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Jeanette Pohl: Wege der (Ver-)Besserung?

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 11.08.2020

Cover Jeanette Pohl: Wege der (Ver-)Besserung? ISBN 978-3-7799-6287-8

Jeanette Pohl: Wege der (Ver-)Besserung? Erfahrungen Straffälliger mit Sozialer Arbeit. Mit einem Vorwort von Claus Melter. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 370 Seiten. ISBN 978-3-7799-6287-8. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema

Jeanette Pohl nähert sich durch Einzelfallanalysen der Frage, wie biografische Aspekte der AdressatInnen auf das aktuelle Nutzungsverhalten sozialer Dienstleistungen wirken. Dabei fragt sie die Betroffenen selbst, welche Rolle Angebote Sozialer Arbeit im Zusammenhang mit Hafterfahrungen im Laufe ihres Lebens hatten. Die Arbeit beleuchtet Wirkungs- und Erfahrungszusammenhänge Sozialer Arbeit im institutionellen Zwangskontext des Strafvollzugs und belegt, dass die Beratung und Begleitung neben dem Professions- und Beratungsverständnis der professionellen Akteure stark von biografischen Erfahrungen der NutzerInnen abhängen. Auf Basis der empirischen Befunde können fachliche Grundlagen und Standards entwickelt werden – konsequent unter Bezugnahme auf die Perspektive der AdressatenInnen auf die sozialarbeiterische Praxis im Bereich der Straffälligenhilfe.

Autorin

Dr. rer. soc. Jeanette Pohl arbeitete als Sozialarbeiterin und Suchtberaterin u.a. im Bereich Betrieblicher Sozialarbeit und Gesundheitsförderung und im Beratungsbereich. Derzeit ist sie als Referentin für Sucht- und Drogenhilfe beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Baden-Württemberg tätig. Die vorliegende Publikation wurde von der Eberhard Karls Universität Tübingen, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften als Dissertation angenommen.

Aufbau und Inhalt

Die Dissertation folgt nach einem Vorwort von Claus Melter einem für Dissertationen klassischen Aufbau und ist in die Abschnitte

  • Einleitung
  • Beschreibung des Forschungsfelds
  • Forschungsfrage
  • Methodisches Vorgehen
  • Darstellung der Ergebnisse
  • Nutzungsverhalten sozialer Dienstleistungen straffälliger Männer aus lebensgeschichtlicher Perspektive
  • Limitierende Faktoren der Praxis Sozialer Arbeit in Haft
  • Schlussbetrachtung

sowie einem Literaturverzeichnis untergliedert.

Einleitung

Soziale Arbeit im Zwangskontext wurde als Thema in der Fachöffentlichkeit nicht breit, aber immerhin mit grundlegenden Publikationen aufgegriffen (https://www.socialnet.de/rezensionen/22555.php; https://www.socialnet.de/rezensionen/15150.php; https://www.socialnet.de/rezensionen/5143.php), theoretisch ergründet und mit Methodenhinweisen i. S. der Motivationsarbeit entwickelt. 

Jeanette Pohl zeigt auf, dass es in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik an einer Auseinandersetzung mit der Betroffenenperspektive fehlt, es insbesondere im Feld der Straffälligenhilfe keine belastbaren Forschungsbefunde gibt, welche die Selbstdeutungsmuster der KlientInnen erkennt und analysiert und die biografische Dimension solcher Muster aufgreift. Ausgehend von diesem Befund und eigenen praktischen Felderfahrungen formuliert sie ihren Zugang zum Forschungsgegenstand und verknüpft das bearbeitete Thema mit Grundprinzipien Sozialer Arbeit, die sich als Menschrechtsprofession an Prinzipien wie Entstigmatisierung, Teilhabe, Empowerment orientiert. So „eröffnet die Erfassung der Adressat-innen- und Nutzer-innensicht die Möglichkeit, das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als hilfreiche Instanz kritisch zu hinterfragen … So bestimmt der Hilfebegriff einen Großteil des sozialarbeiterischen Professionsverständnisses, wenngleich dieser als Paradigma der Sozialen Arbeit eigentlich ungeeignet scheint, denn weder aufgezwungene Maßnahmen noch die teils darauffolgenden Sanktionen sind Hilfen, sondern vielmehr Formen der sozialen Kontrolle und stellweise sogar Strafen“ (18).

