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Erich Hollenstein, Frank Nieslony (Hrsg.): Schulsozialarbeit in mediatisierten Lebenswelten

Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 15.01.2021

Cover Erich Hollenstein, Frank Nieslony (Hrsg.): Schulsozialarbeit in mediatisierten Lebenswelten ISBN 978-3-7799-6147-5

Erich Hollenstein, Frank Nieslony (Hrsg.): Schulsozialarbeit in mediatisierten Lebenswelten. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 978-3-7799-6147-5 Auflage. 263 Seiten. ISBN 978-3-7799-6147-5. 29,95 EUR.

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Thema

Die Schulsozialarbeit als spezialisierte Form der Kinder- und Jugendhilfe am Ort und im Umfeld schulischer Einrichtungen hat in den vergangenen Jahrzehnten einen nachweisbaren Aufschwung durchgemacht. Als Folge von veränderten Lebens- und Familienmodellen, der Etablierung von Ganztagsschulen und Formen des inklusiven Lernens ist das Arbeitsfeld quantitativ und qualitativ stetig gewachsen. Momentan stellen sich allerdings Fragen nach den Auswirkungen von Digitalisierung und Mediatisierung auf die Schulsozialarbeit, die der vorliegende Sammelband mit zahlreichen Beiträgen sowohl theoretisch-konzeptionell als auch empirisch-praxisorientiert facettenreich beleuchtet, um forschungsgestützt zu eruieren, wie die gewandelten Sozialisations- und Enkulturationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen sozialpädagogisch begleitet werden können.

Herausgeber und AutorInnen

Prof. Dr. Erich Hollenstein, geb. 1945, arbeitete bis 2008 als Professor für Soziale Arbeit an der Fakultät V der Hochschule Hannover. Arbeitsschwerpunkte und Lehrgebiete sind Sozialisation, Bildung, Erziehung sowie Gemeinwesenarbeit, Jugendhilfe bzw. Jugendarbeit und Schulsozialarbeit.

Prof. Dr. Frank Nieslony, geb. 1949, arbeitete als Diplom-Pädagoge und Sozialarbeiter. Er war zuletzt als Professor für Sozialarbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Felder Jugendhilfe und Schule, Schulsozialarbeit, Sozial- und Jugendhilfeplanung, Geschlechteridentität und Soziale Arbeit.

Die 26 Mitwirkenden des Bandes, darunter sieben Wissenschaftlerinnen, kommen zumeist aus den Gebieten Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Medienpädagogik, Sozialwissenschaften bzw. Empirische Sozialforschung.

Aufbau und Inhalt

Nach einer Einleitung der beiden Herausgeber gliedert sich der Sammelband in sechs Abschnitte mit unterschiedlich vielen Einzelbeiträgen:

  1. Zugänge: Mediatisierung, Internet und Forschung
  2. Mediatisierte Aneignung von Lebenswelten
  3. Handlungsfelder der Schulsozialarbeit
  4. Aus der Praxis – Für die Praxis
  5. Organisation und Vernetzung
  6. Medienrechtliche Rahmenbedingungen

In der Einleitung stellen Erich Hollenstein und Frank Nieslony die Intentionen des Bandes vor: Es gehe um die „Diskussion und Reflexion“ (S. 8) der Folgen und der Potenziale der Digitalisierung für das Selbstverständnis und die Arbeitsweisen der Schulsozialarbeit, die einerseits „bedingt durch ihre Nähe zur Lern- und Lebenswelt Schule, gefordert [ist], auf diese Mediatisierung zu reagieren“ (S. 8). Andererseits müsse die Kinder- und Jugendhilfe aber auch der Entwicklung folgen, welche die Institution Schule mit der Implementierung eines „digitale[n] Betriebssystem[s]“ (S. 9) vollziehe. Die beiden Schlüsselbegriffe, Digitalisierung und Mediatisierung, stellen die wirkungsmächtigen Faktoren dar, die eine Veränderung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen maßgeblich evoziert haben. Die Herausgeber bestimmen folglich prägnant den aktuellen Problemdruck: „Wird diese Lebenswelt nicht in die Schulsozialarbeit wie auch in andere Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe einbezogen, tritt ein Lebensweltverlust ein.“ (S. 9)

Im ersten Abschnitt liefern drei Beiträge einen systematischen Zugang zu Mediatisierung, Internet und Forschung. Der Bremer Kommunikations- und Medienwissenschaftler Friedrich Krotz arbeitet konzeptionell wie begrifflich höchst präzise heraus, inwieweit Mediatisierung als „‚Metaprozess‘, also als historischer und kulturübergreifender Langzeitprozess verstanden“ (S. 17) werden kann und welche Folgen sich daraus für die Sozialisation zukünftig ergeben. Ein bemerkenswertes Szenario, das Krotz neben anderen vorstellt, besagt, „dass die Medien zunehmend zu einer Instanz werden, die die vielfältigen Erfahrungsformen der einzelnen Individuen zusammen halten, indem sie sie kontinuierlich zueinander in Bezug setzen“ (S. 25). Der Beitrag von Christian Geyer fokussiert nun Dimensionen von „Schulsozialarbeit im Web 2.0“ (S. 27), wozu mehrere Entwicklungstendenzen wie die virtuell-aufsuchende Arbeit, Webwork und hybride Streetwork-Konzepte sowie Dimensionen des virealen Schulhofs beleuchtet werden, um plausibel zu skizzieren, „wie (…) Soziale Arbeit in der virealen Lebenswelt Schule aktiv vollzogen werden kann“ (S. 34). Nicole Ermels Aufsatz geht systematisierend auf den aktuellen Entwicklungsprozess ein, indem darin weniger die einzelne Fachkraft für Schulsozialarbeit fokussiert wird, sondern die Rahmenbedingungen und organisatorisch-institutionellen Gelingensfaktoren, wofür vorrangig „die finanzgebenden Stellen der Schulsozialarbeit in der Verantwortung“ (S. 51) stünden.

