Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo
Rezensiert von Dr. phil. Kevin-Rick Doß, 10.06.2020

Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2020.
268 Seiten.
ISBN 978-3-518-24243-8.
D: 15,00 EUR,
A: 15,50 EUR,
CH: 21,90 sFr.
Reihe: Bibliothek Suhrkamp - 1449.
Thema
Kracauers Straßenbilder fügen sich zusammen aus inhaltlich unterschiedlich akzentuierten Feuilletons, die ursprünglich in der Frankfurter Zeitung der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Sie bestehen aus variierten Beobachtungen der Weimarer Zeit und verdichten sich zu Figurationen, in denen „Orte, die vor aller Augen liegen, aber nicht ins Auge fallen“, mit einer „besonderen Zurückhaltung“ dargestellt werden, selbst dort, wo „die gesellschaftliche Normalität ihre extreme Verfassung zu erkennen gibt“ (S. 256). Passagen und Unterführungen, Rummelplätze und Hafenstraßen, Vergnügungslokale und Stehbars finden sich darin ein ebenso wie Erinnerungen an „nichtssagende Mietshäuser“ (S. 12) oder tanzende Paare, deren zerfließende Konturen und wortlos schwelende Beziehungen (vgl. S. 67) Kracauer mit Bedacht nachsinnt.
Ist die „Erkenntnis der Städte“ an die „Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft“ (S. 55), so rücken in die Wahrnehmung Kracauers aber auch Orte „der kleinen, abhängigen Existenzen“ (S. 72). „Raumbilder“ der Arbeitslosigkeit (S. 73) nuancieren zur soziologischen Gegenwartsdiagnose über einen „Produktionsprozess“, der wie ein dunkles Verhängnis „auf den Gemütern“ lastet (S. 75) – ein Verhängnis, das in sprachlichen „Gräben und Wällen“ (S. 77) sowie „primitiver Gerechtigkeit“ (S. 79) überdauert. Darin entblößt sich eine „gefräßige, nichtsnutzige Zeit“ (S. 103), als „ausgezehrte[s] Glück“ (S. 89) warenweltlicher Zurschaustellung und „unzulängliche Geborgenheit“ (S. 162), einmündend in „entleerte Montagen“ (S. 202), die dem Passanten zur undurchschauten Lebensbedingung werden.
Aufbau und Inhalt
„Straßen“ (S. 9–55), „Lokale“ (S. 59–104), „Dinge“ (S. 107–128), „Leute“ (S. 131–167): so werden die jeweiligen Feuilletons couvertiert, an denen sich ein „Anhang“ (S. 169–246) mit weiteren neunzehn Texten anschließt, die, laut „Drucknachweis“ des Verlags, Kracauer für die Erstveröffentlichung einer Zusammenstellung (von 1964) nicht berücksichtigt sehen wollte.
Über die „Erinnerung an eine Pariser Passage“ (S. 9) wird der Leser zunächst geführt zu einer „Straße ohne Erinnerung“, dem Kurfürstendamm, der die „Verkörperung der leer hinfließenden Zeit“ ist, „in der nichts zu dauern vermag“ (S. 20). Begegnungen mit „aus dem Nichts entstandene[n]“ Restaurants, Cafés und anderen „zahllosen Lädchen“ wie Lokalitäten in „verschwenderischer Fülle“ (S. 21) laden jedoch kaum zum Verweilen ein, da sie – stets verrückbar und zum „Transport“ bereit – nur vom vorübergehenden Agrement leben. Dekorative „Lichteffekte“, die im angestrengten „Glanz“ das Begehren nach diesen „gemiedenen Orten“ hervorziehen sollen, zeugen von einer „Wurzellosigkeit“, konturiert durch Eindrücke der „Improvisation“, während nur manchmal auf „den Spuk der Maskerade verzichtet“ wird, das „wahre Gesicht“ der „Vergänglichkeit“ sich zeigt (S. 22). – „Je heller die Lichter, desto trüber das Publikum“ (S. 21).
