Wolfgang Harich: Arnold Gehlen
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 18.05.2020
Wolfgang Harich: Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie?
Tectum
(Baden-Baden) 2019.
596 Seiten.
ISBN 978-3-8288-6960-8.
Reihe: Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs - 11.
Entstehungshintergrund
Das hier vom Tectum-Verlag publizierte Werk stammt aus dem Nachlass Wolfgang Harichs und ist als elfter Band Teil einer auf 16 Bände angelegten Edition. Eröffnet wurde sie im Herbst 2013 und würdigt nach Verlagsangabe Wolfgang Harich „als Philosophen, Literaturhistoriker, Feuilletonisten, als praktischen Streiter für die deutsche Einheit und die ökologische Umorientierung“. Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben wird die Reihe von Dr. Andreas Heyer. Gefördert werden die Veröffentlichungen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Thema
Harichs Überlegungen kreisen um die zu begründende Notwendigkeit einer marxistischen Anthropologie (vgl. S. 58), versuchen überhaupt das Verhältnis von Marxismus und Anthropologie zu klären (vgl. S. 177). Vom „Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus aus“ nehmen sie „in Angriff“ „Grundlagenprobleme“ vor allem der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens (S. 138). Damit auf den Begriff gebracht werden soll die „Veränderlichkeit und Formbarkeit des Menschen“ hinsichtlich „sozial determinierter Bewusstseins- und Triebinhalte“ (S. 176), die sich durch Unterdrückungsmechanismen reproduzieren (vgl. S. 310). Während sich der Mensch vor allem „durch Arbeit selbst geschaffen hat“ (S. 311), soll das, was an der philosophischen Anthropologie „sachlich richtig“ sei in den von Harich ausgelegten Marxismus integriert und fruchtbar gemacht werden. Dies alles „[a]uf dem Boden rücksichtsloser, konsequenter Wissenschaftlichkeit, auf dem Boden rücksichtsloser Kritik und Selbstkritik“ (S. 308).
Aufbau und Inhalt
Das Werk ist strukturiert durch vier Teile. Nach einem ausführlichen Vorwort des Herausgebers (S. 11–132) beginnt Teil I mit „Texten zur Einführung“. „Gegenstand der Anthropologie“ sei „der Mensch als solcher“ also „genau das, was Marx in seiner sechsten These über Feuerbach unter dem ‚Abstraktum‘, das dem einzelnen Individuum innewohne, unter der ‚inneren‘ stummen, die vielen Individuen bloß natürlich verbindenden Allgemeinheit versteht. Und ihre Aufgabe ist es, die Entstehung, die Existenzbedingungen und das qualitative So- und Nichtanderssein dieses ‚Abstraktums‘, dieser Allgemeinheit zu erklären“ (S. 147). Damit ist kritisch verwiesen auf eine Humanwissenschaft, „die (…) sich nicht über die notwendige Begrenztheit des Geltungsbereichs ihrer Aussagen Rechenschaft gibt“, also Gefahr läuft, „die vorgefundenen Tatsachen ihres isolierten Gebiets zu einer durch und durch unwissenschaftlichen Gesamtanschauung vom Wesen und der Herkunft des Menschen zu verallgemeinern“ (S. 156), letztlich münden in „reaktionäre Anthropologien der Gegenwart“ (S. 158), „pseudowissenschaftliche“ Begründungen faschistischer Verbrechen (S. 156) oder „in der falschen Verabsolutierung empirisch vorgefundener sozialer Tatsachen“ (S. 175). Dem gegenüber seien die Analysen von Marx, Engels, Lenin und Stalin „von den wirklichen, historischen Menschen ausgegangen, von deren konkreten Beziehungen zur Natur und zu einander, von der geschichtlichen Bewegung ihres ökonomisch-gesellschaftlichen Seins und dessen Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bewusstsein“ (S. 163).
