Torsten Dietze, Dietlind Gloystein et al. (Hrsg.): Inklusion - Partizipation - Menschenrechte
Rezensiert von Prof. Dr. Felix Welti, 01.02.2021
Torsten Dietze, Dietlind Gloystein, Vera Moser, Anne Piezunka, Laura Röbenack et al. (Hrsg.): Inklusion - Partizipation - Menschenrechte. Transformationen in die Teilhabegesellschaft? Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2020. 297 Seiten. ISBN 978-3-7815-2362-3. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR.
Thema
Die Einleitung verspricht als Thema eine interdisziplinäre Zwischenbilanz zu zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Es soll danach gefragt werden, inwiefern sich Teilhabe und Partizipation für Menschen mit Behinderungen verändert haben und ob gesellschaftliche Transformationsprozesse zu Strukturveränderungen geführt haben. Diese sehr weite Fragestellung soll „auch interdisziplinär“ unter den Perspektiven der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, der Hochschuldidaktik, einer Theorie der Inklusion, des Rechts und seiner Umsetzung, teilhabeorientierter Biographieforschung, frühkindlicher Bildung, der Steuerung inklusiver Bildung, der Schule und von Unterricht untersucht werden. Die Aufzählung lässt einen starken Schwerpunkt auf der Betrachtung des Bildungssystems und dem Beitrag der Erziehungswissenschaft erkennen. In der Einleitung wird aber eingeräumt, dass neben dem Bildungssystem auch andere gesellschaftliche Teilsysteme für das Thema wichtig sein könnten, weswegen die Perspektive „sozialwissenschaftlich inspiriert“ sei.
Herausgeberinnen und Herausgeber
Die alphabetisch geordneten acht Herausgeber*innen stammen überwiegend aus dem Institut für Rehabilitationswissenschaften der HU Berlin. Für die 30 Beiträge des Buches werden 57 Autor*innen benannt.
Entstehungshintergrund
Das Buch dokumentiert ausgewählte Vorträge der 33. Inklusionsforscher*innentagung, die im Frühjahr 2019 in Berlin stattgefunden hat.
Aufbau
Die Reihenfolge der Beiträge folgt den in der Einleitung genannten „Perspektiven“ und damit weder einer gegenständlichen noch einer disziplinären Systematik. Grundsätzlichere Beiträge stehen eher am Anfang unter den Perspektiven „der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ und „einer Theorie der Inklusion“, auch wenn eigentlich alle Beiträge unter dieser Perspektive geschrieben sein sollten und zum Teil auch sind.
Inhalt
„Aus der Perspektive der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ berichten zunächst Valentin Aichele, Leiter der deutschen Monitoring-Stelle und Rechtswissenschaftler und Jonas Ruskus aus dem Ausschuss der Vereinten Nationen. Diese Beiträge gehen auch intensiv auf den in der UN-BRK angelegten Zusammenhang zwischen Partizipation und der Durchsetzung der Menschenrechte ein. Dies hätte gut ergänzt werden können um einen Beitrag aus den Verbänden von Menschen mit Behinderungen zu deren Partizipation, der jedoch in dem Buch nicht vorhanden ist.
„Aus der Perspektive der Hochschuldidaktik“ schreibt Simone Danz (Evangelische Hochschule Ludwigsburg). Hier werden Anforderungen an eine barrierefreie Hochschule angesprochen und die Ausbildung in Heilpädagogik an der Hochschule der Autorin beschrieben und gelobt. Die soziologische Kategorie des Ableismus wird „provokativ“ mit „Fähigkeitsfaschismus“ „übersetzt“ und als Beispiel das Fehlen von Braille-Schrift auf einer Tagung genannt. Die systematische Entrechtung und Ermordung von Menschen mit Behinderungen war ein Kennzeichen des historischen Faschismus. Das ist etwas grundsätzlich anderes als heutige Alltagsbarrieren. Vor diesem Hintergrund erscheint mir diese „Übersetzung“ als analytisch und didaktisch unangemessen.