Es ist gerade dieser „immerwährende Wechsel“, die stete Fluktuation der Geschäfte, wodurch die Erinnerung „[ge]tilgt“ (S. 23) wird. An den „beraubten Fassaden ohne Halt in der Zeit“, „Sinnbild des geschichtslosen Wandels“, lässt sich ablesen jenes „Vergangene“, das nicht mehr „an den Orten haften“ bleiben kann, „an denen es zu Lebzeiten hauste“ (S. 24). Obwohl die „Straßen im Westen Berlins“ „freundlich und sauber sind“, eine „gehörige Breite“ besitzen, und sich oft „nette grüne Bäumchen vor ihren Häusern [reihen]“, schleicht sich dann „ohne jeden Anlaß“ (S. 28) ins Gemüt ein, ein „gegenstandslos[es]“ „Grauen“ (S. 30), das mutmaßlich daher rühren könnte, dass „sie von Omnibussen durchrattert werden, deren Insassen während der Fahrt nach ihrem entlegenen Bestimmungsort auf die Landschaft der Trottoirs, der Schaufenster und der Balkone so gleichgültig herabblicken wie auf ein Flußtal oder eine Stadt, in der sie nie auszusteigen gedenken (.)“. Neben einer „zahllosen Menschenmenge“, die sich in den Straßen bewegt, scheint es mitunter, „als läge an allen möglichen verborgenen Stellen ein Sprengstoff bereit, der im nächsten Augenblick eine Explosion hervorrufen kann“ (S. 29).
All das spielt sich dem Bewusstsein, das eilig durch die „Passagenmajestät“ drängt, so unmittelbar nicht auf. Inmitten einer „bourgeoisen Lebenskomposition“ finden sich stattdessen Ladenauslagen der Lindenpassage, die „vor allem die körperliche Notdurft und die Gier nach Bildern, wie sie in Wachträumen erscheinen“ (S. 33), supponieren. In solche Traumbilder verwandelt, tritt der „Krimskrams“ „wie Ungeziefer in Massen auf und erschreckt durch seinen Anspruch, immer bei uns zu sein“; „Das“, so Kracauer, „möchte uns auffressen“, wovon auch die Buchhandlung etwas ahnt, indem sie „weiß, was sie ihrer Umgebung schuldet“, um mit „Titel Gelüste wachzurufen, die durch den Inhalt kaum gestillt werden dürften (.)“ (S. 34). Jener Glanz ist in Wirklichkeit also „ein Reflex“, gleich den aufgesteckten „Lichtfassaden“, „welche die Nacht zum Tage machen, um aus dem Arbeitstag ihrer Besucher das Grauen der Nacht zu verscheuchen“. Derart illuminiert, unternehmen sie „gemeinsam einen Angriff gegen die Müdigkeit, die zusammenbrechen will, gegen die Leere, die sich um jeden Preis entrinnen möchte“, und konvergieren zu „flammenden Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins, ein Protest der Lebensgier, der wie von selber in das verzweifelte Bekenntnis zum Vergnügungsbetrieb einmündet“ (S. 49).
Ganz ähnliches, wenn auch anders meliert, ereignet sich im italienischen Positano. Dessen projektierte, „äußere Verzierungen“ und Strandcafés ziehen nicht bloß den „zivilisierten Menschen“ an, sondern die „Verfemten (.), Menschen, die sich expropriiert fühlen, fertige Existenzen; ihrer Verlorenheit dünkt hier die Freistatt eröffnet“ (S. 66 f.). Dergestalt zeitigen sie „ungeformte Instinkte“, treiben „an die Oberfläche“ als „Begierden ohne Namen“, „entladen“ sich hemmungslos, nur um schließlich ohne „Zeitsinn“ – als „pathologischer Zustand“ – zu erschlaffen. Dem „zu entrinnen, vermag die Seele am allerwenigsten, denn sie ist arm an Bildkraft“, weshalb sie in „haltlosen Phantasien“ „vergeht“, „angegriffen durch den Sturm der unterweltlichen Meute und das Wallen der Triebe“ (S. 67).
