Thomas Köhler: Freuds Psychoanalyse
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 01.12.2020

Thomas Köhler: Freuds Psychoanalyse. Eine Einführung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2020.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2946-1.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema
Die vorliegende Publikation erscheint als 3. Auflage einer zuvor bei Kohlhammer erschienen Einführung in die zentralen theoretischen Modelle und Themenbereiche der Psychoanalyse, so wie sie von deren Gründer Siegmund Freud entwickelt wurden. „So entsteht ein Überblick über Freuds Psychoanalyse ohne spätere Verwässerungen“ (Klappentext), d.h. die spätere Weiterentwicklung in Theorie und Behandlungspraxis wird in diesem Einführungsband nicht aufgegriffen.
Autor
Thomas Köhler, Prof. Dr. med., Dr. phil. ist als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor an der Universität Hamburg tätig. Er lehrt an verschiedenen Ausbildungsinstituten und hatte mehrere Vertretungsprofessuren inne, zuletzt für die Klinische Psychologie an der Universität der Bundeswehr Hamburg.
Aufbau und Inhalt
Die Monografie gibt einführend einen
- Überblick zum biografischen und wissenschaftlichen Hintergrund Freuds,
sowie ausführliche Einblicke in
- die Theorie des Unbewussten und die Verdrängungslehre
- Die Trieblehre und Sexualtheorie
- In den nicht-klinischen Anwendungsbereich der Psychoanalyse und
- In die Klinische Theorie und Psychotherapie.
Leben und Werk
Auf gerade einmal 20 Seiten gibt Köhler einen Überblick auf die wichtigsten Etappen Freuds Biografie und seine wissenschaftlichen Stationen. Benannt wird die Situation einer weitgehend liberalen jüdischen Familie, der Schulbesuch in Wien und die dortige Aufnahme des Medizinstudiums und des Doktorats. Frühzeitig hat sich, so stellt Köhler dar, das Interesse des Medizinstudenten Freud für philosophische und kulturwissenschaftliche Themen gezeigt – Aspekte die später im Gebäude der Psychoanalyse ihren Platz fanden. Ebenfalls knapp sind die Hinweise zur praktischen Ausbildung an verschiedenen Krankenhäusern mit Schwerpunkten in Psychiatrie, Neurologie und Neuropathologie mit Stationen u.a. an der Pariser Salpetrière, die Heirat mit Martha Bernays und die Niederlassung in eigener Praxis in Wien, mit zunächst deutlich neurologischem Schwerpunkt. Die weiteren Stationen des wissenschaftlichen Werks, von den frühen Texten zu den „Abwehr-Neuropsychosen“, den „Studien über Hysterie“ und die Entwicklung therapeutischer Techniken (Hypnose, freie Assoziation), die „Abhandlungen zur Sexualtheorie“ und dem umfangreichen Werk allgemein-psychologischer und biologischer Grundlagen der Psychoanalyse, sowie deren Differenzierungen (etwa die Ausführungen zur Triebsystematik oder die Todestriebtheorie) werden im Überblick dargestellt, wobei zentrale wissenschaftliche Bezugspunkte und -personen und einige Lebensstationen aufgegriffen werden.
Unbewusstes und Verdrängung
Aufgezeigt werden die Konzepte des Unbewussten und die Verdrängungslehre, die im wissenschaftlichen Schaffen Freuds bereits in der Ende 1899 erschienen „Traumdeutung“ angelegt war und in den Folgejahren weiterentwickelt wurden. Aufbauend auf den Arbeiten zur Traumlehre stehlt Köhler dann die Entwicklung der Systeme „Unbewusst“ und „Vorbewusst“ (als Erstes topisches Modell) dar, die er in den Abhandlungen zur Traumlehre angelegt und verankert sieht (entsprechend auch anhand von Literaturstellen belegt). Als zentrale psychische Regulationsvorgänge beschreibt Köhler dann die Phänomene Widerstand und Verdrängung und die im Unbewussten und Vorbewussten angesiedelten Vorgänge des Lustprinzips und Realitätsprinzips als Ausgangspunkt psychodynamischer Prozesse, welche wiederum durch zahlreiche Literaturstellen belegt werden. Im Kapitel folgt dann die Beschreibung des bekannten Drei-Instanzen-Modells des seelischen Apparats (Es, Ich und Über-Ich), dessen Struktur und Dynamik, sowie Ausführungen zur metapsychologischen Beschreibung der Traumbildung.
Trieblehre und Sexualtheorie
Der Abschnitt beschreibt die allgemeinen Grundlagen der Thematik in den Schriften Freuds und dessen Triebbegriff, die Triebmodelle im Bezug zu ihrer Entstehungsgeschichte (vom ersten, über das zweite zum dritten Triebmodell) und Ausführungen zur Entwicklung der Sexualfunktion (Fortpflanzung, körperlicher und psychischer Lustgewinn) mit Bezug zu den breit rezipierten Entwicklungsstadien (etwa phallische Phase, ödipale Phase).
