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Frank Rehmet, Neelke Wagner et al.: Volksabstimmungen in Europa

Rezensiert von Dr. phil. Alexander Akel, Lukas Kiepe, 02.06.2020

Cover Frank Rehmet, Neelke Wagner et al.: Volksabstimmungen in Europa ISBN 978-3-8474-2275-4

Frank Rehmet, Neelke Wagner, Tim Willy Weber: Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. 202 Seiten. ISBN 978-3-8474-2275-4. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.

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Thema

Von Albanien bis Zypern: Die Monografie informiert über die Praxis direkter Demokratie in 43 Staaten Europas. Untersucht wurden 1.050 landesweit durchgeführte und verbindliche Volksabstimmungen, von denen die BürgerInnen 931 selbst initiierten. Damit schließen Rehmet et al. an die zuletzt intensivierte direkte Demokratieforschung an und positionieren sich als BefürworterInnen von direkter Demokratie in der deutschen Politikwissenschaft, welche einen kritischen Blick auf diesen Forschungszweig einnimmt.

Entstehungshintergrund und AutorInnen

Das Buch ist im Umfeld des überparteilichen Verbandes Mehr Demokratie e.V. entstanden, dessen Name Programm ist: Mit knapp 10.000 Mitgliedern setzt sich der gemeinnützige Verein seit 1988 für Volksabstimmungen auf Bundesebene und für den Ausbau direktdemokratischer Verfahren in Kommunen, Bundesländern und der Europäischen Union ein. Zu den AutorInnen:

Frank Rehmet ist Diplom-Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Mehr Demokratie e.V.

Neelke Wagner ist Diplom-Politikwissenschaftlerin und derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei einem Bundestagsabgeordneten tätig. Zuvor war sie Redakteurin des mdmagazins bei Mehr Demokratie e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Energie und Demokratie.

Tim Willy Weber ist diplomierter Politikwissenschaftler und Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. Seit 1992 arbeitet er sowohl theoretisch als auch praktisch im Bereich der Demokratieentwicklung. Seine Forschungsschwerpunkte sind direktdemokratische Verfahren und deren Praxis in Deutschland.

Aufbau

Die Monografie besteht aus vier Kapiteln:

  1. Im ersten Kapitel (Einleitung) werden die direktdemokratischen Verfahren sowie deren Merkmale konzeptionell geklärt (Kapitel 1.2), aus demokratietheoretischer Sicht Qualitätsmerkmale für Volksabstimmungen aufgestellt (Kapitel 1.3) und die zentralen Begriffe in einem Glossar zusammengeführt (Kapitel 1.4).
  2. Das zweite Kapitel bietet eine Übersicht über die Regelungen (Kapitel 2.1) und die Praxis (Kapitel 2.2) von verbindlichen Volksabstimmungen in den 43 untersuchten europäischen Staaten. In Kapitel 2.3 werden die 28 Staaten mit direktdemokratischen Verfahren im engeren Sinne in vier von sieben Gruppen gegliedert.
  3. Die rechtlichen Rahmenbedingungen einerseits und die politische Praxis andererseits in den sieben Ländergruppen werden im dritten Kapitel vorgestellt (Kapitel 3.1-3.7).
  4. Das vierte Kapitel fasst die zentralen Ergebnisse des Forschungsberichts mit Best-Practice- und Worst-Practice-Beispielen der verbindlichen Volksabstimmungen in Europa zusammen (Kapitel 4.1). Darüber hinaus zeigen die AutorInnen in ihren Schlussfolgerungen, welche Verfahrenselemente für eine gute Verfahrenspraxis erforderlich sind (Kapitel 4.2). Der letzte Abschnitt gibt einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen rund um die Praxis von direkter Demokratie in Europa (Kapitel 4.3).

Inhalt

Analog zum Aufbau des Bandes verfolgen Rehmet et al. drei übergeordnete Ziele: Erstens wollen sie auf der theoretisch-konzeptionellen Ebene politikwissenschaftliche Begriffe definieren, um wesentliche Varianten von Volksabstimmungen intersubjektiv nachvollziehbar zu bestimmen. Auf der empirischen Ebene wollen die AutorInnen zweitens Daten zu Volksabstimmungen verständlich darstellen und einordnen. Auf der normativen Ebene wollen sie drittens aus der direktdemokratischen Praxis in 28 europäischen Ländern demokratietheoretisch gehaltvolle Handlungsanweisungen ableiten.