„Aus der Perspektive einer Theorie der Inklusion“ versucht Thomas Hoffmann von der Universität Innsbruck, Inklusive Pädagogik als Pädagogik der Befreiung zu fassen. Der Beitrag kritisiert einen ideologisierten und zugleich banalisierten Inklusionsdiskurs, der auf eine Analyse von Machtverhältnissen verzichtet und statt einer Dekonstruktion eine Dethematisierung von Behinderung erreicht. Benedikt Hopmann thematisiert den Capabilities-Ansatz als Informationsbasis für Inklusion und kritisiert dabei, dass das Teilhabe- und Inklusionsverständnis in der Reformdebatte der Kinder- und Jugendhilfe bislang verengt und unbestimmt ist und zugleich Behinderung als soziale Kategorie unterlaufen wird. Der Capabilities-Ansatz von Nussbaum und Sen wird nicht ohne Grund als eine mögliche theoretische Basis von Inklusion („Pädagogik der Befähigung“) eingeführt, jedoch nicht ins Verhältnis zu anderen Theorien gesetzt, z.B. – was sprachlich naheläge – zur Konstruktion des „Ableism“. Ist es inklusiv, Fähigkeiten zu fördern, aber diskriminierend, sie zu fordern? Gabriele Weigt und Rebecca Daniel von Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V. und von UNDP setzen die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit den Zielen der Nachhaltigen Entwicklung (SDG) in Bezug zur Inklusion. Dies ist ein sehr instruktiver Beitrag, der bisherigen Engführungen der SDG-Diskussion in Deutschland entgegenwirken kann. Er ist aber thematisch eher als Erweiterung der Diskussion zur Umsetzung der UN-BRK zu lesen denn als Beitrag zu einer Theorie der Inklusion. Andreas Köpfer von der PH Freiburg untersucht im Lichte der Theorie der Artikulation von Stuart Hall den erziehungswissenschaftlichen Diskurs über Inklusion und stellt fest, dass der Begriff vieldeutig verwendet wird und dabei sowohl für Transformationsbestrebungen der Schule wie auch als systemerhaltendes und individualisiertes Konzept genutzt werden kann. Mishela Ivanovna (Universität Salzburg) befasst sich mit Pädagogik im Verhältnis zur Migrationsgesellschaft und zeigt die Widersprüchlichkeit von Ausländerpädagogik, interkultureller, antirassistischer und rassismuskritischer Pädagogik auf. Ein Vergleich zu den das Buch prägenden Ansätzen von Pädagogik im Verhältnis zu Behinderung wäre interessant, unterbleibt jedoch bzw. wird den Leserinnen und Lesern überlassen. Irina Bühler (Universität Zürich) und Erich Otto Graf (PH Karlsruhe) geben einen Erfahrungsbericht über die Teilnahme ihrer inklusiven Forschungsgruppe an der Jahrestagung. Sie meinen, aus diesen Mühen des Alltags ein besseres und vertieftes Verständnis der Behinderungssituation erreicht zu haben und konstruieren auf dieser Basis einen Widerspruch zwischen der von ihnen betonten Relevanz von „Selbstverständlichkeitsannahmen“ und der von ihnen bestrittenen Relevanz „der Sowieso-Konvention oder des xy-Gesetzes“. Inwieweit die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Normierung miteinander verschränkt sind, wird aber nicht theoretisch reflektiert. Dietlind Gloystein (HU Berlin) und Ulrike Barth stellen den Begriff der Diversität in den Vordergrund, wobei sie weniger auf theoretische Fragen als auf Forderungen zur Lehrkräfteausbildung abzielen.
Der nächste Abschnitt ist nun „aus der Perspektive des Rechts und seiner Umsetzung“ betitelt, wobei unklar ist, was dies von der Perspektive der UN-BRK unterscheidet, denn diese Rechtsnorm steht auch hier im Mittelpunkt. Arne Frankenstein (Universität Kassel) behandelt das Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensführung nach Art. 19 UN-BRK und Eva Nachtschatt (TU München) die rechtliche Anerkennung natürlicher Lebensführung nach Art. 12 UN-BRK. Julia Gasterstädt (Universität Frankfurt am Main) behandelt die diskursive Bezugnahme auf die UN-BRK im Kontext von Elternrechten und Kinderrechten. Ob sich aus den von ihr beobachteten Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten allerdings ergibt, dass der Bezug auf die UN-BRK der Entwicklung inklusiver Strukturen einen „Bärendienst“ leiste, oder ob dieser Wahrnehmung falsche Erwartungen an ein widerspruchsfreies Verhältnis von Inklusion, Partizipation und Menschenrechten zu Grunde liegen, wäre vertieft zu diskutieren.