Nicht-klinische Anwendungen der Psychoanalyse
In vier Unterabschnitten erfolgt eine Einführung in die allgemeinen Grundlagen, insbesondere eine Hinführung an das Deutungspotenzial der Psychoanalyse hinsichtlich kultureller und gesellschaftlicher Phänomene, welche im Kontext zentraler Schriften Freuds (z.B. zur Sexualtheorie, Funktion des Unbewussten, Traumgeschehen) und religiöser Fragestellungen dargestellt werden. Darauf aufbauend geht Köhler auf Freuds Kulturtheorie (v.a. bezogen auf die Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ ), das für den kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich zentrale Werk „Totem und Tabu“ und Freuds Thesen zur Entstehung der Religion ein.
Klinische Theorie und Psychotherapie
Die Psychoanalyse nahm ihren Anfang in Bezug auf klinische Fragestellungen, insbesondere in Bezug auf die Entstehung neurotischer Störungen und darauf abzielende Behandlungsstrategien. Der Entwicklungsweg in Freuds Denken und den entsprechenden Schriften zur psychoanalytischen Behandlung wird anhand der Stationen „frühe Neurosenlehre und die Verführungstheorie“, die Abkehr davon und Hinwendung zur Verdrängungstheorie und schließlich die spätere Neurosenkonzeption (Abwehr-Neuropsychosen und Aktualneurosen) nachgezeichnet. Das umfassende Werk Freuds zur Psychotherapie wird auf knapp 13 Seiten im letzten Abschnitt dargestellt, Schwerpunkte setzt Köhler beim Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen, dem Ansatz des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens, dem Umgang mit Widerständen und die therapeutische Grundhaltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“.
Zielgruppe des Buches
LeserInnen die eine kompakte Einführung in das Werk Siegmund Freuds suchen, dabei Wert auf konkrete Original-Literaturstellen legen.
Diskussion
Wer eine Einführung in die Grundlagen der Psychoanalyse sucht, kann bei dessen Begründer Siegmund Freud selbst nachlesen, in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in den „Abhandlungen zur Sexualtheorie“, in der „Psychologie des Unbewußten“, in „Jenseits des Lustprinzips“, oder in „Totem und Tabu“, „Das Unbehagen in der Kultur“ und, und, und. Wer jedoch eine eng am Werk orientierte und kompetent kommentierte und erklärende Einführung sucht, ist mit Köhlers Einführung in „Freuds Psychoanalyse“ gut beraten, erspart man sich damit ein mühevolles Suchen, Einordnen und Verstehen im Kontext der jeweiligen Schaffensphase des Begründers der Psychoanalyse. Auf 160 Seiten bietet der Autor eine knappe, eng am Werk orientierte, dabei umfassende und mit zahlreichen Literaturstellen belegte Übersicht und Einführung, die es auch schafft den Zusammenhang im komplexen Theoriegebäude der Psychoanalyse nachzuvollziehen. Was der Band nicht bietet sind Hinweise auf die über 100jährige Rezeptions- und (Weiter-)Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse, keine Hinweise auf die (doch recht erhebliche und nachhaltige) Kritik am Schaffen Freuds, die Notwendigkeit einer Anpassung der Theorie auf den Ebenen Krankheitsverstehen und Therapie. Auch dazu wäre, durchaus im Kontext des Buchtitels („Freuds Psychoanalyse“) stehend ein (vielleicht weiterführendes und abschließendes) Kapitel angemessen, das die Diskussions- und Entwicklungsstränge aufzeigt, einordnet und kommentiert. Damit bleibt es den LeserInnen dieser Einführung nicht erspart, selbst auf die Suche nach den Kritikpunkten an „Freuds Psychoanalyse“ zu gehen, etwa seinen Aussagen und Ansätzen zum Todestrieb, die enge Rahmung in der klassischen Triebtheorie, den Ausführungen zum sexuellen Missbrauch (als ödipal gefärbte Wunschphantasien) oder zum sog. „Penisneid“. Auch finden sich in der Einführung keine Hinweise zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Psychoanalyse, die von Freud selbst formuliert wurden, in denen er z.B. Überlegungen zur Adaption psychoanalytischer Behandlungstechnik für breite Bevölkerungsgruppen im Sinn einer Sozialtherapie zur Resilienzförderung und Prävention antizipierte und damit die Frage nach gesellschaftlichen Behandlungsbedingungen (weg von der Therapie für Einzelne, hin zu einer Psychotherapie für benachteiligte Bevölkerungsgruppen) formuliert hat: „Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. … Dann werden also Anstalten … errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungsfähig zu erhalten“ (Freud 1947, 192f).
Fazit
Thomas Köhler erschließt kompakt und strukturiert einen Zugang zu Leben und Werk Sigmund Freuds, wie er sich sonst nur über das ausgiebige Studium der Originaltexte erschließt. Die zentralen Elemente psychoanalytischer Theorie und Behandlung werden in Ausschnitten zum Unbewussten, der Verdrängung, der Rolle von Kindheit und Sexualität, zur therapeutischen Haltung und der Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung bis hin zu Analysen zur Entstehung von Kultur, Gesellschaft und Religion erschlossen. In konsequent enger Verzahnung mit den Quellentexten eine sehr gelungene Einführung in „Freuds Psychoanalyse“.
Literatur
Freud, S. (1947). Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Zwölfter Band. Werke aus den Jahren 1917–1920. Herausgegeben von Anna Freud.
Frankfurt: S. Fischer
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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