Als direktdemokratische Verfahren charakterisieren Rehmet et al. – in Anlehnung an ein Einführungswerk zu direkter Demokratie von Theo Schiller (2002) – all jene Sachabstimmungen, die durch die BürgerInnen selbst oder obligatorisch durch gesetzliche Regelung ausgelöst werden und deren Ergebnis rechtlich bindend ist. Ein derart enges Begriffsverständnis von direkter Demokratie schließt unverbindliche Volksbefragungen wie das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich und Parlamentsreferenden aus. Diese Unterscheidung von direkter Demokratie im engeren und weiteren Sinne wird in ein tabellarisches Analyseraster mit den Merkmalen der verschiedenen Verfahrenskategorien für die empirische Untersuchung der 43 europäischen Staaten gegossen (S. 10 f.). Daran anschließend unterscheiden Rehmet et al. drei direktdemokratische Verfahrenstypen im engeren Sinne: Erstens Volksinitiativen, die durch Unterschriftensammlungen initiiert werden, zweitens fakultative Referenden, die sich gegen Parlamentsbeschlüsse richten und schließlich drittens obligatorische Referenden, die gesetzlich vorgeschrieben sind, etwa bei Verfassungsänderungen.

Bevor der theoretisch-konzeptionelle Teil mit einem Glossar endet, unternehmen die AutorInnen eine demokratietheoretische Qualitätsbestimmung von Volksabstimmungen. Der dabei zugrunde gelegte partizipatorische Demokratiebegriff schließt an Abraham Lincoln (1863, siehe etwa Kaufhold 2007: 117 f.) an und stellt die aktive Selbstregierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk in den Mittelpunkt. Damit sehen die AutorInnen direktdemokratische Volksabstimmungen als eine Möglichkeit an, um die vielerorts diagnostizierte Krise der Demokratie zu therapieren (Crouch 2008) – und heben die ergänzende Agenda-Setting-Funktion, die erhöhte Responsivität, die Verantwortungsübernahme der BürgerInnen und die Chancen für politisches Engagement hervor, ohne dabei die Dysfunktionen von direktdemokratischen Verfahren zu diskutieren (Schiller 2002: 33–49; 157–172). Als wichtige Qualitätsmerkmale von direktdemokratischen Volksabstimmungen befürworten die AutorInnen etwa klare und gesetzlich normierte Regeln, Gleichstellung der zulässigen Themen mit der Entscheidungskompetenz der BürgerInnen, angemessene Unterschriftenquoren und lange Fristen. Abstimmungsquoren lehnen Rehmet et al. hingegen ab, denn sie „begünstigen Boykottstrategien und können so das Ergebnis verfälschen, vor allem erschweren sie oder verhindern gar eine öffentliche Diskussion“ (S. 20).

Im empirischen Teil betrachten Rehmet et al. 43 europäische Staaten – Russland, Türkei, Vatikan und Weißrussland werden mangels ausreichender demokratischer Qualität ausgeklammert. Der Betrachtungszeitraum beginnt jeweils mit der Einführung direktdemokratischer Verfahren, sofern die Staatsform seitdem demokratisch geblieben ist und sich das Staatsgebiet nicht wesentlich verändert hat. Damit variiert der Untersuchungsbeginn äußerst breit zwischen 1848 und 1989 – Untersuchungsende ist der 31. Dezember 2018. Auf den ersten Blick wird deutlich (S. 26 f.), dass direktdemokratische Verfahren im engeren Sinn nicht weit verbreitet sind: 12 von 43 Staaten kennen beziehungsweise kannten Volksinitiativen, 8 Staaten fakultative Referenden und 23 Staaten obligatorische Referenden. Unverbindliche Volksbefragungen (Anzahl: 19) und durch Staatsorgane ausgelöste Referenden (Anzahl: 33) sind hingegen weit verbreitet. In 28 Staaten gibt oder gab es immerhin ein direktdemokratisches Verfahren, in 16 Staaten können die BürgerInnen dieses selbst initiieren. Noch geringer als die Verbreitung ist die gelebte Praxis: „In sehr vielen europäischen Saaten bleiben Volksabstimmungen bis heute ein Ereignis mit Seltenheitswert“ (S. 34). Lediglich in der Schweiz, Liechtenstein und Italien findet häufiger als einmal im Jahr eine Volksabstimmung statt. Europaweit wurden insgesamt 1.050 verbindliche Volksabstimmungen gezählt, davon waren 931 im engeren Sinne direktdemokratisch (88,7 Prozent).