„Aus der Perspektive teilhabeorientierter Biographieforschung“ interpretiert Anne Bödicker (Universität Marburg) Erfahrungen einer Jugendlichen mit Sehschädigung, zeigt Behinderungen in der Regelschule und plädiert für mehr Forschung, die die Sicht der Schüler*innen aufzeigt. Der Beitrag von Ulrike Schildmann (TU Dortmund) zeigt mit Daten des Mikrozensus, wie junge Menschen – behindert und nichtbehindert – ihren Lebensunterhalt bestreiten. Kristin Werschnitzke und Sven Jennessen (HU Berlin) befassen sich mit palliativer Versorgung und hospizlicher Begleitung von Menschen mit Behinderung. Marc Ruhlandt, Raphael Koßmann und Oliver Musenberg (Universität Hildesheim), Miklas Schulz (Universität Duisburg-Essen) und Kristina Schmidt (HU Berlin) tragen Impressionen zur Assistenz zusammen, deren Ambivalenz sie für erforschungsbedürftig halten. Nur der erste Beitrag dieses Abschnitts ist methodisch der Biographieforschung zuzuordnen.
„Aus der Perspektive frühkindlicher Bildung“ betrachten Simone Seitz (FU Bozen) und Catalina Hamacher (Universität Paderborn) die Praxis in Kindertagesstätten und Frühförderstellen im Verhältnis zu Kindern und Eltern. Isabell Krähnert (Universität Hildesheim) beobachtet ein Elterngespräch. Beide Beiträge kritisieren ein wenig partizipatives Verhältnis von Fachkräften zu Eltern und Kindern.
„Aus der Perspektive der Steuerung inklusiver Bildung“ untersuchen Julia Biermann und Lisa Pfahl (Universität Innsbruck) und Justin W. Powell (Universität Luxemburg) schulische Inklusion als Umsetzung des Rechts auf Bildung nach Art. 24 UN-BRK in Deutschland auf mehreren Ebenen. Sie konstatieren gut begründet eine „Sonderpädagogisierung der Inklusion“, die dem Erhalt eines sonderpädagogischen Fördersystems diene. Robert Kruschel (Universität Leipzig) untersucht die politische und personelle Konstellation der besonders fortschrittlichen Umsetzung der UN-BRK in Schleswig-Holstein 2008 und 2009 und ihrer Vorgeschichte seit 1988. Kerstin Merz-Atalik und Katja Beck (PH Ludwigsburg) vergleichen die Governance inklusiver Bildung in Südtirol und in Baden-Württemberg, zeigen die Diffusität von Theorie und Praxis in Baden-Württemberg und plädieren für internationale Kooperation.
„Aus der Perspektive der Schule“ wird zunächst von Martina Wäcken (Oberstufenkolleg Bielefeld) die Situation von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Erkrankungen als Herausforderung für die Inklusion dargestellt. Matthias Olk und Anna Moldenhauer (HU Berlin) sezieren den Jargon eines Schul-Werbeflyers. Annette Textor und Mai-Anh Boger (Universität Bielefeld) untersuchen die Entwicklung der Förderquote und der Förderschulquote und interpretieren sie nachvollziehbar im Lichte der Überforderung von Regelschulen und ihres Personals mit der Inklusion sowie der Koppelung von Finanzierung und Etikettierung. Sandra Grüter, Andrea Meyer und Birgit Lüthje-Klose (Universität Bielefeld) beobachten kritisch die vergleichsweise fortgeschrittene Inklusion in Bremen, Simone Seitz (FU Bozen), Katharina Hamisch, Michaela Kaiser, Nadine Slodczyk und Yannik Wilke (Universität Paderborn) diejenige in Nordrhein-Westfalen. Ellen Brodesser, Julia Frohn (HU Berlin) und Toni Simon (Universität Siegen) schreiben über inklusive Fachdidaktik und Tobias Buchner (Universität Halle), Martin Giese (HU Berlin) und Sebastian Ruin (Universität Marburg) über (nicht) inklusiven Sportunterricht.