Zurück in Berlin, findet man sich wieder in den „Berliner Arbeitsnachweisen“, nicht nur, „um der Lust des Reporters zu frönen“, vielmehr „um zu ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System unserer Gesellschaft einnehmen“. „Weder“, registriert Kracauer, „die verschiedenen Kommentare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlamentsdebatten geben darüber Auskunft“, weil sie „ideologisch gefärbt“ sind und damit „die Wirklichkeit“ zurechtrücken; „während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit selber gestellt ist“ (S. 72). Exemplarisch ist hier jene „dumpfe Ergebenheit in die Wechselfälle der Konjunktur“ (S. 75), von der das Bewusstsein des Arbeitslosen zehrt, nachdem dieser vom Produktionsprozess als „Abfallprodukt“ ausgeschieden wurde. Entsprechend kann der „ihnen angewiesene Raum (.) unter den herrschenden Umständen kaum ein anderes Aussehen als das einer Rumpelkammer haben“ (S. 74). Sinnfällig hierfür auch „das Warten im Arbeitsnachweis“, das „keine Erfüllung findet“. Die Existenz „starrt ins Leere, ohne vom Bewußtsein aufgenommen zu werden und seinen Platz zu erhalten“ (S. 81). Viele Erwerbslose enden „als Objekt der öffentlichen Wohltätigkeit“, für die selbst „das allgemeine Eigentum nicht allgemein genug [ist], um den Privatcharakter einzubüßen. Zum Überfluß sollen sie dieses Eigentum, von dessen regulärem Mitgenuß sie ohne ihre Schuld ausgeschlossen sind, noch hüten und schützen. (.) So hütet und schützt die Gesellschaft das Eigentum; sie umgibt es auch dort, wo seine Verteidigung gar nicht nötig wäre, mit sprachlichen Gräben und Wällen“ (S. 76 f.).
Damit setzen sich die (un-)sichtbaren Zwänge kapitalistischer Sozialität zu einem „lesbaren Muster“ zusammen, zumal die „bürgerliche Gesellschaft (.) nach Sicherungen über den Augenblick hinaus [trachtet] und (.) sich in einem System von Bahnen [bewegt]“ (S. 132), gleich der Jahrmarktsbude und dem Karussell, das „sausend ins Bodenlose“ fährt (S. 135). Dem hinzu gesellen sich kostümierte Gestalten, deren „rote Mündchen“ „halb geöffnet“ stehen, „kein Atem bewegt sie, das Lächeln ist auf ihnen liegen geblieben“ (S. 139). Auch Clowns wie Charles Rivel, die nicht „blank und von vornherein [improvisieren]“, sondern „einen Werkwillen vor[täuschen], den sie fortwährend desavouieren“ (S. 142), beanspruchen darin ihren Platz. Indem in ihrer Arbeit „das, was wir gemeinhin für die Hauptsache halten“ zur „Nebensache“ herabgesetzt wird, kehren sich „die herkömmlichen Weltverhältnisse“ um, „die gewohnte Ordnung wird bagatellisiert und die scheinbare Bagatelle in die Mitte gerückt“ (S. 143). Mit Melancholie und Komik „ruft er die Ahnung einer Wirklichkeit hervor, die mit der unsrigen nicht identisch ist“ (S. 147). Hier ähnelt die Maske des Clowns dem „Kindergesicht“ des in sich versunkenen, auf „unsichtbare Bilder“ starrenden Klavierspielers, der, während seine Hände „unausgesetzt“ auf einer beliebigen Partitur umherlaufen, „gelähmt“ der „Vergangenheit gegenüber[steht]“, mit der er nicht „fertig geworden ist“ (S. 150).
In einem Warenhaus trifft der Beobachter gar auf Heinrich Mann. Dort „vollzieht“ sich eine „kuriose Begegnung“ zwischen dem Dichter und „der Warenhausmenge“ (S. 187 f.). Während „ein beflissenes Mikrophon die ganze Rede verschluckt“, „rauscht und surrt der Vortrag wie ein Speisewagen. Das Publikum bemüht sich, die Schlagsahne lautlos zum Mund zu führen“ (S. 188). Wohl zeitgleich werden Manns Worte mit Radiowellen durch „den Äther gejagt“, „um eine unbegrenzte, unbekannte Zuhörerschaft zu behelligen“, was den Sinn der Vorlesung eskamotiert, die ausschließlich den Anwesenden zugedacht ist, in dieser Form also auf „nutzlose Spielerei“ herunterkommt. Als der Vortrag endlich aus ist, erfährt noch das Publikum, „daß der Dichter jedes gekaufte Exemplar seiner Romane auf Wunsch eigenhändig signieren wird“, worauf Kracauer nüchtern resümiert: „Das Dichten hat aufgehört, das Geschäftsleben nimmt seinen Lauf“ (S. 189).