Ebenfalls auf „ästhetischem Gebiet“ werden anthropologische Fragen virulent. Auch dort, und dies ließe sich am Werk Gehlens ablesen (vgl. S. 235), gehe es „um das Verständnis des qualitativen Novums des Menschen“ (S. 194). Im Unterschied zum Tier besitze der Mensch ein ästhetisches Empfinden sowie „die Fähigkeit, selbst das Schöne herzustellen“, womit sich gesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse in „künstlerischer Produktion“ „objektivieren“ könnten (S. 199). Allerdings sei diese Art der Produktion durch Arbeit vermittelt. Um sich als Künstler zu betätigen, müsse der Mensch „allererst homo Faber sein, und nur als solcher bringt er Objekte hervor, in deren Genuss sich ästhetischer Sinn entwickeln, durch Erkenntnis vergeistigen (…) und über die Gesamtheit menschlicher Antriebe ausbreiten kann“ (S. 201). Indem er in diesem Sinne „‚nach außen‘“ die Welt verändere, baue er gleichzeitig „‚nach innen‘“ den „Druck und Zwang der Instinkte“ ab, um so „die Entwicklung einer qualitativ neuen, spezifisch menschlichen, d.h. nicht-biologischen Antriebsstruktur“ zu erzwingen (S. 203).
Teil II beinhaltet die erhaltenen Briefe Harichs an Arnold Gehlen, die allgemein unter der Frage stehen, wie sich „Linke“ zu einem „Konservativen im Bereich des Geisteslebens stellen“ sollten (S. 231), der noch dazu „geschichtsfremd“ denke und nie mit dem „Phänomen gedanklich fertig geworden“ sei, „dass dieselbe Institution eine Zeit lang historisch notwendig und segensreich sein kann, um dann eines Tages, erstarrt und veraltet, zum Hemmschuh der Entwicklung zu werden“ (S. 239). Entsprechend energisch (vgl. S. 314) und nicht ohne Redundanzen insistiert Harich gegenüber Gehlen auf die Geschichtlichkeit von Mensch und Institutionen. Festgestellt sei der Mensch weder „biologisch durch Triebe und Instinkte, noch auch soziologisch durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse, durch ein ‚Milieu‘. Beim Durchschnitt der Individuen einer Klasse“ sei „die Antriebsstruktur zwar von klassenmäßig bestimmten Motiven besetzt (…). Aber in der Gesellschaft als konkreter Totalität sind eben nicht nur diese (…) wirksam, sondern auch (…) humanistische Ideen aus früheren Zeiten (…), Erinnerungen an Goethe und Heine, Geschmackskultur, die an der Anschauung der Renaissancemalerei geschult ist“ sowie „der kategorische Imperativ“ oder gar „eine hausbacken-konservative Offizierslehre, die sich bei manchen als immer noch besser erwies als die Naziideologie von gestern und die Söldnerideologie von heute, und die zur Basis echter Opposition werden konnte“ (S. 252). Daraus leitet sich ab jene „Freiheit der Entscheidung in der ‚Situation‘“ (S. 253), die Gehlen aber nicht aufgehen könne, da er zwar eine „lebendige Beziehung“ zur „großen Tradition deutschen Denkens, die im Marxismus ‚aufgehoben‘ ist“, unterhalte, aber „den Marxismus“ selbst nicht kenne (S. 262). Dieser dürfe allerdings nicht mit „Vulgärsoziologie“ verwechselt werden: „Wir sagen: Verändert die Umstände, damit das Verbrechen verschwinde! Wir sagen aber nicht: Sprecht den Verbrecher frei, denn an dem, was er tat, sind die Zustände schuld“. Die „Zustände in ihrer objektiven Widersprüchlichkeit“ seien eben nicht nur an Verbrechen schuld, „sondern auch am Gegenteil: An der kreuzbraven Ehrlichkeit der meisten Darbenden und an der Menschlichkeit und Solidarität der Unterdrückten und an der heiligen Empörung und dem Heroismus derer, die für eine bessere Zukunft kämpfen“ (S. 283).