Diskussion
Den in der Einleitung formulierten hohen Anspruch einer interdisziplinären Zwischenbilanz zu zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland kann das Buch nicht erfüllen. Die insgesamt sechs von dreißig Beiträgen, die sich nicht mit dem Bildungsbereich befassen, stehen etwas verloren da. Die große Mehrheit der Beiträge ist erziehungswissenschaftlich, 49 der 57 Autorinnen und Autoren sind aus diesem Kontext. Drei von dreißig Beiträgen stammen aus der Rechtswissenschaft. Von diesen stehen zwei außerhalb des Themenfelds Bildung. Es ist zu befürchten, dass diese beiden fachlich sehr guten Beiträge hier weder disziplinär noch gegenständlich ihr Publikum erreichen. Einige Beiträge sind mehr, andere weniger „sozialwissenschaftlich inspiriert“. Nicht wenige sind mit der UN-BRK nur lose verbunden und nehmen nicht oder nur am Rande Bezug auf die etwa in der Rechtswissenschaft oder den Disability Studies intensiv geführten Diskussionen zu ihrer Umsetzung und deren Bedingungen. Eine Aufarbeitung der Gesetzgebung und Rechtsprechung zur UN-BRK in ihrem Verhältnis zum deutschen Bildungsrecht enthält das Buch nicht.
Das Buch ist ersichtlich die Verschriftlichung von Tagungsbeiträgen, die durch einen „Call for Papers“ eingeworben worden sind. Diese Zusammenstellung nach Angebot führt zu großer Vielfalt und bietet vielen eine Publikationsmöglichkeit, die sie dringend benötigen (und auch verdienen). Sie birgt aber die Gefahr, dass der innere Zusammenhang der Beiträge nur lose ist. Leider beziehen sich die Beiträge nicht aufeinander. Auch fehlt es an integrativen und resümierenden Beiträgen, die die losen Enden der zwischen zwei Buchdeckel inkludierten Thesen und Forschungsergebnisse zu einem Ganzen fügen würden. Eine Buchhaltung vieler einzelner Posten ist noch keine Bilanz.
Das Buch bietet immerhin zahlreiche Mosaiksteine für eine Zwischenbilanz zu zehn Jahren Art. 24 UN-BRK (Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderungen). Für den nicht-erziehungswissenschaftlichen Rezensenten sind die Beiträge zur Theorie der Inklusion und zur Steuerung inklusiver Bildung besonders interessant. Diese passen gut unter den Titel „Inklusion – Partizipation – Menschenrechte“ und lassen einen größeren theoretischen Diskurs durchscheinen, der die Spannung zwischen den drei Begriffen deutlich macht und unbedingt in einem tatsächlich interdisziplinären Dialog mit Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie wieder aufgegriffen werden sollte. Qualität und Relevanz vieler anderer Beiträge des Bandes kann der nicht in der Erziehungswissenschaft beheimatete Rezensent nur eingeschränkt beurteilen. Fast überall blitzen Erkenntnisse und Meinungen auf, die für an Inklusion, Partizipation und Menschenrechten arbeitende und forschende Menschen interessant sind, für die interdisziplinäre Rezeption aber mit einer gewissen Einordnung besser zu verarbeiten wären.
Fazit
Der Band bietet eine Zusammenstellung interessanter Beiträge zur Umsetzung des Rechts auf Bildung nach Art. 24 UN-BRK im deutschen Bildungswesen insbesondere im Lichte erziehungswissenschaftlicher Theorie und praxisnaher Forschung, die Bildungspolitik, Schule und frühkindliche Bildung betrachtet. Einzelne rechtswissenschaftliche Beiträge runden den Band ab. Eine stärkere interdisziplinäre Integration der vorgestellten Theorien und Forschungsergebnisse bleibt ein Desiderat für Forschung und Publizistik.
Rezension von
Prof. Dr. Felix Welti
Universität Kassel, FB Humanwissenschaften; Fachgebiet Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung
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Zitiervorschlag
Felix Welti. Rezension vom 01.02.2021 zu:
Torsten Dietze, Dietlind Gloystein, Vera Moser, Anne Piezunka, Laura Röbenack et al. (Hrsg.): Inklusion - Partizipation - Menschenrechte. Transformationen in die Teilhabegesellschaft? Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2020.
ISBN 978-3-7815-2362-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26885.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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