Forschungsfeld

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit grundlegenden Aspekten des Forschungsfeldes (straffällig gewordene Männer mit Hafterfahrung), etwa Theorien der Kriminalitätsentwicklung und der Lebenswirklichkeit von aus Haft entlassenen Menschen. Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung werden von der Autorin (unter Bezugnahme u.a. auf die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung TJVU) als Phänomene multikausalen Ursprungs und dynamischen Prozessgeschehens definiert. Vertiefend finden sich Hinweise zur Entwicklung des sozialen Strafrechtssystems mit seiner Schwerpunktsetzung auf Haftstrafen und den Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Straffälligenhilfe. Daneben finden sich hier Hinweise zu Aufgaben der sozialen Hilfen in U- und Strafhaft und deren gesetzliche Grundlagen. 

Weitere Schwerpunkte werden in Darstellungen zur freien und justizförmigen Straffälligenhilfe gesetzt. Damit ist der Rahmen für die vorliegende empirische Studie formuliert: soziale Beratungs- und Hilfsangebote im Rahmen der Haftsituation in unterschiedlichen Haftphasen, deren Nutzung (Intensität, Erfahrungen) bei den Betroffenen abgefragt wurde. Zusätzlich wird in diesem Abschnitt auf Ziele und Aufgaben und auf das professionelle Selbstverständnis Sozialer Arbeit im Kontext des Strafvollzugs eingegangen, sowie die sich aus dem Zwangskontext ergebenden Widersprüche und Machtaspekte, woraufhin die Profession Soziale Arbeit in Justizeinrichtungen als soziale Dienstleistung konzipiert wird, die sich (auch) an disziplinären Standards und Richtlinien (Transparenz, Partizipation etc.) orientiert (Triple-Mandat).

Forschungsfrage

Das Forschungsinteresse richtet sich auf das Nutzungsverhalten straffällig gewordener Männer in Bezug auf Beratungsangebote der Sozialen Arbeit im Kontext deren Lebensverlauf und biografischer Erfahrungen. Jeanette Pohl geht es darum, die Nutzer- und AdressatInnenperspektive miteinander zu verbinden, womit die Ebenen der Lebenswelt, der Biografie und der aktuellen Aneignungsprozesse der untersuchten fokussiert werden. Der Abschnitt enthält auch einen Überblick relevanter Forschungen zu dieser Fragestellung. Deutlich wird hier, dass die Untersuchung der Betroffenensichtweise, die Bedeutungszuschreibungen der Betroffenen, ein bislang wenig beforschtes Gebiet der Sozial(arbeits)forschung ist.

Methodisches Vorgehen

In diesem Abschnitt erfolgen die ausführliche Darstellung des methodischen Vorgehens, des Feldzugangs sowie ethische Aspekte des Forschungsvorhabens (im Zwangskontext des Strafvollzugs). Die Datenerhebung erfolgte durch narrativ-biografische Interviews mit AdressatInnen/NutzerInnen sozialer Arbeit im Strafvollzug, die Auswertung des verschrifteten Materials durch die dokumentarische Methode, mithin ein qualitativer Zugang zur Thematik.

Ergebnisse

Das umfangreichste Kapitel beinhaltet die Darstellung von 15 Interviews in Einzeldarstellung und die Zusammenfassung spezifischer Typen von Nutzungsverhalten i. S. einer inhaltlichen Gruppenbildung. 

Dadurch können einerseits die individuellen Lebensgeschichten und Nutzungserfahrungen in Bezug auf sozialarbeiterische Angebote nachvollzogen werden, andererseits spezifische Ausprägungsgruppen und deren biografische Verankerung rekonstruiert werden. Jeanette Pohl identifiziert fünf Nutzungstypen (Gruppen zu je drei Fallportraits) welche durch ein