Diskussion
In seinem heute noch lesenswerten Essay über Balzac aus dem Jahre 1908 spricht Hugo v. Hofmannsthal davon, dass die bürgerliche Welt, als „kompletteste und vielgliedrigste Halluzination, die je da war, (.) wie geladen [ist] mit Wahrheit. Ihre Körperhaftigkeit löst sich dem nachdenklichen Blick in ein Nebeneinander von unzähligen Kraftzentren auf, von Monaden, deren Wesen die intensivste, substantielle Wahrheit ist“. „Körperhafte Figuren“ gehen über in eine „vorübergehende Verkörperung einer namenlosen Kraft“, fügen sich in ein „unsichtbares Koordinatensystem“, woran er (Hugo v. Hofmannsthal) sich orientieren könne. Mit anderen Worten: Balzac versteht sich darauf, die Komposition der „menschlichen Komödie“ zu einer milieugeprägten Erfahrung zu verdichten, an die der Leser mithilfe seines eigenen Weltbezugs anknüpfen kann. Indem dort „die eingepreßte Gewalt (.) die lebende Materie vorwärtstreibt“, kann Subjektivität sich in den Erethismen der Geldgier und Geschäftemacherei wieder erkennen, wenn auch nicht in der Unmittelbarkeit, wie es erscheinen mag. Anders als der tragische Ernst des Romanciers, gießen die Beobachtungen Kracauers hingegen kein „Feuer in unsere Adern“ (erneut v. Hofmannsthal), sondern beherbergen etwas „furchtbar Ruhiges, Leidenschaftsloses“, eine unbestimmte „Fatalität der Resignation“ (Stanisław Przybyszewski). Mehr als bloß „Reportage“, ein „Verfahren der distanzierten Betrachtung“, das „sammelt und registriert“ (so Reimar Klein im Nachwort, S. 256 f.), vertiefen sie sich zu melancholischen Fatiguen, die auf der Grenze einer verborgenen Erinnerung existieren. Ganz dicht finden sich Kracauers Einlassungen am Rande des Erinnerns wieder, ohne des Vergangenen und Verdrängten selbst habhaft werden zu können.
Davon zeugen auch jene „merkwürdige[n] Schreie“, die sich dadurch auszeichnen, „daß man nie ihren Grund erfährt“ (S. 31). Nicht von ungefähr kommt einem dabei E. A. Poes „The Man of the Crowd“ in den Sinn. Bekanntlich heftet sich darin der erzählende Protagonist an die Versen eines Mannes aus der Masse, lauert ihm auf, um zu erfahren, welches Ziel er anläuft. Nachdem dieser, ohne einen Laut von sich zu geben, unschlüssig und verdrießlich, Laden um Laden betritt, nur um am Ende wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, erfährt man nichts und doch alles über diesen Menschen. Unbemerkt sind nicht Stunden, sondern Tage vergangen. Insofern sich Wegläufe dieser Art bei Kracauer finden, hinterlassen sie hingegen Gedächtnisspuren. Worte werden buchstäblich zu „Gedächtnishilfen, die sich betasten lassen“ (S. 36). Weil das Bewusstsein der Passanten, Staffagefigürchen gleich, sich durch Warenbeschau nur weiter verkürzt, „prägen“ sich „Reklamen“ ein, „ohne sich entziffern zu lassen“ (S. 19). Selten auch ist ein Schnabulieren zu vernehmen. „Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen“ (S. 39) und darin verwandt mit ihren Betrachtern. Weniger „scheu“ als vielmehr zum „Zeitvertreib“ aufgelegt, vermögen die Berliner Gestalten es kaum, das auf ihrem „Nacken beißende Vampirgesicht“ (Przybyszewski) mit seinem „Heißhunger nach Mehrwert“ (Marx) zu erhaschen, währenddessen „die Damen quietschen und sich hinterher alles in Wohlgefallen auflöst“ (S. 40). Darüber verdrängter Schmerz bleibt allerdings nicht im „verborgenen Innern“, sondern materialisiert sich „mitten auf der Straße“. Dort wird „das Unbeachtete, Unscheinbare gesammelt und verwandelt, bis es zu scheinen beginnt, für jeden ein Trost“ (S. 50). „Lebensgier“ (S. 49), die sich hier allenfalls in kapitalistischen Bahnungen kanalisiert, verweist jedoch auf jene „radikale Bedürfnisse zurück, die im Bereich dieser Gesellschaft nicht befriedigt werden können“ (Agnes Heller), wenngleich sie bei Kracauer verlaufen zu einem „anarchische[n] Gemisch der Passanten und Bettler“, „unfähig dazu, sich selber zu einer Gesellschaft zu organisieren“ (S. 52). Abgeschattet wird die durch Klassengesellschaft bedingte Bedürfnisstruktur soweit, dass diese sich vom Bewusstsein kaum mehr spontan temperieren lässt.