Im Sinne der Praxis von Volksabstimmungen werden die 43 Staaten zunächst in sieben Kategorien (Ländergruppen) aufgeteilt und für jeden Staat die spezifischen Regelungen und die damit einhergehende Praxis vorgestellt sowie anschließend bewertet, welche darüber hinaus in halbseitigen Steckbriefen (S. 47, 57, 68, 77, 82, 88, 94, 100, 108, 114, 120, 126, 139, 154, 163) für die wichtigsten Staaten respektive Ländergruppen zusammengefasst sind:

  • Die Ländergruppe 1 besteht aus der Schweiz und Liechtenstein, in denen direktdemokratische Verfahren, auch aufgrund ihrer Anwenderfreundlichkeit, Routine sind. Gleichwohl zeigen selbst diese Vorzeigeländer einige Schwächen in der Praxis direkter Demokratie – etwa in Form von finanzieller Waffenungleichheit oder in der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz.
  • In die Ländergruppe 2 fallen die Staaten mit einiger direktdemokratischer Praxis: Italien, San Marino, Litauen, Dänemark, Slowakei, Ungarn, Slowenien und Lettland.
  • Ländergruppe 3 umfasst die Staaten mit wenig direktdemokratischer Praxis: Albanien, Bulgarien, Kroatien, Malta, Nordmazedonien, Rumänien und Serbien.
  • Die Ländergruppe 4 umfasst die Staaten, in denen direktdemokratische Verfahren im weiteren Sinne jene im engeren Sinne überwiegen: Andorra, Bosnien und Herzegowina, Estland, Frankreich, Island, Luxemburg, Montenegro, Österreich, Polen und Spanien.
  • Ländergruppe 5 umfasst die Staaten, die nur direktdemokratische Verfahren im weiteren Sinne kennen: Griechenland, Moldau, Portugal, Schweden, Tschechien, Ukraine und Zypern.
  • In die Ländergruppe 6 sind jene Staaten eingeflossen, in denen bislang nur unverbindliche Volksbefragungen zur Anwendung kamen: Großbritannien, Kosovo, Niederlande, Finnland, Norwegen und Belgien.
  • Schließlich befinden sich in der Ländergruppe 7 jene Staaten, die überhaupt keines der Verfahren kennen – hierzu zählen Deutschland und Monaco.

Im normativ-bewertenden Abschnitt fassen Rehmet et al. zunächst die zentralen Inhalte zusammen. Dabei wird noch einmal deutlich, dass die Praxis von direktdemokratischen Volksabstimmungen im engeren Sinne auf wenige Staaten begrenzt ist: Schweiz (68,9 Prozent), Liechtenstein (7,4 Prozent), Italien (7,0 Prozent), Irland (4,4 Prozent) und San Marino (2,5 Prozent) vereinigen satte 90,2 Prozent aller direktdemokratischen Verfahren auf sich. Zusammen mit den weiteren Staaten innerhalb der Top 10 – Slowenien, Dänemark, Litauen, Slowakei und Ungarn – kommen allein diese (von insgesamt 35) Länder bereits auf einen Anteilswert von 97,1 Prozent aller direktdemokratischen Verfahren (S. 173).

Anschließend halten die AutorInnen mit Blick auf die Vielfalt der direktdemokratischen Verfahren und Regelungen als Best-Practice folgende Erkenntnisse fest (S. 184 f.):

  • Wenn die Auslösungskompetenz bei den BürgerInnen selbst liegt und/oder ein obligatorisches Verfassungsreferendum mit sehr vielen zulässigen Themen vorhanden ist, dann ist der Weg offen für eine „gute Praxis“ direkter Demokratie.
  • Ein geringer Ausschluss von Themen (siehe Schweiz, Liechtenstein, Italien) erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Auslösung einer Volksabstimmung, zudem verringert er die Gefahr von überkomplexen Zulassungsverfahren, bei denen Verwaltungen oder Gerichte erst klären müssen, ob eine bestimmte Sachfrage zulässig ist.
  • Unterschriftenquoren von ein bis drei Prozent (siehe Schweiz, Italien, San Marino) sorgen für einen Relevanztest der Themen und machen es zugleich möglich, dass auch ehrenamtliche Organisationen sowie kleinere BürgerInnengruppen ihr Anliegen für eine Volksabstimmung vorlegen können.
  • Grundlegend gilt: Die Mehrheit der BürgerInnen entscheidet in einer Volksabstimmung. Insofern keine Abstimmungsquoren existieren (siehe Schweiz, Liechtenstein, Irland, San Marino seit 2016), verringert sich die Gefahr von Boykottstrategien und Manipulationen aufgrund von willkürlich gesetzten Abstimmungsterminen oder schlechter Information.
  • Lang angesetzte Fristen geben ausreichend Zeit, um eine lebhafte Debattenkultur über Sachfragen zu gewährleisten. Zudem steigern sie den Wert der öffentlichen Meinungsbildung. Dies gilt ebenfalls für Abstimmungsbroschüren, welche an alle Haushalte verschickt werden.