  • abwehrendes bzw. ablehnendes (frühe Erfahrung machtvoller Institutionen und Personen Sozialer Arbeit und entsprechenden invasiven Eingriffen, Erleben von Ohnmacht gegenüber sozialstaatlichen Interventionen, soziale Exklusionserfahrung im Zusammenhang mit sozialen Institutionen, Erleben Sozialer Arbeit als vorwiegend normative Instanz, kaum positive Erfahrungen mit professioneller Unterstützung im Erwachsenenalter, Verstärkung negativer Erfahrungen mit Sozialer Arbeit in Haftsituationen, Verfestigung der abwehrenden Haltung gegenüber sozialen Hilfs- und Unterstützungsangeboten),
  • proaktiv-strategisches (grundsätzliches Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, das sich auch auf Personen der Sozialen Arbeit bezieht, biografische Erfahrungen der Statusverbesserung bei Nutzung von Unterstützungsleistungen, stärkere Kongruenz gesellschaftlicher Anforderungen und Selbstbild, soziale Anpassungsfähigkeit, Wahrnehmung von Diskriminierung und Abwertung seitens der Fachkräfte gegenüber Randgruppen, Fähigkeit zu differenzierter Einschätzung und Bewertung professioneller Sozialarbeit, Wahrnehmung fördernder Aspekte bei Nutzung sozialer Dienstleistungen im Zwangskontext, eher symmetrische Beziehungserfahrung zwischen Klient und Fachkraft),
  • hilfebedürftiges (frühe Erfahrung des migrationsbedingten Kulturwechsels und damit verbundener Verunsicherung und sozialen Problemlagen, Gefühl von und Erkennen der eigenen Hilfsbedürftigkeit und Einsamkeit als Zugang zur Inanspruchnahme sozialer Dienstleistungen, Wahrnehmung von Diskriminierung gegenüber bestimmten Inhaftiertengruppen durch Fachkräfte, positive Unterstützungserfahrungen in Bezug auf Soziale Arbeit bei umfassenden Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben, Wahrnehmung der Sozialen Arbeit als machtvollen gesellschaftlichen Teilbereich),
  • delegierendes (Abgabe der Verantwortung in meist krisenhaften Lebensphasen an Fachdienste, Erleben von Selbstunwirksamkeit, Instrumentalisierung Sozialer Arbeit als Verwaltungsmaßnahme und Instanz der Interessensverwirklichung, reaktives Agieren, Fachdienste werden als überforderte, aber auch haltgebende Ansprechpartnerwahrgenommen)
  • dienst- und sachzielorientiertes Nutzujngsverhalten (Wahrnehmung professioneller Sozialer Arbeit als (ko-) produktive Dienstleistung, Partizipationsbedürfnis der Adressaten bzgl. Definition der Inhalte und Prozesse, Nutzung spezifischer Einzelleistungen, hohe Erwartungshaltung in Bezug auf Sach- und Fachleistungen, Hilfeprozesse werden als Geschäftsbeziehung erlebt, hohe Kompetenzerwartung an Fachdienste, eher hohes Selbstwirksamkeitserleben, Bewertung der Dienstleistung in Abhängigkeit vom Gebrauchswert, Orientierung an bürgerlichen Normen) gekennzeichnet sind. In der Bildung der fünf Nutzungstypen wurden jeweils drei Fallportraits mit ihren jeweiligen Besonderheiten vergleichend dargestellt. Die Kapiteleinteilung folgt dem Raster „Darstellung von Kurzportraits der einzelnen Interviewpartner“, „Erfassung zentraler biografische Aspekte“, „Vergleich der Prozessverläufe und Bestimmung der Nutzungstypen“. 

Zusätzlich zu den biografischen Aussagen und Ausgangslagen finden sich, dort wo entsprechende Äußerungen erfolgten, Erfahrungen über erlebte SozialarbeiterInnen und Institutionen der Sozialen Arbeit. 

Eingebettet in die konkreten biografischen Abläufe findet sich damit eine Spiegelung professioneller Praxis Sozialer Arbeit. Aus dem so analysierten Material (Biografie, Nutzungserfahrungen und -geschichte in Bezug auf professionelle Soziale Arbeit) wurde das in den fünf Nutzungstypen dargestellte Nutzungsverhalten rekonstruiert.