Demgegenüber sind auch zahlreiche Plätze und Gebäudegruppen bloß „Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen“; das Stadtbild behauptet sich „bewußtlos“. „Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit“ (S. 53). Damit verliert sich jene äußerliche „Naivität“, von der Diderot in seiner Ästhetik noch behaupten konnte, diese grenze in ihrer „Einfachheit“ „an das Erhabene“, an „Unschuld, Wahrheit und Ursprünglichkeit einer glücklichen Jugend, die keinem Zwang unterliegt“. Das Glück der Jugend sucht man auf den Straßen Berlins vergeblich. Scheint’s verblichen, werden stattdessen Reminiszenzen geknüpft an Marcel Schwobs bemerkenswertes und heute kaum mehr beachtetes „Buch der Monelle“. Das Ich soll sich dort gehen lassen „mit dem Zufall des Augenblickes“. Nicht zu kümmern hat es sich „um vergangene Dinge. Gib dich nicht damit ab, schöne Särge für die vergangenen Augenblicke zu machen: denke daran, die Augenblicke zu töten, die kommen“. Derlei Anweisungen prägen auch das Bewusstsein der Passanten. Durch den Verlust der Erinnerung an den vergangenen Augenblick, der im Hier und Jetzt des vollzogenen Warenkonsums das Unmittelbare vernichtet, verliert sich die Sinnlichkeit für das, was einst gewesen ist, wodurch sich das eigentlich zu Vergegenwärtigende in die Zukunft schicksalhaft abrollt. Sind auch etwaige „Formen“ „aus Trümmern gemacht“ (Schwob), die sich geschichtlich weiter auftürmen, und damit sichtbarer werden, gerinnt der „zu Ereignisketten stilisierte alltägliche Konsum“ zur Form „der Einübung in die Katastrophe“ (Klaus Heinrich), was Kracauer subtil andeutet: „Denn die Wut lauert hinter den Formen, berserkerhaft sticht sie ins Leere“ (S. 64).