Trotz aller „neokonservativistische[r] Pferdefüße“ (S. 352) und theoretischer Vorbehalte auch gegenüber dem „Versuch einer Anthropologisierung des Privateigentums“, seine „Aufbauschung zu etwas Allgemeinmenschlichem in der Absicht, für das Privateigentum an Produktionsmitteln eine neue Apologetik zu schaffen“ (S. 350), nickt Harich ein in die These Gehlens, „das menschliche Verhalten überhaupt müsse durch stabile Institutionen auf Schienen gelegt werden, um nicht beliebig entgleisen und auszuwuchern“. Neben der „Verabschiedung Freuds“ (S. 366) stellt dieser sich so auf den Standpunkt radikaler Ablehnung auch gegen „den Adornoschen Ruf nach Emanzipierung der Individuen vom Institutionellen“ (S. 332). Gerade die Revolution bedürfe „selbst massiver Institutionalisierung, wenn sie mit der einen alten Institution, die in der Tat vernichtet zu werden verdient, nämlich dem kapitalistischen Privateigentum an Produktionsmitteln, gründlich und auf die Dauer fertig werden will – was eben nur mit Hilfe höchst autoritärer, repressiver Mittel möglich ist“ (S. 362).
Das dritte Kapitel fasst weitere Studien und Briefe zur Anthropologie zusammen. Hier finden sich zahlreiche Notizen und Einlassungen zu den verschiedenen Werken Arnold Gehlens, mit denen sich Harich befasst hat. In mehreren Fortsetzungen und am meisten Raum nimmt dort ein vor allem seine Auseinandersetzung mit Gehlens Arbeit über „Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft“, die „sehr genial“ sei, weil sie „wirklich neue Funde“ enthielte, an der man „als Marxist“ nicht vorbei gehen könne (S. 428). Attestiert wird der Gehlenschen Kritik an der industriellen Gesellschaft eine „zutiefst humanistische“ „Grundtendenz“, die der „marxistischen Gesellschaftskritik um Haaresbreite nahe [kommt], ja mehr noch: Er bereichert und konkretisiert sie durch wesentliche neue Erkenntnisse“ (S. 430). Indem Gehlen „die Selbstverständlichkeit des Begriffs ‚Anpassung‘ in der Soziologie nicht kritiklos hinnimmt, sondern sie bemerkenswert findet, ist er sehr nahe daran, sich denen beizugesellen, die auf der Straße stehen und der Bourgeoisie mit Steinen die Fenster einwerfen“ (S. 431). Allerdings wird kritisch vermerkt, dass Gehlens Analyse „nicht auf die technische Zivilisation schlechthin“, vielmehr „auf die kapitalistische Zivilisation zutrifft“. Weder kenne er „den Sozialismus in der Sowjetunion“, noch seine „humanen Errungenschaften“, weshalb ihm eine „Zukunftsperspektive“ fehle (S. 430 f.). Aus diesem Grunde seien seine Arbeiten „- gerade wegen ihrer rücksichtslosen Aufrichtigkeit – von Resignation und Pessimismus überschattet“ (S. 431). „Sehr ärgerlich“ sei es zudem, dass er „die ‚Aufklärungskultur‘ anscheinend recht abschätzig beurteilt“, die aber, der „Naivität der Aufklärer“ zum Trotz, „eine der stolzesten Epochen der Menschheit“ einleitete (S. 456).
Besonders das Absehen vom „klassenbewussten Proletariat“ als diejenige Kraft, die berufen sei, „der Menschheit den ganzen Dreck der kapitalistischen Entmenschung vom Halse zu schaffen“ (S. 430), führt zu einer theoretischen Engführung, was die Sicht auf eine Gesellschaft versperrt, die zum „eigentlichen Subjekt“ avanciert und sich so „vermenschlicht“. Dies, und hier versichert sich Harich (wie an vielen anderen Stellen im Band) seines eigenen Verständnisses vom Marxismus, vollziehe sich aber nur über ein „Bewusstsein der Partei“, welches „den entschiedenen Bruch mit der Primitivität des nur spontan reagierenden, die Zusammenhänge nicht begreifenden Bewusstseins dar[stellt]“ (S. 433). „Die Masse“ reagiere zwar „assoziativ und affektmäßig, also spontan (…). Aber die objektiven Lebensbedingungen des Proletariats, sein vitales Bedrohtsein von Krieg und Krise (…)“ führe dazu, „dass das Proletariat assoziativ und affektmäßig richtig reagiert – richtig in Richtung auf die Revolution“. Es käme eben nur darauf an, „dass es über eine Partei verfügt, die ihm in jeder Situation die großen Zusammenhänge bewusst macht, deren Prognosen und Warnungen durch die historische Entwicklung laufend verifiziert werden (…)“ (S. 445). Damit sei das Bewusstsein „nicht bloß passiver Reflex“, sondern wirke „aktiv auf die ökonomische Basis zurück“. „Das gesellschaftliche Bewusstsein, aus dem gesellschaftlichen Sein entstanden“, würde „also seinerseits zur Bedingung des gesellschaftlichen Seins“ (S. 451).
