Edwin Hübner, Leonhard Weiss (Hrsg.): Resonanz und Lebensqualität
Rezensiert von Peter Schröder, 17.12.2020

Edwin Hübner, Leonhard Weiss (Hrsg.): Resonanz und Lebensqualität. Weltbeziehungen in Zeiten der Digitalisierung. Pädagogische Perspektiven.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2020.
453 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2374-4.
D: 47,00 EUR,
A: 48,40 EUR.
Mit einem Geleitwort von Hartmut Rosa.
Thema
Seit der Soziologe Hartmut Rosa im Jahr 2016 sein Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ veröffentlicht hat, wird sein Ansatz in den verschiedensten Disziplinen rezipiert und reflektiert. Er eignet sich offenbar als Metatheorie für pädagogische, psychologische, sozialwissenschaftliche, medienwissenschaftliche, ästhetische und andere Theorie- und Praxiskonzepte. Der vorliegende Band schlägt einen weiten Bogen um alle diese Perspektiven, die ihren Fluchtpunkt im Begriff „Digitalisierung“ finden. Es geht aber nicht um so etwas wie eine Polarität zwischen Resonanz und Digitalisierung, vielmehr werden beide Begriffe auf ein Drittes bezogen, nämlich auf „Lebensqualität“ im Sinne eines Konzepts von „gutem Leben“. In diesem Dreieck bewegen sich die Beiträge dieses Buches.
Herausgeber
Edwin Hübner hat nach dem Studium der Mathematik und Physik als Lehrer an der Freien Waldorfschule in Frankfurt/M. gearbeitet. Nach einer Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Promotion und Habilitation arbeitet er seit 2015 als Professor für Medienpädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart, Seminar für Waldorfpädagogik.
Leonhard Weiss bekleidet nach dem Studium der Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte in Wien sowie der Waldorfpädagogik in Krems eine Professur für Bildungsphilosophie und Pädagogische Anthropologie. Er ist Autor einer Reihe von Arbeiten u.a. zu Waldorfpädagogik.
Ich verzichte darauf, die im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren im Einzelnen vorzustellen, im Anhang findet sich ein entsprechendes Verzeichnis.
Aufbau und Inhalt
Hartmut Rosa hat dem Buch ein kurzes Geleitwort vorangestellt: „Von summenden und verstummenden Resonanzachsen im Zeitalter der Digitalisierung“. Mit den zwei ersten Sätzen rahmt er das Thema des Folgenden: „Smartphones sind eine Gefahr für unsere Kinder. Nicht unbedingt deshalb, weil sie nicht richtig damit umgehen können und süchtig danach werden, sondern weil ihre Eltern oft stundenlang neben ihnen, den Kindern, sitzen und stehen, ohne mit ihnen in Resonanz zu treten.“ (S. 9)
Im Anschluss formulieren die Herausgeber unter dem Titel „Auf der Suche nach dem ‚guten Leben‘… Einleitende Gedanken zur Bedeutung von ‚Resonanz‘ und ‚Lebensqualität‘ in der Pädagogik“. Folgende Fragen beschäftigen seit 2017 das Erziehungswissenschaftliche Kolloquium der Freien Hochschule Stuttgart, die im Jahr 2018 auch in einem direkten Austausch mit Hartmut Rosa bedacht werden konnten: „Welche Resonanzräume – und welche möglichen Erweiterungen ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Lebensqualität – bieten heute die institutionalisierten Bildungsangebote jungen Menschen an? Welche sollten sie anbieten? Welche Chancen zur Entfaltung von Resonanzbeziehungen kann eine unseres Erachtens immer auf menschlichen Beziehungen beruhende Pädagogik Heranwachsenden eröffnen, die algorithmusgesteuerte Lernprogramme nicht bieten können?“ (S. 15)
Antworten auf diese Fragen werden in drei Beitragsgruppen entfaltet.