Widerstandslos sich der Wut und damit dem Unheil zu überantworten ist nur möglich, weil die Räume von der bürgerlichen Sozialität so konstruiert sind, dass ihr eigentlicher Konstitutionszusammenhang dem Bewusstsein unerkannt bleibt. In den Räumen der „Arbeitsnachweise“ entledigt sich der Hilfesuchende seinem Wahrnehmungsvermögen für Einspruch und Widerstand und gibt den Schalmeien der bürokratischen Arbeitslosenverwaltung nach, ohne freilich seinen inneren und äußeren Frieden mit den Verhältnissen machen zu können. „Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete“, so Kracauer, „alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar“ (S. 72 f.). Die Räumlichkeiten, in denen die Arbeitslosen „sinnlose Zeit zu vertreiben“ versuchen (S. 78), trennen das Bewusstsein vom Kapitalverhältnis, das ihm die Exploitation antut, nur um es fester an jene „primitive Gerechtigkeit“ (s.o.) zu binden. Wie das Arbeitsprodukt, wird das karge Interieur zu einer „gesellschaftlichen Hieroglyphe“, jener Warenform gleich, deren Geheimnis nach Marx darin besteht, „daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen“. Kracauer sistiert seine Einlassungen im klassenhistorischen Prozess, indem er aufzeigt, wie die „Spielereien des Unglücks“ in den Arbeitsnachweisen letztlich auf „dingliche Beziehungen“ verweisen, ein „bestimmte[s] gesellschaftliche[s] Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“ (Marx). Dem Unglück anverwandeln sich diese Spielereien, „weil die hier zum Schicksal emporsteigende Not“ – ein (geschichtliches) „Schicksal“ nur zum Schein, aber darum nicht weniger drückend – „den Durchbruch des Glücks verwehrt“ (S. 78), was das Bewusstsein derangiert, den „jugendlichen Erwerbslosen dagegen“ einen „Giftstoff“ einimpft, „der sie langsam durchdringt“ (S. 78), und von dessen gesellschaftlich vermittelte, biochemische Zusammensetzung sie nicht weiter Kenntnis nehmen mögen. Schließlich gehört zum elenden Wartezustand als Revers, dass die Wut unmittelbar sich äußern will, nicht durch anderes, was sie dämpfen könnte, behelligt wird. Am Ende wird sie, in den Konzentrationslagern und anderswo, den kalten Zynismus eines Fabrikanten aus den 1830er Jahren reproduzieren, der auf den revolutionären Unmut des Ausgebeuteten mit der Feststellung reüssiert: „Wenn sie kein Brot im Bauch haben, so wollen wir ihnen Bajonette hineinstecken“.
Am Personalverhalten in einem kleinen Berliner Café macht sich hingegen jener „Geilwuchs kapitalistischer Elemente“ (Helmut Bock) geltend, der dieser Inhumanität den Weg zu ebnen verspricht. Die „Intentionalität des Bewußtseins ohne Gegenstand“ (Blumenberg) trifft dort eine Höflichkeit als äußere „Dreingabe“, auf die keiner mehr rechnen darf, weshalb diese als administrative Anweisung auf den hauseigenen Getränkekarten firmiert: „Das Personal ist streng angewiesen, jeden Gast zufriedenzustellen“ (S. 189). Nicht nur, dass der kapitalistische Parvenü seinen Angestellten nicht mehr „ein richtiges“ (d.h. kundenorientiertes) „Benehmen“ zutraut; dieser spricht ihnen zugleich das „Menschsein“ ab (S. 190), indem die „Rationalisierung“ selbst noch den Gesichtsausdruck zu schleifen beabsichtigt, der nun nichts mehr verraten soll vom gesellschaftlich bedingten Ausbeutungsprozess. Die aufgesetzte Gefälligkeit korrespondiert schließlich derart dem „pandemischen Servicelächeln“ des „Professional Smile“ (Foster Wallace), dass sich die Erinnerung daran nicht mehr zwischen den Alltagsgedanken des schalen Vergnügens drängen kann. Bereits Karl Phillipp Moritz hatte dies in seiner „Erfahrungsseelenkunde“ visiert: „Daß das Gepräge der Seele von dem Gesichte des Menschen schon früh verwischt wird, daß sein Ton und seine Mienen schon so früh die selige Übereinstimmung mit Gedank’ und Empfindung verlernen: das ist die Frucht (.) der auswendig gelernten Verbeugungen, lächelnder Blicke, künstlichen Wendungen in den unbedeutendsten Ausdrücken der Höflichkeit“. Da sich allerdings letztere auch „auf Kommando nicht einstellt“ (S. 190), fällt es schwer, an der „entschwundene[n] Fröhlichkeit festzuhalten“ (S. 88), zumal das selbstverständliche Verhalten sich nicht direkt einstellen will. Damit stellt sich das Café-Personal den „zahllose[n] Glücksucher[n]“ bei, die „sich immer noch als Individuen fortbehaupten möchten, obwohl sie längst eine proletarisierte Masse bilden“ (S. 92). Hier schließt Kracauers Subtilität an die „Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende“ (K. P. Moritz) an, einer „Menschenbeobachtung“, die in der „Nebeneinanderstellung des Successiven“ hinter den Myriaden der „Gesinnungstüchtigkeit“ (S. 192) ihren Vergesellschaftungszusammenhang perspektiviert.
