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Manfred Pretis: Frühförderung und Frühe Hilfen

Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 08.12.2020

Cover Manfred Pretis: Frühförderung und Frühe Hilfen ISBN 978-3-497-02945-7

Manfred Pretis: Frühförderung und Frühe Hilfen. Einführung in Theorie und Praxis. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2020. 253 Seiten. ISBN 978-3-497-02945-7. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär - 21.

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Thema

Die Fachkräfte in Frühförderung und Frühen Hilfen unterstützen Klein- und Vorschulkinder mit Entwicklungsschwierigkeiten sowie deren Eltern bzw. Familiensysteme. Dabei kommt es besonders darauf an, selbstorganisatorische Entwicklungs- und Reifungsprozesse anzuerkennen sowie die besondere Beeinflussbarkeit in den ersten Lebensjahren zu nutzen. Der Autor bündelt überblicksartig die wichtigsten Informationen zu Konzepten, Arbeitsprinzipien, methodischem Vorgehen und deren Effizienz.

Autor

Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe, lehrt Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst neun inhaltliche Kapitel.

Im einführenden Kapitel definiert Manfred Pretis die beiden Systeme Frühförderung und Frühe Hilfen, beschreibt die historischen Wurzeln und die sich verändernden Modelle. Er blickt über den deutschsprachigen Tellerrand und vergleicht unser System mit dem Verständnis in anderen europäischen Ländern.

Im zweiten Kapitel erläutert er ausführlich Arbeitsprinzipien und Schlüsselkonzepte früher Unterstützungssysteme (Menschenbildannahmen, Früh- bzw. Rechtzeitigkeit, Familienorientierung, Ganzheitlichkeit, Ressourcenorientierung, Inter- bzw. Transdisziplinarität). Eine besondere Rolle weist er der Früh- und Rechtzeitigkeit zu und betont die Bedeutung der ersten 1000 Tage eines Lebens, wobei die Zeit der vorgeburtlichen Entwicklung eingeschlossen ist. Als Alleinstellungsmerkmal benennt er die Kombination dieser Merkmale mit dem Fokus auf Früh- und Rechtzeitigkeit.

Methoden früher Fördermaßnahmen und deren Effizienz sind das Thema des dritten Kapitels. Es werden lerntheoretische, kognitive (verstehensorientierte) Ansätze, Selbstwirksamkeitsansätze, spieltheoretische, übungstheoretische und systemische Ansätze sowie Enabling environment (förderliche Umwelt) und Basale Stimulation in ihrer Bedeutung und Umsetzung in den Fördermaßnahmen diskutiert und ihre evidenzbasierte Wirksamkeit hinterfragt. Pretis geht auch kurz auf wissenschaftlich wenig anerkannte Verfahren ein.

Ausführlich geht Pretis auf Fragen der Effektivität und Effizienz früher Fördermaßnahmen ein. Er betont, dass Frühfördermaßnahmen Wirkungen zeigen. Die Zusammenhänge sind jedoch komplex und von vielen nur für den Einzelfall gültigen Faktoren abhängig, sodass empirische Forschung sehr erschwert ist. Er stellt ein Einzelfalldesign dar, mit dem jede einzelne Fachkraft ergebnisorientiert arbeiten sollte, und regt an, Therapiepausen für die Wirksamkeitseinschätzung zu nutzen.

Im nächsten Kapitel werden die einzelnen Schritte des Förderprozesses (vom Erstkontakt über Offene Beratung und Eingangsdiagnostik bis zum Förderprozess und dem Übergang zu weiterführenden Angeboten) in Tabellenform aufgeschlüsselt und auch Qualitätskriterien benannt.

Im 5. Kapitel geht es um die ICF. Nach einer Einführung wird beschrieben, wie sie verwendet werden kann (soll) und wie man über das Bewerten von Beobachtungen zur Einschätzung des Hilfebedarfs kommt. Die einzelnen Teile sind aufgeschlüsselt in Teile für Fachkräfte und Teile, wie Eltern das Vorgehen erklärt werden kann. Pretis macht deutlich, dass ICF die historische Trennung zwischen Frühen Hilfen (Umwelt als Barrieren) und Frühförderung (biologisch bedingte Teilhabeeinschränkungen) auflösen kann.

Das 6. Kapitel fragt, inwieweit Frühförderung inklusiv ist. Streng genommen fördert Frühförderung die Integration, nicht die Inklusion. Der Autor beschreibt die paradoxe Gradwanderung zwischen Stigmatisierung und Anspruchsberechtigung. Er geht intensiv auf den Aspekt der Teilhabe ein und bespricht die Unterschiede zwischen Inklusion und Integration und erarbeitet am Konzept „Nurturing Care“ konkrete Teilhabeziele.