Nutzungsverhalten aus lebensgeschichtlicher Perspektive Als „Extrakt“ nimmt das Kapitel vertiefend Bezug auf das Thema der Studie, das „charakteristische Nutzungsverhalten straffälliger Männer im Zusammenhang mit ihren biografischen Erfahrungen“ (341). Mit Bezug auf die im vorangegangenen Kapitel dargestellten Nutzungstypen (die hier nochmals reflektierend dargestellt werden) zeigt Jeanette Pohl zusammenfassend auf, „dass die lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit und den professionell agierenden Personen ein Wechselspiel bilden, welches die Professionellen in Form einer Rückkopplung stärker in die Reflexion ihrer Arbeit und ihre Hilfsangebote einbeziehen sollten“ (341). In dieser Zusammenfassung zeigen sich komprimiert der Wert und die Bedeutung der vorgelegten Studie für Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Das Verständnis lebensgeschichtlicher Prägung in Bezug auf das aktuelle Nutzungsverhalten, die Erreichbarkeit der AdressatInnen und NutzerInnen ermöglicht bedeutsame Ansätze für eine reflektierte Praxis und konzeptionelle Weiterentwicklung, wenn es darum geht Belastungsbewältigung, Selbstverwirklichung, Beteiligung und Teilhabe in einem schwierigen, von Zwangsaspekten geprägten Arbeitsbereich zu realisieren. Letztlich kann sich durch die Erweiterung der Perspektive ein positiver Effekt auf die Wirksamkeit professioneller sozialer Dienstleistungen ergeben, wenn es gelingt aktuelles Nutzungsverhalten, bestehende Barrieren und Zugangsprobleme zu verstehen und zu bearbeiten.

Limitierungen der Praxis

Individuelles Nutzungsverhalten in Bezug auf soziale Dienstleistungen wird geprägt durch die biografisch aufgeschichteten Erfahrungen und durch die aktuelle Lebensrealität und -situation. Letztere stellt sich im Kontext der Hafterfahrung als strukturell begrenzt dar, was sich darin äußern kann, dass

  • inkongruente Zielsetzungen zwischen Adressaten und Sozialarbeitenden bestehen,
  • Hilfeleistungen und die erlebte Hilfestellung als unpassend zur eigenen Lebenssituation erlebt wird,
  • Normalitätsansprüche der Gesellschaft als oktroyierte Lebensziele wahrgenommen werden die durch das Hilfesystem vermittelt werden,
  • durch die Inanspruchnahme von Hilfen Stigmatisierungsprozesse angestoßen werden oder es zu weiterer Ressourcenverringerung kommt
  • das Hilfesystem mangelhaft ausgestattet und schlecht vernetzt ist,
  • Sozialarbeitende in den Machtstrukturen des Justizvollzugs nicht fachlich frei agieren können und
  • Hilfeleistungen dadurch mitunter unnötig hochschwellig ausgerichtet sind.

Als Lösungsweg aus diesem Dilemma schlägt Pohl eine professionelle Orientierung vor, die professionsethische Standards konsequent reflektiert, Standards und Qualitätskriterien formuliert, durchsetzt und empirisch beforscht, sowie eine konsequentere Implementierung alternativer Strafformen, v.a. eine Ausweitung ambulanter Angebote.

Schlussbetrachtung

Das Kapitel beginnt mit einer reflektierenden Zusammenfassung des Forschungsaufbaus, der -methodik und einer komprimierten Hinführung zur Kernaussage der vorgelegten Forschung, dass die Öffnung des Fokus auf die biografische Perspektive der Adressaten eine wertvolle Reflektionsebene für die Praxis der Sozialen Arbeit im Arbeitsfeld der Straffälligenhilfe darstellt. Dadurch würde die Basis dafür geschaffen, professionelle soziale Praxis kritisch zu reflektieren hinsichtlich Stigmatisierungs-, Macht- oder Diskriminierungsprozessen. 

„Die Resozialisierung von Straffälligen gelingt eben nicht dadurch, dass eine Abwertung ihrer Lebensentwürfe und ihres Bewältigungsverhaltens erfolgt. Vielmehr gelingt sie durch die Entwicklung und Bereitstellung von Teilhabechancen sowie Gestaltungsräumen und Rücksicht auf die Bedürfnisse der Adressaten…“ (356).

Zielgruppe des Buches

Eine kritische Reflektion der Sozialarbeitspraxis im Bereich der Straffälligenhilfe die für Studierende, Lehrende und PraktikerInnen im Bereich der Sozialen Arbeit von Bedeutung ist.

Diskussion

Es gibt so gut wie keine empirischen Studien, die das Nutzungsverhalten von AdressatInnen in Bezug auf Angebote der Sozialen Arbeit untersuchen und biografische Hintergründe als maßgebliche Motivationsebene rekonstruieren (eine Ausnahme, allerdings mit leicht anderem Fokus ist die Arbeit von Stiels-Glenn zu Unterbringungs- und Therapieerfahrungen strafrechtlich untergebrachter pädophiler Sexualstraftäter, vgl. https://www.socialnet.de/rezensionen/21680.php).

