Ralph Fischer: Ehrenamtliche Arbeit, Zivilgesellschaft und Kirche
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Vilain, 29.11.2006

Ralph Fischer: Ehrenamtliche Arbeit, Zivilgesellschaft und Kirche. Bedeutung und Nutzen unbezahlten Engagements für Gesellschaft und Staat. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2004. 224 Seiten. ISBN 978-3-17-018560-9. 18,00 EUR.
Thema
"Cui bono, honor sine salario in ecclesia?" Wem nutzt das Ehrenamt in der Kirche? Diese Frage nimmt Autor Ralph Fischer, mit dem erklärten Ziel, den Diskurs zum Ehrenamt in den Kirchen zu befördern, zum Ausgangspunkt seiner Publikation. Dabei mag die so gestellte Frage im Kontext der anhaltenden wissenschaftlichen Diskussion um Motive, Chancen und Grenzen des freiwilligen Engagements zunächst banal erscheinen. Für die Diskussion innerhalb der Kirchen ist sie dies nicht. Vielmehr besitzt sie mit Blick auf die Rahmenbedingungen kirchlichen Handelns - auch zwei Jahre nach der Veröffentlichung - durchaus Sprengkraft. Dem großen Druck, den einbrechendes Engagement und schwindende Mitgliederzahlen in Verbänden und Großorganisationen auslösen, können sich nämlich auch die evangelischen Kirchen nicht länger entziehen.
Anhand einer Mischung aus theologischen und soziologischen Argumentationsmustern analysiert Fischer das Versagen der Kirchen beim Angebot zukunftsweisender Konzepte und macht zugleich Mut, sich dieser Herausforderung zu stellen. Spätestens mit diesem Beitrag hat die Diskussion um die Auswirkungen der einschneidenden gesellschaftspolitischen Veränderungen auf das kirchliche Ehrenamt auch eine breitere Öffentlichkeit erreicht.
Aufbau und Inhalt
Die vorliegende Arbeit lässt sich gedanklich in zwei Teile fassen. Im ersten Teil (Kapitel 1 bis 4) befasst sich der Autor mit der theoretischen und empirischen Einbettung des Themas, um diese Erkenntnisse im zweiten Teil (Kapitel 5-7) auf die Kirchen zu beziehen und kritisch zu reflektieren.
Die eingangs gestellte Frage nach dem Nutzen des Engagements ist im kirchlichen Kontext keineswegs unproblematisch, wird das Engagement als in erster Linie vom Glauben getragen und damit als rein altruistisch gesehen. Vorweggeschickt werden daher zunächst einige Gedanken zur Tabuisierung des Nutzenaspektes ehrenamtlicher Arbeit in der Kirche einerseits sowie dessen Zulässigkeit andererseits. Dass diese Diskussion notwendig geworden ist, steht für Fischer in engem Zusammenhang mit den aktuell stattfindenden umwälzenden gesellschaftspolitischen Transformationsprozessen, wie sie durch die haushaltspolitische Lage in Bund und Ländern, dem daraus resultierenden Umbau des Sozialstaats und der veränderten Rolle der Bürger im Staat induziert werden (Kapitel 1).
Ausgehend von einer Skizze der historischen Wurzeln des Ehrenamts, die von der Ziegenhainer Zuchtordnung (1539) über die preußische Städteordnung (1808) bis in die Gegenwart reicht, schildert Fischer auf der Grundlage einschlägiger empirischer Untersuchungen (z.B. Freiwilligensurvey) die Situation des Ehrenamts in Deutschland. Die Organisationen des Dritten Sektors sind für ihn dabei die Bezugspunkte und Orte des Engagements, weshalb er dieser Perspektive besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt (Kapitel 2).
Den Diskurs um das Ehrenamt sieht Fischer eingebettet in die Debatte um Sozialkapital und Zivilgesellschaft. Konsequenterweise folgt zunächst eine Definition des Sozialkapitalbegriffs mit seinen verschiedenen Aspekten und seiner Bedeutung für den Ehrenamtsdiskurs. Mit Blick auf mögliche Ausprägungen des Begriffs werden positive und negative Aspekte (z.B. dissoziales Sozialkapital) erörtert (Kapitel 3).
Danach wendet sich der Autor der Bestimmung von "Zivilgesellschaft" zu, diskutiert die verschiedenen Dimensionen des Begriffs sowie dessen Beziehung zum "Freiwilligen Engagement", um abschließend noch einmal explizit auf die Notwendigkeit einer Zivilgesellschaft in einem demokratischen System zu verweisen (Kapitel 4).