Das letzte Kapitel umfasst Briefe und Aktennotizen, in denen Harich erneut über sein Verhältnis zu Gehlen referiert, um partiell auf kritische Distanz zu gehen. Auslöser ist seine ‚Entdeckung‘ des Werkes von Paul Alsberg, dessen zentrale anthropologischen Erkenntnisse Gehlen plagiiert habe. Gehlens „philosophische Systematisation“, so resümiert Harich noch in einem Brief vom Januar 1988, sei hingegen falsch in zwei Punkten: Erstens fasse dieser nicht „die Arbeit als zentral, sondern betrachtet sie als eine beliebige Art des Handelns. Zweitens stellt er die Entwicklung auf den Kopf, indem er das ‚Mängelwesen‘, das der Mensch sei, zu ihrem Ausgangspunkt erklärt“, um gleich darauf zu relativieren, dass Gehlen zwar ein Nazi gewesen sei, aber eben ein „antirassistisch denkender Nazi“, was ihn „bis heute“ umso „brauchbarer“ für den „Neokonservatismus“ mache, „der diesen kompromittierenden Ballast über Bord geworfen hat“ (S. 523).
Diskussion
„Den philosophisch Gebildeten gegenüber bedient Marx einige metaphysische Artikulationsweisen, denen er zwar im Rahmen seiner geschichtsmaterialistisch gewendeten Dialektik eine andere Bedeutung gibt, die aber bei oberflächlicher Lektüre metaphysisch missverstanden werden können und auch so verstanden worden sind“. Weiter heißt es zum Stichwort „Marxismus“ laut „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus“, dass, neben einen „ins Objektivistische vereinseitigte[m] M[arxismus]“ und zahlreicher „entgegengesetzter Irrwege“, prominent zum Opfer gefallen sei „die Marxsche Auffassung der Dialektik“, die „im Zuge der sowjetischen Staatswerdung des M[arxismus] umgeschlagen [ist] in eine Erste Philosophie (Metaphysik) des dialektischen Materialismus, der zugeschrieben wird, durch ihre Anwendung auf Geschichte den für Marx grundlegenden Geschichtsmaterialismus erst zu gründen“. Daraus folgt, mit einem Wort Sven-Eric Liedmans, eine „Weltanschauung“, „aus der später ein ‚M[arxismus] als Antwortautomat‘ gemacht wurde“, während letzterer einer fruchtbaren Beschäftigung mit Marx entgegensteht, die zu leisten wäre „durch die Geschichte des Marxismus hindurch, die in hohem Maße eine Geschichte von Fehlinterpretationen und Entstellungen ist, die dem ursprünglichen Entwurf nicht nur äußerlich sind“ (Alfred Schmidt).