Letztlich steht all dies auf der Schwelle zum Autoritären, das sich der Bewusstlosigkeit des Menschen politisch bemächtigt. Kurze Zeit später schon scheinen viele in ihren erstarrten Gesichtszügen festgefahren und verkeilt zu sein, weiterhin sich anklammernd an Bekanntes und Bewährtes, das ihnen unter ihren Händen entwischt. Die profanierte Perversion des Gleichschritts, die zur Ordnung aufruft und sich damit brüstet, dem Proletariat als revolutionäres Subjekt den Garaus gemacht zu haben, setzt sich an die Spitze des schlechthin Ungeschichtlichen: Kritik wird als zersetzende angeschwärzt. Nicht länger bleibt das Lächeln auf den Mündern liegen (s.o.); es verzerrt sich zur denunzierenden Fratze, die Mundwinkel zum Bersten gespreizt.
Fazit
Die Bedeutung von Kracauers „Straßen“ einzuordnen hilft auch ein Blick auf Franz Hessel, der zur selben Zeit, im selben Publikationsorgan (Frankfurter Zeitung, aber auch Berliner Tageblatt), über den gleichen Ort (Berlin) schrieb. Indem Hessel sehr viel näher am Zeitgeist entlang schreitet, gar ins Urteil seiner Zeitgenossen einnickt, vermögen seine Beschreibungen es nicht, an den Fassaden haften zu bleiben, um sich ihrer Historizität und Widersprüche zu gewahren. Entsprechend unbestimmt und zufällig greifen sie in die Räumlichkeiten der Berliner Verhältnisse, hinterlassen innerhalb von Fülle und Dichtheit erzählperspektivische Leere. Wenn auch die erinnernde Tiefenschärfe eines Walter Benjamin mancherorts fehlt, einen derartigen feuilletonistischen Positivismus sucht man bei Kracauer vergebens. Feinsinnig und ohne jede Invektive umspielt er die Einsicht, dass die Worte mehr wissen, als wir ihnen im Moment ihres Ausdrucks zuerkennen. So wird ihre Geschichte aufgelesen, deren Erinnerungsstücke ins Unbewusste retirieren, um dort im Alltagsbewusstsein unerkannt, aber wirkmächtig, fortzuleben. Statt im unreflektierten Bündnis mit der Erfahrung von Verdrängung zu leben, findet sich in Kracauers Werk behutsam eingewoben eine gesellschaftlich vermittelte Brüchigkeit, die stellvertretend für das falsche Ganze einsteht. Damit exponiert er seine Gedanken gegen die „Ausblendung des Wahrnehmungsvermögens für Einspruch und Widerstand, die dem Prozeß der Verdrängung das gute Gewissen“ verleiht (Klaus Heinrich).
Trotz „Nüchternheit“ und fehlenden „Antithesen“ (S. 255), die an die Zurückhaltung Schillers gemahnen, „dem Ewigblinden“ des „Lichtes Himmelfackel“ nicht zu „leihn“, weil er mit ihr nur „Städt und Länder“ „einäschern“ würde, lassen die Stücke Kracauers den Leser alles andere als „ratlos“ zurück (S. 252). Vielmehr oszillieren sie inmitten der einsehbaren Spannung einer bürgerlichen Gesellschaft, in deren Struktur sich Mündigkeit und Autonomie nicht ins Recht zu setzen vermögen, solange die „Selbstentmachtung der Vernunft“ (Blumenberg) durch die Antinomien von Kapital und Arbeit fortexistiert. Unbedingt gehört Kracauer darum zum kritischen Kanon derer, die, mit Alexander Kluge gesprochen, jene unerzählte Wirklichkeit auf ihre Erzählbarkeit zu überprüfen verstehen. In diesem Sinne wird eine gesellschaftskritische Verbindlichkeit geschaffen, die zur geschichtlichen Selbsterfassung kapitalistischer Subjektivität anregt, womit jenes „Ungenannte“, das uns „nach seinem Gefallen“ „schwenkt“, während „die Zeiger sich drehen“ (S. 103), schlaglichtartig als repressiv verinnerte Totalität vergegenwärtigt wird.
Rezension von
Dr. phil. Kevin-Rick Doß
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