Das nächste Kapitel widmet sich der Beschreibung der Kirche als zivilgesellschaftlichen Akteuren. Aufbauend auf einer Beschreibung des Wesens der Kirche als Großorganisation, Werteagentur und bedeutsamem volkswirtschaftlichen Faktor wird das freiwillige Engagement in ihr verortet. Erläutert werden sowohl weltliche als auch biblische Gründe für ein Engagement sowie Zahlen und Fakten zur Bedeutung des Engagements in den Kirchen.
Abschließend werden anhand des Beispiels der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) kirchliche Strukturen als Hindernisse für das Ehrenamt problematisiert (Kapitel 5).
Im folgenden Kapitel (Kapitel 6) werden vier offen oder verdeckt existierende kirchliche Erfahrungs- und Lernfelder, als "Curriculum" bezeichnet, dargestellt. Dass es dabei nicht nur um positive Lernerfahrungen geht, wird aus der Bezeichnung der Lernfelder bereits deutlich:
- Curriculum "Priestertum aller Gläubigen" und "Gleichberechtigte Teilhabe an der Missio Dei"
- Curriculum "ecclesia semper reformanda"
- Curriculum "Behördenkonformität"
- Curriculum "Verzicht auf Rechte"
Schließlich kehrt die Argumentation zur Ausgangsfrage zurück und setzt an, die Frage nach dem Cui bono zu beantworten (Kapitel 7).
Diskussion
Seid dem 2001 ausgerufenen Jahr der Freiwilligen sind nahezu 1.000 Publikationen zum Thema erschienen. Wozu also eine weitere Publikation, möchte man fragen.
Mit der vorliegenden Arbeit beleuchtet Fischer das freiwillige Engagement in (evangelischen) Kirchen aus verschiedensten Perspektiven. Die Diskussion um die Begriffe "Sozialkapital" und "Zivilgesellschaft" zeigt sich sehr verkürzt. Sie ist demnach auch nicht die Stärke der vorliegenden Publikation, lassen sich die Entwicklungspfade und Dimensionen der Begriffe bei anderen Autoren doch sehr gut nachlesen (z.B. Klein, Kocka). Sie sind als Hinführung zum Thema bestenfalls zweckmäßig und setzen die gesellschaftspolitische Funktion und Situation als Ausgangspunkt für die folgende Analyse. Auch fehlt es immer wieder an begrifflicher Schärfe und Differenzierung der verschiedenen Formen des Engagements innerhalb der Kirchen. Die Aussagen dazu sind vielmehr global gehalten: Es zeigt sich, dass die Kirchen keinen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt mehr binden können. Vielmehr lassen sich zwei verschiedene Tendenzen festmachen: "É So rekrutiert sich die hauptamtliche Führungsschicht der evangelischen Kirche aus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht" (Bremm/Danielzyk ,1997). Gleiches kann für den größeren Teil der freiwillig Engagierten der Kirchen angenommen werden, die etwa als Kirchevorstandsmitglieder, Kreissynodale oder Landessynodale aktiv sind." (S. 149)
Ähnlich wie in anderen Organisationen bilden sich gesellschaftliche Machtverhältnisse damit auch innerhalb der Kirche ab. Damit setzt die haupt- und ehrenamtliche Führungsschicht die kulturelle Hegemonie ihres Milieus (Gramsci) in der Kirche fort. Sie verdrängt mithin durch den Anspruch "Johann-Sebastian-Bach"scher-Kirchenhochkultur" jene Gruppen, die sich diesem Anspruch selbstbewusst widersetzen und eigene kulturelle Ausdrucksformen pflegen und suchen (S. 151).
Die Mitgliederschichten rekrutieren sich andererseits insbesondere aus kleinbürgerlichen Milieus, deren "autoritäts- und hierarchiegebundenen Bedürfnisse zum Maßstab kirchlicher Angebote geworden [sind]" (S.149). Damit haben sich zwei Gruppen, so möchte man ergänzen, gesucht und gefunden. Die Hegemonialansprüche der Führungs- und Leitungselite werden von den Mitgliedern auf ihrer Suche nach Orientierung akzeptiert und nachgelebt.
Der amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Robert D. Putnam hat früh darauf verwiesen, dass Engagement zwei Wirkungsweisen entfalten kann. Zum einen können sich Gruppen durch ihr Engagement abschließen, die bestehenden Beziehungen vertiefen und andere ausschließen ("bonding"). Zum anderen kann Engagement grenzaufllösend und integrierend wirken ("bridging"). Bleibt man in dieser Dualität, lässt sich festhalten, dass Fischer das beziehungsverstärkende, aber zugleich exkludierende Moment kirchlichen Engagements sehr deutlich betont. In der Konsequenz sieht er eine Vielzahl von Milieus, vor allem moderne, eigenverantwortlich orientierten Gruppen ausgeschlossen. Problematisch ist insbesondere der daraus resultierende Mangel an jüngeren und gut ausgebildeten Menschen.