Das 7. Kapitel („Organisationsformen“) verortet die Dienstleistung für das Kind als Nutznießer im Dreieck Antragsteller (Eltern), Kostenträger und Leistungserbringer. Pretis kritisiert die Aufteilung in Kinder, für die die Jugendhilfe und Kinder, für die die Behindertenhilfe zuständig ist und favorisiert eine „Große Lösung“. Es werde Behandlung vor Prävention gesetzt. Pretis befürwortet eine größere Outcome-Steuerung, erreichbar u.a. durch die Formulierung von Smartzielen, und beschreibt deren Verhältnis zu Teilhabezielen.

Im 8. Kapitel werden Kinder psychisch kranker Eltern als neue verletzliche Gruppe behandelt. Es werden die Zielgruppe und mögliche Teilhabeeinschränkungen beschrieben. Die Herausforderungen für die Fachkräfte werden deutlich dargestellt und der Frage nachgegangen, was Frühförderung und frühe Hilfen leisten können. Es kommen aber auch die Ressourcen nicht zu kurz.

Das abschließende 9. Kapitel diskutiert als Ausblick Nutzen, Gefahren und Grenzen von Informations- und Kommunikationstechnologie.

Jedes Kapitel endet mit Checklisten zur Reflexion des eigenen Arbeitsbereiches.

Diskussion

Das Buch soll in Theorie und Praxis der Frühen Hilfen und der interdisziplinären Frühförderung einführen.

Interessant ist das unterschiedliche Verständnis von Frühförderung in unterschiedlichen Ländern. In Kapitel 2 wird herausgestellt, dass wichtige Begrifflichkeiten und Arbeitsprinzipien eindeutig, evidenz- und ergebnisorientiert sein sollten; so wird anschaulich Familienorientierung in Zeiten herausgearbeitet, in denen Kinder überwiegend in Tagesstätten betreut werden. Hilfreich ist auch die kritische Diskussion der Prinzipien, die nicht mehr Alleinstellungsmerkmal der Frühförderung sind, die mittlerweile „verwässert“ sind.

Großen Wert legt Pretis auf den Nachweis der Wirksamkeit. Empirische Untersuchungen stützen sich oft auf amerikanische Untersuchungen. Dort wird aber eher programmorientiert gearbeitet. Der Nachweis ist bei uns schwieriger, da jede Maßnahme maßgeschneidert für Kind und Familie sein sollen. Neben wissenschaftlichen Fragen sind immer auch organisatorische und ethische Fragen relevant. Pretis empfiehlt die Nutzung von Therapiepausen, aber auch diese müssen wohldosiert mit Eltern abgestimmt werden.

Kontrovers wird auch das Thema des Endes nach einer kurzen Therapie diskutiert, wenn die Ziele erreicht sind. Therapien enden bei Frühen Hilfen oft, weil Eltern zu große Kontrolle fürchten, bei Frühförderung braucht es sehr kompetente Eltern, die nach Erreichen des Förderziels die Frühförderung beenden; sie sind eher besorgt, dass das Kind zu wenig Förderung bekommt. Und auch Kostenträger sorgen sich vereinzelt, wenn genehmigte Behandlungseinheiten nicht ausgeschöpft werden.

Ein wichtiges Werkzeug stellt die ICF dar. Sie liefert keine Diagnosen, dazu gibt es andere Instrumente, aber sie ist ein Beschreibungsinstrument aus bio-psycho-sozialer Sicht für Teilhabe und Teilhabeeinschränkungen. Der Nutzen der ICF und die Arbeit, mit ihr wird ausführlich und anschaulich dargestellt.

Die Strukturiertheit (und damit die Qualität als Arbeitsbuch) wird auch veranschaulicht durch 60 (zum Teil sehr umfangreichen) Tabellen und 20 Abbildungen. Merk- und Nachdenkenswertes wird auch durch Kästen mit Ausrufezeichen besonders herausgestellt.

Insgesamt sehe ich das Buch als Grundlagenwerk für Fachkräfte, das auch als Einführung für Studierende dienen kann.

Zielgruppen

Dieses Buch richtet sich an PädagogInnen, SozialarbeiterInnen und andere Fachkräfte in Frühförderung und Frühen Hilfen sowie Studierende der entsprechenden Fächer

Fazit

Das Buch führt in Theorie und Praxis ein. Deshalb kann es sowohl von Studierenden wie von Fachkräften mit Gewinn gelesen werden.

Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 185 Rezensionen von Lothar Unzner.

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Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 08.12.2020 zu: Manfred Pretis: Frühförderung und Frühe Hilfen. Einführung in Theorie und Praxis. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2020. ISBN 978-3-497-02945-7. Reihe: Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär - 21. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26917.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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