Die Beispiele des Worst-Practice adressieren dieselben Punkte, jedoch in gegensätzlicher Ausprägung (Auslösungskompetenz beim Staat, umfangreicher Themenausschluss, Unterschriftenquoren von acht Prozent und höher, kurze Sammelfristen, hohe Abstimmungsquoren). Rehmet et al. räumen aber ein: „Dieser Zusammenhang gilt nicht linear. Es gibt weitere Einflussfaktoren auf die Anwendungshäufigkeit wie etwa die politische Kultur, das politisches [sic!] System oder die Größe eines Landes“ (S. 189).

Zum Abschluss des Buches stellen die AutorInnen weitere, wenig beantwortete Forschungsfragen in den Ausblick, etwa warum in einigen Staaten die Verfahrensregelungen reformiert wurden, wie direktdemokratische und partizipative Verfahren verknüpft werden können und wie es um die Wechselwirkung von direkter Demokratie mit der politischen Kultur und dem politischen System eines Landes bestellt ist.

Diskussion

Insgesamt bietet die Monografie einen soliden Überblick über Volksabstimmungen in Europa. Sie stellt einen ehrgeizen Forschungsbericht mit 43 (teilweise seit 1848) untersuchten europäischen Staaten dar. Neben der vollständigen Lektüre ist das Buch gerade aufgrund der detaillierten Gliederung, der Steckbriefe für die europäischen Staaten(-gruppen), den 65 Tabellen und 18 Abbildungen als Nachschlagewerk für die Praxis direkter Demokratie geeignet. Auch wenn ein Glossar am Ende einer Einleitung auf den ersten Blick ungewöhnlich wirkt, erleichtert es mit den darin enthaltenen englischen Übersetzungen der einzelnen Fachbegriffe, allen voran Studierenden, den Einstieg in die vergleichende Forschung zu direkter Demokratie. Gleichwohl schlägt die Publikation – grosso modo – keine Brücke zum englischsprachigen Forschungsstand.

Haben die AutorInnen aus empirischer Sicht ein gelungenes Einführungswerk in die Praxis direkter Demokratie vorgelegt, so bleibt der theoretisch-konzeptionelle Teil dahinter zurück. Der eingangs postulierte Anspruch, „ein wenig Ordnung in das bestehende Begriffs-Wirrwarr [zu] bringen“ (S. 7), wurde nicht durchgängig eingelöst. Dies liegt einerseits an der didaktisch nicht befriedigenden Darstellung und Einordnung der einzelnen Begriffe. Eine übersichtliche Gesamttabelle mit allen direktdemokratischen Verfahren im engeren und jenen in weiteren Sinne hätte einen präziseren Einblick in das spezifische Verständnis von direkter Demokratie ermöglicht, das die AutorInnen in ihrem Buch zugrunde legen. Andererseits gelingt es Rehmet et al. trotz des selbst gesetzten Anspruchs nicht durchgängig, auf das „Begriffs-Wirrwarr“ zu verzichten, wenn sie häufig auf im Abschnitt zur Begriffsklärung nicht adressierte Synonyme zurückgreifen. So wird in Tabellen- und Abbildungsüberschriften zwar hin und wieder von Volksabstimmungen oder direktdemokratischen Verfahren gesprochen, im Tabellen- und Abbildungskörper taucht dieser Begriff dann aber nicht mehr auf, stattdessen arbeiten die AutorInnen hierin mit dem unbestimmten Begriff des Volksentscheids. Selbes gilt bei dem zugrunde gelegten Demokratiebegriff: Eingangs sprechen die AutorInnen von einem „partizipatorischen“ (S. 18), am Ende des Buches hingegen von einem „partizipativen“ (S. 184) Demokratiebegriff. Diese konzeptionellen Unschärfen mögen sicherlich einige LeserInnen verwirren.

Etwas irritierend ist ebenfalls der konzeptionelle Abschnitt zu „Volksabstimmungen durch eine Kombination aus BürgerInnen und Staatsorganen“ (S. 16). Auch wenn von den AutorInnen nicht explizit formuliert, legt der Forschungsbericht seinen Fokus auf jene Volksabstimmungen, die auf nationalstaatlicher Ebene in Europa durchgeführt worden sind. Aus guten Gründen kann die Studie keinen Einblick in abgehaltene Volksabstimmungen auf subnationaler Ebene geben. Deshalb ist es in diesem Abschnitt etwas misslich, dass Rheinland-Pfalz als empirischer Prototyp für dieses direktdemokratische Verfahren angebracht wird und nicht etwa die erst später im Buch aufgegriffenen Fallbeispiele in Albanien, Frankreich, Lettland und der Ukraine (S. 31).