Ob Angebote Sozialer Arbeit ihre Zielgruppe erreichen hängt, und das weist Jeanette Pohl eindrücklich nach, stark von der NutzerInnenperspektive, den dahinterstehenden Nutzungserfahrungen und biografischen Merkmalen, der Kongruenz, bzw. Nicht-Kongruenz von Erwartungen, Bedürfnisbefriedigung, Empathie und Integration in den Hilfeprozess ab. Damit formuliert Jeanette Pohl wesentliche Fragen für die Weiterentwicklung der Praxis Sozialer Arbeit, z.B. wie eine Sensibilisierung für biografische (Nutzungs-)erfahrungen erreicht, bzw. vermittelt werden kann und wie Teilhabe der Betroffenen am Hilfeprozess (als Ko-Diagnostiker, als Gestalter) umgesetzt werden können. Weitergehend zeigt Pohl die Grenzen des Sanktionssystems Justizvollzug auf, in dem Soziale Arbeit bislang agiert, ohne eine tiefergehende eigenständige Positionierung und fachliche (Um-)gestaltung zu fordern oder gar zu entwickeln. Eine solche Kritik am Arbeitsfeld und der Profession Sozialer Arbeit muss schmerzen (und wahrscheinlich wird sich die Autorin mit dieser prominent publizierten Studie nicht nur Freunde machen), ist notwendig und auf manchen Ebenen auch überfällig. Es wird spannend zu beobachten sein, inwiefern die aufgeworfene Thematik und die formulierten offenen Fragen durch Profession und Disziplin Sozialer Arbeit aufgegriffen werden.

Neben den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen liefert der Band auch ein differenziertes Beispiel qualitativer Forschung und Methodik in der Sozialarbeitsforschung. Die dargestellten Kasuistiken und deren Analysen ermöglichen einen differenzierten Zugang zum Arbeitsfeld und zu den dort untergebrachten KlientInnen, vor allem zu deren biografischen Hintergründen und Nutzungserfahrungen in Hilfe- und Unterstützungsprozessen und sind beispielhaft für Forschungsarbeiten im Feld der Sozialen Arbeit.

Fazit

Ein äußerst wertvoller Beitrag der nicht nur Erkenntnisse biografisch bedingter Nutzungsmuster von Hilfsangeboten im Zwangskontext der Straffälligenhilfe beleuchtet sondern weit darüber hinausweist: die hier aufgezeichneten Erfahrungen, biografischen Verschränkungen und das aktuelle (Nicht-)Nutzungsverhalten beinhalten vielfältige Hinweise um generell die Praxis Sozialer Arbeit in Zwangskontexten kritisch zu hinterfragen. Ganz nebenbei präsentiert die Autorin eine für die Soziale Arbeit äußerst relevante Forschungsstrategie und -methodik, indem sie sich mittels biografisch-narrativer Interviews an die Selbstdeutungsmuster der AdressatInnen annähert und mittels dokumentarischer Methode erschließt und analysiert. Auch aus diesem Grund eine lesenswert exemplarische Lektüre für alle, die Abschluss- und Qualifikationsarbeiten im Bereich der angewandten Sozialwissenschaften verfassen wollen.

Viel zu selten beschäftigt sich die Disziplin Soziale Arbeit mit der Perspektive der Betroffenen, bleiben deren Sichtweise, Erfahrungshintergrund, die individuellen Bedeutungszuschreibungen und die Bewertung professioneller Hilfsangebote unberücksichtigt. Die Untersuchte Gruppe inhaftierter Männer weist unterschiedliches Nutzungsverhalten in Bezug auf die Soziale Arbeit auf, deren Merkmale, Lebensgeschichten und Zugänge zur Sozialen Arbeit analysiert werden. 

Ein äußerst gelungenes Beispiel der AdressatInnenforschung, das Partizipation und Kooperation als zentrale Prinzipien Sozialer Arbeit beschreibt. Damit besteht ein wichtiger Zugang für das Verständnis, welche Motive das Nutzungsverhalten beeinflussen und damit eine Grundlage für die konzeptionelle Weiterentwicklung von Beratungsangeboten im Bereich der Straffälligenhilfe.

Wertvoll für alle Fachkräfte in Hochschule und der Praxis des Straf- und Maßregelvollzugs!

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 11.08.2020 zu: Jeanette Pohl: Wege der (Ver-)Besserung? Erfahrungen Straffälliger mit Sozialer Arbeit. Mit einem Vorwort von Claus Melter. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. ISBN 978-3-7799-6287-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26928.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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