Eine erste ist überschrieben mit „Grundlegende Perspektiven“ und umfasst fünf Beiträge. Bernhard Nieke schreibt zum Thema „Lebensqualität als Orientierung für pädagogisches Denken“ und nimmt damit die Frage nach dem „guten Leben“ auf. Ingrid Classen-Bauers Beitrag widmet sich dem Thema „Salutogenese und Lebensqualität“. Sie thematisiert Resonanz als menschliches Grundbedürfnis und Grundfähigkeit, bei deren Erwerb das Konzept „Salutogenese“ von Antonovsky einen unterstützenden Rahmen bietet. Jörg Soetebeer entfaltet in seinem Beitrag „Zwischen Resonanz und Autonomie – Überlegungen zu Souveränität aus anthropologischer Sicht im Anschluss an Ernst Cassirer“, wobei er „Souveränität“ als verbindende Mitte zwischen Resonanz und Autonomie beschreibt. Leonhard Weiss schließt an mit seinem Beitrag „Selbsterkenntnis durch ‚Interessse am Anderen‘. Ein Beitrag zur Lebensqualität“, dem er einen Prolog voranstellt, in dem er das Leben in sozialen Netzwerken als Leben in „Echokammern“ (Zygmunt Bauman) beschreibt – „Echo“ aber sei etwas grundsätzlich anderes als „Resonanz“. Stattdessen müsse es ein Interesse am Anderen geben, das der Entwicklung eines eigenen Selbstverständnisses dient und die „Absonderung des einen Menschen vom anderen“ (R. Steiner) überwindet. Thomas Damberger nimmt ein gegenwärtig verbreitetes Thema auf: „Künstliche Intelligenz und der Sinn von Pädagogik“. Auch künstliche Intelligenz bedient sich des Mediums Sprache, für pädagogische Prozesse ist sie gleichwohl nur eingeschränkt brauchbar, weil das zentrale Anliegen, nämlich die Selbst-Deutung eben gerade nicht erfüllt wird, da der Maschine die eigenen Äußerungen nichts bedeuten, also in keinerlei Weise über sich selbst hinausdeuten.
Die zweite Beitragsgruppe ist überschrieben mit „Entwicklungsbezogene Perspektiven“, die in sechs Beiträgen entfaltet werden. Edeltraud Röbe entfaltet in ihrem Beitrag „Frühe Kindheit im Sog der Digitalisierung“ die These, dass die Präsenz zahlreicher digitaler Geräte und Medien die Kinder in ihrem Selbstbildungsprozess nicht unterstützt, sondern eher „paralysierend“ wirkt. Peter Lutzker setzt demgegenüber in seinem Beitrag „Die Entwicklung der Sinne als Grundlage von Lebensqualität und Resonanz“ auf Sinneserfahrungen als Voraussetzung und Medium von Resonanzerlebnissen. Entsprechend zu betonen sei, so sein Fazit, die „dringende Notwendigkeit eines breiten und differenzierten Spektrums an Sinneserfahrungen, vor allem in den entwicklungskritischen Jahren der Kindheit und Jugend“. (S. 264) Sebastian Suggate untersucht demgegenüber die Bedeutung der menschlichen Feinmotorik für die Entwicklung der Resonanzfähigkeit: „Die (Fein-)Motorik als Resonanzphänomen zwischen Form und Handlung“. Unter dem Titel „Gefrorene Vergangenheit. Digitale Medien in ihrem Verhältnis zu den menschlichen Sinnen“ die These, dass das angesichts der technischen Medien erforderliche „Medialitätsbewusstsein“ sich nur bilden kann, wenn Kinder und Jugendliche sich in beiden Räumen, dem realen und dem virtuellen, kompetent bewegen können. Das Motiv der verschiedenen Welten taucht auch in dem Beitrag von Peter Loebell („Welt-Teilhabe von Kindern und Jugendlichen im Zeitalter der Digitalisierung“) wieder auf: Welt-Teilhabe und Resonanzfähigkeit ausbilden zu können, ist in Zeiten digitaler Medien kein selbstverständliches Ergebnis kindlicher und jugendlicher Entwicklung, sondern vielmehr eine Herausforderung für die Pädagogik. Edwin Hübner fokussiert in seinem Beitrag „Jugend und Schule im digitalen Zeitalter“ auf die Frage, wie der schulische Unterricht organisiert werden muss, um diese pädagogische Herausforderung bestehen zu können. Als zentrale Entwicklungsaufgaben nennt er den Aufbau einer eigenen Persönlichkeit, die Entwicklung einer Beziehungsfähigkeit und die Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft. All dies ist störanfällig, vor allem durch den Konsum digitaler Medien.
Die dritte Beitragsgruppe schließlich thematisiert „Didaktische Perspektiven“. In der Einleitung (S. 367) heißt es: „Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind die Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche auch eine Beziehung zu den jeweiligen Lerngegenständen entwickeln können, dass sie zu ihnen in Resonanz kommen können.“ Das entfalten die letzten drei Beiträge des Bandes an drei beispielhaften Fächern: Mathematik, Kunstpädagogik und Physik. Michael Toepell fragt nach „Perspektiven einer kindgerechten mathematischen Bildung“. Freude am Denken, Wertebildung sind Ziele einer „Resonanzpädagogik“, die über den traditionellen Mathematikunterricht hinausgehen. Anna-Maria Schirmer benennt in ihrem Beitrag „In Resonanz mit der sinnlichen Welt – Beiträge der Kunstpädagogik zu einer welthaltigen Erkenntnis angesichts digitaler Distanzierungsbewegungen“ Gegengewichte zur Logik der digitalisierten Welt, wie sie besonders von der Kunst ausgehen. Den Naturwissenschaften widmet sich Florian Theilmann in seinem abschließenden Beitrag „Versuch über die Tugenden des Naturwissenschaftlichen Lerners. Bildungsvisionen und Wissenschaftsbild im Spiegel von Physiklehrplänen“. Er stellt eine erstaunliche Konstanz von Tugenden wie Ordentlichkeit, Rationalität und Fleiß durch die Zeiten fest, wogegen das Sinnerleben oder eigene Klärungsversuche des Verhältnisses von Welt und Mensch auf der Strecke bleiben, also vom naturwissenschaftlichen Unterricht ein geringer Beitrag zum guten Leben im Sinne des Rosa’schen Resonanzkonzepts geleistet wird.
