei anderen aufgrund fehlender Genehmigung durch Autor_innen oder Verlage nicht möglich. Aus praktischer Sicht ideal wäre eine Abdruckvorlage, die eine direkte Verwendung der genehmigungsfreien Fragebögen möglich macht.
Fazit
Das Buch berücksichtigt die gängigen und relevanten Verfahren und unterschiedlichste Aspekte des Essverhaltens aus psychologischer Sicht. Verfahren zur exakten Messung der konsumierten Marko- und Mikronährstoffe sind explizit nicht Inhalt des Buches. Es ist übersichtlich und gut strukturiert. Die zusammenfassenden Empfehlungen sind bei der Auswahl geeigneter Verfahren in Forschung und Praxis hilfreich.
Insofern eignet sich das Buch für ernährungswissenschaftliche, medizinische, psychosoziale, pädagogische und psychologische Berufsgruppen, die eine gründliche instrumentengestützte Anamnese psychologischer Aspekte des Essverhaltens in ihrer Praxis durchführen wollen. Hilfreich für die Praxis wären weiterführende Hinweise auf rechtliche Aspekte der Nutzung der Verfahren gewesen.
Rezension von
Prof. Dr. Eva Wunderer
Diplom-Psychologin, Systemische Paar- und Familientherapeutin, Hochschule Landshut
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