Nun führt eine oppositionelle Haltung gegenüber dem politischen Herrschaftsapparat nicht notwendig zur Umwälzung sozialer Verhältnisse wie nicht jeder Dissident gleich ein Revolutionär ist, wozu es, auch in breiten Auseinandersetzungen mit Marxismus und Marxismen, Regalmeter an kritischer Literatur gibt, auf die zu verweisen nicht ganz abwegig erscheint bei einem gleichsam vom Verlag beworbenen „undogmatischen Querdenker“ Harich, der so undogmatisch gar nicht ist und dessen Art quer zu denken an einigen Stellen lateral an Marx vorbei interpretiert, freilich ohne ein „dogmatischer Flohknacker“ (S. 35) zu sein. Der „Zugang, über den Harich zur Anthropologie [und damit schließlich zu Gehlen] fand“, war nicht bloß „die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit (…) Herder“ (S. 30), sondern begründet sich ebenso (worauf der Herausgeber auch hinweist) über das Verhältnis Harichs zum Marxismus sowie den Konstitutionszusammenhängen Marxscher Theorie. Wenn mit Begriffen von „Basis“/„Überbau“ (S. 57, S. 103, S. 145), „Widerspiegelung“ (S. 59) sowie einem Marxismus gesprochen ist, der „Problemlösung[en] an die Hand geben“ will (S. 43), darüber hinaus Marx und Engels in eine geschichtliche Kontinuität mit Lenin und Stalin gesetzt werden, die doch allesamt „in ihren Analysen irgendwelcher gesellschaftlicher Erscheinungen jedes Mal von den wirklichen, historischen Menschen ausgegangen“ seien (s.o.), so wird hier nicht das „Gegenteil der ‚offiziellen Position‘“ stark gemacht, sondern ein marxistischer Stupor repetiert, in dessen Mechanik das „dialektische Weltbegreifen“ (S. 27) sein Ende findet. Soll dann „eine Nachtigall nicht singen dürfen, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?“ (Albert Vigoleis Thelen).
Darüber hinwegtäuschen kann auch nicht, dass Harich sich, „auch in seinen Fehlern“, den verschiedenen Theoretikern nicht „völlig kritiklos hingab“ („Adeptentum war seine Sache nicht“, Einleitung des Herausgebers, S. 71 f.), was richtig anzumerken ist, und ihn von anderen ‚DDR-Philosophen‘ und Denkern zunächst abgrenzt. Der Hang zur theoretischen Fatalität, die dem Schmerbauch der Staatsräson schmeichelt, zeigt sich jedoch dort, wo die Historizität als marxistisches Prärogativ über Gebühr strapaziert wird, womit sich der gegen Heidegger gerichtete, und in der Sache richtige Vorwurf, einer „maßlose[n] Überspannung des philosophischen Kompetenzbereichs der Anthropologie“ (S. 54), auf den Marxismus Harichs selbst anwenden ließe. Wer dialektisch denke, so Harich in einem Brief an Gehlen, sei „gefeit gegen falsche Verabsolutierungen“ (S. 302), um einige Zeilen später Stalin zu bescheinigen, dass es gerade die Dialektik sei, die ihn „befähigt, im Jahre 1939, durch Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Hitler, England und Frankreich zur Kriegserklärung an Deutschland zu veranlassen und damit die antifaschistische Weltkoalition (…) zu erzwingen“ (S. 303), womit der Marxismus als „Methode der materialistischen Dialektik“ (S. 305) auf die Begründung politischer Entscheidungen herunterkommt, was den Ariadnefaden der Gesellschaftskritik abreißt. Dass Harich gegenüber Gehlen gar den „preußischen Stechschritt“ meint goutieren zu müssen (S. 366), darf dabei nicht als persönliche Marotte abgetan werden, sondern weist hin auf einen Determinismus, der dazu tendiert, einerseits die (Lohn-)Arbeit, andererseits das Proletariat als historisches Subjekt zu positivieren. Abgesehen wird in der „objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung“ vom gesellschaftlich vermittelten Scheitern der Arbeiterklasse als sog. revolutionäres Subjekt, ein Scheitern, das im Verhältnis von Kapital und Arbeit, samt Haupt- und Nebenwidersprüche, prozessiert, dort als Erfahrung, und damit theoretisch wie sinnlich greifbar, eingelassen ist. Dem verschließen sich Harichs anthropologische Überlegungen insofern, als – in Anlehnung an Herder – für ihn der Mensch prinzipiell „offen in dem Sinne [ist], dass seine Antriebsstruktur in schier unerschöpflichen Kombinationen von gesellschaftlich wirksamen möglichen Motivierungen des Verhaltens besetzt