Diskussion
„Resonanz und Lebensqualität“ ist ein wichtiges Buch, nicht nur für Didaktiker und Pädagogen, sondern für einen gesellschaftlichen Diskurs über Bildungsinhalte und -ziele. Im schulischen Unterricht ist in den letzten Jahrzehnten eine deutliche (Über-)Betonung der MINT-Fächer zu beobachten, während Fächer wie Kunst, Musik, Religion etc. zunehmend an Bedeutung verlieren. Das Kriterium für Bedeutung ist eine möglichst gute Positionierung in Berufen, die von unmittelbarem Interesse hinsichtlich wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit sind. Damit ist Weltbeherrschung bedeutender als ein resonantes Weltverhältnis. Weltbeherrschung und technische (Re-)Produktion sind aber nur die eine Hälfte der Weltoffenheit und Weltgestaltung des Menschen. Die andere Hälfte besteht in der Gestaltung eines „guten Lebens“ – abseits von wiederum ökonomisch motivierten Konsumverführungen. Instrumentelle Verwertungsinteressen sind offenbar kulturprägend und sehr viel einflussreicher als sensibles Gestalten natürlicher und sozialer Räume. Da versucht dieser Band ein deutliches Gegengewicht zu setzen.
Wenn sich ein pädagogisches Konzept von je her der Logik marktkompatibler Bildungskonzepte weitgehend entzieht, ist es die Waldorfpädagogik. Sie taucht in den Beiträgen in vielerlei Perspektiven auf: in eher grundsätzlichen Konzepten, in der Reflexion entwicklungspsychologischer und -biologischer Aspekte und schließlich in exemplarischen fachbezogenen didaktischen Überlegungen. Besonders im kunstpädagogischen Beitrag von Schirmer wird die Bedeutung von Gegengewichten zur Logik der um sich greifenden Digitalisierung betont – im Grunde ist es aber der Text oder Subtext aller in diesem Band gesammelten Beiträge. Die verengte Perspektive eines zu kurz greifenden Bildungsziels muss geweitet werden – um der „Ganzheitlichkeit“ des Menschseins und um der Lebensqualität, eben um resonanter Weltbeziehungen, willen. Die Waldorfpädagogik ist ein Biotop für solche Weltbeziehungen – wer in ihr nur eine Nischenpädagogik sieht statt offen zu sein für ihre Impulse, beschränkt sich selbst in den pädagogischen Möglichkeiten.
Hartmut Rosas Buch „Resonanz“ ist eine soziologische Theorie, die den Anspruch einer neuen „Kritischen Theorie“ erhebt. Sie ist in manchen Wissenschafts- und Praxisfeldern rezipiert worden. Mein Eindruck ist, dass die Rezeptionen nicht das theoretische Level der Arbeit von Rosa erreichen und dass im Kontakt mit den Praxisfeldern nur jeweils Aspekte zum Tragen kommen. Gleichzeitig gilt (und muss gelten) das Wort von Kurt Lewin: „Es gibt nicht Praktischeres als eine gute Theorie“, denn was sollte eine Theorie, die nicht praktisch werden kann? Auch Rosa selbst hat seinen Ansatz in verschiedenen Praxisfeldern diskutiert. Mit dem von Hübner und Weiss herausgegebenen Buch ist man an einer zentralen Stelle der Diskussion: Bildung ist eben nicht nur individuell, sondern auch kulturbildend. Es gibt eine zirkuläre Bezogenheit von Kultur (im Sinne einer gestalteten und zu gestaltenden Welt) und Bildung (im Sinne einer Praxis resonanter Weltbeziehung und -aneignung). In diese Zirkularität mischt sich der Band ein und setzt wichtige Akzente.
Fazit
Ein Buch, dem ich eine breite Rezeption und Diskussion wünschen möchte. Wer immer mit Pädagogik zu tun hat, möge wenigstens den Abschnitt „Grundlegende Perspektiven“ lesen, reflektieren und mit anderen diskutieren. Vielleicht ist es nicht zu viel zu behaupten, dass alle Pädagogik auf „Welt-Teilhabe“ zielt. Für dieses Ziel bietet das Buch wichtige Kalibrierungen.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
Website
Mailformular
Es gibt 136 Rezensionen von Peter Schröder.