Des Weiteren kommt im normativ-evaluierenden Teil bei der idealtypisch anmutenden Gegenüberstellung von Best- und Worst-Practice-Beispielen direkter Demokratie, so plausibel sie auch sein mag, der methodisch nicht unerhebliche Verdacht einer self-fulfilling prophecy auf: Die demokratietheoretisch entwickelten Qualitätsmerkmale (S. 19 ff.) scheinen mit der Empirie perfekt zu korrespondieren. In der Forschungspraxis stimmen Theorie und empirische Wirklichkeit in aller Regel aber nicht deckungsgleich miteinander überein, zumal nicht bei einem beeindruckenden Panorama, wie es die AutorInnen empirisch entfaltet haben. Fallen die Ergebnisse in den untersuchten europäischen Staaten wirklich derart homogen aus, um die oben dargelegten Handlungsempfehlungen abzuleiten? Oder präjudiziert die hier gewählte Methode das Ergebnis?

Darüber hinaus ist der anekdotische Verweis von Rehmet et al. kritisch zu betrachten, wonach Volksabstimmungen als Abhilfe für die in der internationalen Politikwissenschaft attestierte Krisendiagnose der Demokratie gelten könnten (S. 19). Gerade die von Colin Crouch (2008) aufgestellte und einflussreiche Postdemokratie-These bezieht sich empirisch auf Italien, das bei der Anzahl von durchgeführten Volksabstimmungen immerhin auf Platz 3 in der Top 10 liegt. Gleichwohl räumen die AutorInnen zu Recht ein, dass die Frage „Stabilisieren Volksabstimmungen die Demokratie oder nicht?“ (S. 193) nicht vorschnell beantwortet werden sollte. Schließlich lassen sich die untersuchten Staaten mit Blick auf ihre teilweise erheblichen Unterschiede in politischem System, Geschichte und politischer Kultur nur bedingt miteinander vergleichen (S. 184).

Fazit

In der Gesamtschau haben die AutorInnen ihr zweites Ziel – die verständliche Darstellung und Einordnung von Daten zu Volksabstimmungen in Europa – ohne Abstriche erfüllt. Das erste Ziel, die theoretisch-konzeptionelle Klärung der für die Untersuchung relevanten Begriffe, konnte hingegen nicht vollständig verwirklicht werden, weil es bei der Klärung teilweise an Klarheit mangelt. Das dritte Ziel, die Ableitung von Handlungsempfehlungen aus den empirischen Daten zur direktdemokratischen Praxis in 28 europäischen Staaten, wurde insoweit erfüllt, dass die AutorInnen ihre Reformvorschläge für eine „gute Praxis“ direkter Demokratie dargestellt haben. Diese können nun in weiteren, detaillierten Untersuchungen kritisch gewürdigt werden.

Wer also aus einem empirischen Erkenntnisinteresse ein Einführungs- und Nachschlagewerk rund um die Praxis von direkter Demokratie in Europa sucht, ist mit dem von Rehmet et al. vorgelegten Buch „Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich“ gut bedient. Mit seiner umfangreichen, differenzierten und mit Akribie zusammengestellten Datensammlung zu 1.050 durchgeführten Volksabstimmungen in 43 europäischen Staaten dient es als ideale Materialgrundlage für ihre Einbettung in theoretisch breiter angelegte Studien auf dem Forschungsgebiet der direkten Demokratie im internationalen Vergleich.

Literatur

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Kaufhold, Martin (2007): Die großen Reden der Weltgeschichte. Wiesbaden: Marix.

Schiller, Theo (2002): Direkte Demokratie. Eine Einführung. Frankfurt: Campus.

Rezension von
Dr. phil. Alexander Akel
B.A. Politikwissenschaft/Philosophie, Leitung der externen Koordinierungs- und Fachstelle der Partnerschaft für Demokratie beim Verein für Völkerverständigung e.V. der Hansestadt Warburg, Lehrbeauftragter für Politik und Soziologie an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit (HöMS) in Kassel
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Mitarbeiter Universität Kassel

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Zitiervorschlag
Alexander Akel, Lukas Kiepe. Rezension vom 02.06.2020 zu: Frank Rehmet, Neelke Wagner, Tim Willy Weber: Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. ISBN 978-3-8474-2275-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26919.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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