werden kann“, weshalb dieser „das Resultat dessen [ist], was er als primär Handelnder aus sich macht“ (S. 253). Obwohl Harich den Menschen als geschichtliches Wesen begreift und weiß, dass gesellschaftliche Prozesse ausschließlich in anthropologischen Kategorien gedanklich nicht nachzuvollziehen sind (vgl. S. 238), kapriziert er auf den „Tatmenschen“ (Oscar Wilde), der die ideologische Staatsdoktrin in sich wiederholt gerade dort, wo er auf dem Humanismus Herders fußt. Dass dieser aber den Missbrauch des Menschen bereits voraussetzt und sich in das Zwangsgefüge objektiver Herrschaft einpassen lässt, wird deutlich im „32. Humanitätsbrief“: „Da unser Geschlecht selbst aus sich machen muß, was aus ihm werden kann und soll: so darf keiner, der zu ihm gehört, dabei müßig bleiben. Er muß am Wohl und Weh des Ganzen Teil nehmen, und seinen Teil Vernunft, sein Pensum Tätigkeit mit gutem Willen dem Genius seines Geschlechts opfern. (…) Zum Besten der gesamten Menschheit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll“. Eine auf dieser Grundlage nobilitierte Spontaneität läuft dann Gefahr reaktionär und verkrustet zum Abgott eines „schiefausgebildeten“ (Herder) Menschenbildes zu werden; entweder in Formvollendung einer tobenden verklumpten Masse, sei sie nun durch sozialistische oder faschistische Autorität konditioniert, oder als „postmoderner“ Archetypus, der eine „Rückwendung der Aufmerksamkeit auf sich selbst“ (Foster Wallace) zeiht und historisch hierarchisierte Selbstzwänge (Elias) institutionalisiert.
Dem entgegenzuhalten wäre zunächst mit Camus, dass der Mensch das einzige Geschöpf sei, „das sich weigert zu sein, was es ist“, um daraufhin kritisch zu fragen, „ob diese Weigerung ihn zur Vernichtung der andern und seiner selbst führen kann, ob jede Revolte mit der Rechtfertigung des allgemeinen Totschlags enden muss, oder ob sie im Gegenteil, ohne Anspruch auf eine unmögliche Schuldlosigkeit, das Prinzip einer angemessenen Schuld entdecken kann“. Hieran ließe sich anschließen mit der „Negativen Anthropologie“ Ulrich Sonnemanns, die Harich wohl nicht zur Kenntnis nahm, wie ihn die „‚Kritische Theorie‘ der Frankfurter Schule“ überhaupt nach eigener Verlautbarung „nie berührt, nie im Geringsten beeinflusst“ habe (S. 13), was zu einer interessiert falschen Auslegung der Adornoschen Kritik am Institutionalismus Gehlens führt, die er als „utopisch“ und „realitätsfremd“ (S. 332) abtut. Dabei hätte er im Sinne auch eines kritischen Marxismus fruchtbare Überlegungen dazu finden können, wie eine sich auf Marx beziehende und dezidiert antifaschistische Anthropologie hätte aussehen können. Wenn Adorno in einem Typoskript vom 16. Februar 1944 festhält: „Was der Mensch ist, kann nur gesagt werden vermittelt durch das was er nicht ist“, so wird damit die geschichtliche Erfahrung in dialektische Logik mit einbezogen insofern, als „die Entmenschlichung dem Begriff des Menschen voraus[geht]“, weshalb ein solcher (Begriff) „nur in der fortschreitenden Einsicht in die Entmenschlichung zu gewinnen [ist]“. Dies konnektiert mit „Negativer Anthropologie“ dort, wo Sonnemann eine „in uns fortarbeitende Vergangenheit“ visitiert, die „unsere Gegenwart notwendig verfälschen muß, außer Vergegenwärtigung dessen, was am sorgfältigsten an ihr verdeckt ist, tritt ein“. Dies zielt auf die „noch zu wenig begriffene Funktion des Vergessens als Produzent“, deutet „auf die Unzulänglichkeit jedes Reflexionsprozesses, dem es [das Vergessen] ungehindert zustoßen kann“. Somit keimt die Frage auf, ob denn die Reflexion „für den Durchschnitt der Menschen ihrem in ihnen angelegten Wesen gerecht [wird]“. Um nun zu jener „Sabotage des Schicksals“ beizutragen, die auf eine „Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“ stellt, müsste sie schließlich „bis zu dem Grade (…) weitergetrieben werden, daß sie spontan auch noch sich selbst reflektiert: Rehabilitierung menschlicher Naturwüchsigkeit heißt sich steigernde Reflexion, nicht sich aufgebende“, was Spontaneität nicht als verdinglichte fixiert, sondern als Erinnerungsspur am Bewusstsein klassentheoretisch nesteln lässt.