Inwiefern diese Darstellung einseitig ist, bleibt nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Datenlage zum Engagement im kirchlichen Raum offen. Fischer, "der sich ausdrücklich als protestantischer Amtsträger verstehtÉ" (S. 93) kompensiert den Mangel an empirischem Material durch Schilderung seiner langjährigen Erfahrungen als Diakon (z.B. S. 149). Dem Anspruch interpersonaler Objektivierbarkeit genügt diese Vorgehensweise zwar streng genommen nicht, sie verlässt jedoch zu keinem Zeitpunkt den Boden der Plausibilität.
Neben diesen milieubedingten und organisationskulturellen Schwierigkeiten erweisen sich auch die Strukturen der Kirchen als problematisch. Behördenähnlichen Organisationen gleich funktionieren sie auf der Grundlage von Dienstwegen, Haushalts- und Geschäftsplänen, einer Flut von Formularen, Gesetzen und Ordnungen sowie Öffnungszeiten, Fristen und formalisierten Abläufen, die alles andere als motivierend auf freiwillig Engagierte wirken.
Dazu kommen problematische Umgangsformen sowie eine Machtasymmetrie zwischen kirchlichem Haupt- und Ehrenamt, das sich beispielsweise in Sperrminoritäten zu Gunsten Hauptamtlicher in den Leitungsgremien oder der zusätzlichen finanziellen Belastung von Ehrenamtlichen (Fahrtkosten, Fortbildungen etc.) äußern kann.
Das Ergebnis: die Distanz zwischen der Organisation Kirche und den Vorstellungen breiter Teile der Bevölkerung vergrößert sich fortwährend. Diese Ferne, so Fischer, ist jedoch zu einem wesentlichen Teil durch die Kirchen selbst geschaffen. Sie schafften es nicht mehr, die unterschiedlichen Beziehungsformen der Milieus positiv zu beantworten, sondern seien vielmehr autoritären und hierarchischen Formen verhaftet (S. 148).
Wem nutzt aber nun das (noch vorhandene) freiwillige Engagement in den evangelischen Kirchen? Die Frage wird anhand einer Rangliste beantwortet, gemäß derer an erster Stelle die Institution Kirche sowie die hauptamtlichen Mitarbeiter davon profitieren. Erst an zweiter Stelle nützt ihr Engagement den Freiwilligen selbst, dann den Nutzern der kirchlichen Angebote und erst abschließend dem Gemeinwesen. Wie Fischer zu dieser Rangfolge kommt, bleibt jedoch undurchsichtig.
Fazit
Fischer erfasst wesentliche Züge der Diskussion um das Ehrenamt und überträgt sie auf das Engagement in der Kirche. Insofern ist es sein Verdienst, den Diskurs über das Ehrenamt um die Erörterung eines spezifischen Handlungsfeldes bereichert zu haben. Dass die Kirchen zunehmend Probleme bei der Rekrutierung und Bindung Ehrenamtlicher haben, ist nicht neu, wird hier aber offen und eindringlich geschildert. Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Herkunft, Glaubensausübung und ehrenamtlichem Engagement ist interessant aufbereitet und liefert plausible Erklärungen für die Situation der evangelischen Kirchen. Diese Erkenntnisse dürften über die Amtskirchen hinaus auch für andere Großorganisationen aufschlussreich sein. Was aber wären die Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären? Was bedeuten die Erkenntnisse für das Freiwilligenmanagement in den Kirchen? Wenngleich es weder Patentrezepte geben dürfte, noch die Gewinnung praxisorientierter Lösungsansätze erklärtes Ziel des Buches ist, dürfte es manch Praktiker nach einer erkenntnisreichen Lektüre mit mehr Wissen und gleicher Ohnmacht aus der Hand legen.
Dennoch: Das Buch bietet einen guten Einblick in die aktuellen kirchlichen Problemstellungen - und dies nicht aus der Sicht eines Theoretikers, sondern eines Mitarbeiters. Gerade dies macht auch seinen Wert aus. Sollten die dargestellten Tendenzen nur ansatzweise stimmen, dürfte eine offene Diskussion über diese Probleme für die Kirchen ein unbequemer Prozess sein, in dessen Verlauf lieb gewordene Rollenmuster und Herrschaftsansprüche hinterfragt werden müssten. Die Formulierung dieser Erkenntnisse durch einen Mitarbeiter der evangelischen Kirchen verleiht ihnen trotz oftmals fehlender empirischer Untermauerung ein hohes Maß an Authentizität. Erfahrungsgemäß schätzen gerade Großorganisationen ein solches offenes Wort nicht immer. Es ist allerdings immer dieser Mut, unbequeme Wahrheiten offen anzusprechen, der Veränderungen den Weg bereitet.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Vilain
Evangelische Hochschule Darmstadt
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