Diese auf Praxis zielende Wendung findet sich auch angelegt bei Harich besonders an Stellen, bei denen mit Blick auf Marx gesprochen ist von „einem Hemmnis der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte“, das sich aus einer ehemaligen „Entwicklungsbedingung“ kapitalistischer Produktionsverhältnisse ergibt (S. 174). Eine Analyse darüber könnte auch in Zeiten der sog. Corona-Krise und damit einhergehender psychosozialer wie ökonomischer Verwerfungen zur Disposition stellen, inwieweit der Kapitalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftsform eigentlich noch das Nonplusultra darstellt; oder ob nicht vielmehr eine andere Organisation von Gesellschaft förderlich wäre, die die Arbeit nicht mehr zum Maß des Menschen macht, die „gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein Minimum herabsetzt“, sodass „mit der Emanzipation der Gesellschaft jedes ihrer Mitglieder emanzipiert wird“ (Adorno) und Müßiggang (s.o.) kein Verbrechen mehr darstellt. Ohne voreilig in den „allseitigen Niedergang“ des Kapitalismus als „Stadium allgemeiner Fäulnis“ (S. 251) einmünden zu wollen, setzt dies voraus jene Kritik an der geschichtlichen Physiognomie kapitalistischer Verhältnisse, die nach Marx „endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Während sich hier die von Harich interpretierte sechste „Feuerbachthese“ mit der elften verbindet, hätten am Marxschen Werk orientierte anthropologische Einlassungen kritisch einzubegreifen jedweden Despotismus, dessen einziger Gedanke „die Menschenverachtung, der entmenschte Mensch“ ist (Marx) und so das Bewusstsein von Emanzipation korrodiert. Die geschichtliche Erfahrung, dass diejenigen, „welche sich nicht als Menschen fühlen, (…) ihren Herren zu[wachsen], wie eine Zucht von Sklaven oder Pferden“ (erneut Marx), verweist auf eine gesellschaftliche Sozialität, in die der Mensch sich nicht einleben kann, solange ihre kapitalistisch-vermittelte Grundierung nicht aufgehoben ist, was theoretischer Initiationsmoment für befreiende Praxis sein könnte, die sich der klassenbedingten Aphasie verweigert.
Fazit
„Wer nicht hebt, unterdrückt, wer nicht befreit, untergräbt“, so heißt es in einem Aphorismus Brzozowskis, der als Maxime für das Werk Harichs gelten könnte. Allzu flagrant scheinen hingegen die „Fehler“ (s.o.) von Harichs Marxismus auf der Hand zu liegen, dessen Suchbewegungen einer marxistischen Anthropologie auf ihren gesellschaftlich vermittelten Zusammenhang zu prüfen einlädt. Dahingehend sind es gerade diese Bruchstellen, die eine Publikation der Nachlassreihe sinnvoll und lohnenswert machen. In diesem Sinne ist auch dem Herausgeber zu danken, dass er die von Harich verwendeten Zitate und Reminiszenzen in Fußnoten ausführlich ergänzt (und damit über die Originalquellen kontextualisiert), sodass an Ort und Stelle eine intensivierte Beschäftigung mit der Marxschen Theorie erleichtert (und provoziert) wird, die die Erinnerung hervorkehrt an geschichtlich Unabgegoltenes, das einst im Widerstand gegen kapitalistische Verhältnisse resistierte und vergessen ward. Dies führt weg von einer anthropologischen Idolatrie, die den Menschen auf ein „Mängelwesen“ verengt, um schließlich an der Menschheit zu verzweifeln. Dem entgegen wäre erneut Stanisław Brzozowski zu bemühen: „Wer an die Menschheit nicht glaubt, der schweige“. Ein solches Schweigen war auch Harichs Sache nicht.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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Zitiervorschlag
Kevin-Rick Doß. Rezension vom 18.05.2020 zu:
Wolfgang Harich: Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie? Tectum
(Baden-Baden) 2019.
ISBN 978-3-8288-6960-8.
Reihe: Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs - 11.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26893.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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