Die vier Beiträge des zweiten Abschnitts gehen aus unterschiedlichen Perspektiven den veränderten bzw. sich in Veränderung befindlichen Lebenswelten und mediatisierten Aneignungs- und Sozialisationsprozessen nach. Oliver Schleck und Marc Witzel betrachten die „Breite des Mediatisierungsbegriffs“ (S. 56) und untersuchen Entwicklungsfelder mit Relevanz für Sozialpädagogik und Schule, Ulrich Deinet und Christian Reutlinger richten ihre Analyse auf die Wirkungsmöglichkeiten einer sozialräumlich orientierten Schulsozialarbeit aus. Sie zeigen für mehrere relevante Felder, dass zukünftig „Schulsozialarbeit als Brücke zu den virtuellen Räumen der Jugendlichen“ (S. 75) gedacht und konzipiert sein sollte, um nicht an Attraktivität und Relevanz zu verlieren. Maria Busche-Baumann stellt Ergebnisse einer Online-Befragung zur künftigen Bedeutsamkeit von digitalen Formaten für die Schulsozialarbeit vor und gelangt zu dem Ergebnis, dass die „Schulsozialarbeit einen neuen, erweiterten Bildungsauftrag erhält“ (S. 88), der weit über die Qualifizierung der Jugendlichen für die Arbeitswelt hinausreiche. Erich Hollenstein und Frank Nieslony schließlich betrachten die Veränderung des Lernens durch neue, digital bestimmte Kulturtechniken und plädieren für „neues Lernen“ (S. 93) und dafür, „die Lebensweltorientierung in der realen Welt mit der schulischen Lernwelt und der interaktiven Interessens- und Kommunikationsorientierung in der virtuellen Welt zu verbinden“ (S. 99).

Mit sechs Beiträgen ist der dritte Abschnitt unter der Überschrift „Handlungsfelder der Schulsozialarbeit“ der umfangreichste des Sammelbandes. Die Beiträge analysieren das Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen und damit die veränderten Zugänge zur virtuellen Sozialraumaneignung (Erich Hollenstein und Frank Nieslony), Ausprägungen sozialer Ungleichheit im Bereich digitaler Entwicklungstendenzen und die teilweise mangelhafte technische Infrastruktur der Schulsozialarbeit (Thomas Pudelko) sowie die speziellen Herausforderungen an die Elternarbeit mit transnationalen Familien (Johannes Kloha und Lisa-Marie Kreß). Ferner werden verschiedene Projekte zur digitalen Kommunikation, besonders der Kommunikation im Social Web, vorgestellt (Elisabeth Zügel-Hintz). Darüber hinaus wird für eine Altersgruppe – die Vor- und GrundschülerInnen – gezeigt, welche veränderte Rahmenbedingungen das Aufwachsen von Kindern inzwischen prägen (Daniel Hajok): Lernen unter Beschleunigung, das Sich-Bewegen in medialen Experimentierräumen mit durchaus riskanten Begleiterscheinungen sowie eine latente Überforderung durch Impulse „auf allen Kanälen“ (S. 152) etwa sind omnipräsente Faktoren, die auch für den Übergang vom Kindes- zum Jugendalter Folgen evozieren. Dies hat auch zu Forschungsprojekten geführt, die Möglichkeiten ermitteln, um schulabsente Jugendliche digital zu erreichen. Maria Busche-Baumann stellt dazu das Lehrforschungsprojekt „Schulsozialarbeit in digitalisierten Lebenswelten (SchuSoLe)“ (S. 163) vor und konstatiert resümierend: „Ein Online-Angebot kann für schulabsente Jugendliche sinnvoll an ihrer Lebenswelt anknüpfen, wenn es niederschwellig ist, partizipativ mit Jugendlichen entwickelt wird und von Anbieterseite der Datenschutz gewährleistet werden kann.“ (S. 172)

Der vierte Abschnitt stellt vier Beiträge mit Praxisbeispielen vor. Lisa Egler-Mitschke und Jan Pascal Goldmann schildern Erfahrungen mit bzw. Eindrücke von der Digitalisierung in der Schulsozialarbeit in Wiesbaden unter besonderer Berücksichtigung des Datenbankeinsatzes, Björn von Lindeiner und Christoph Truthe schildern die Durchführung eines Medien- und Sozialkompetenztrainings mit dem Spiel „Minecraft“ in einer 8. Klasse an einer Gesamtschule in Hildesheim. Clemens Beisel zeigt die vielfältigen Ansatzpunkte von Medienprojekten mit SchülerInnen, Lehrkräften, Fachkräften für Schulsozialarbeit und Eltern, ferner erläutert er die Bedeutung der sog. Medienscouts als Peer-to-Peer-Multiplikatoren. Mirko Barheier, Tasmin Hendricks und Wolfgang Foltin „als Mitglieder eines multiprofessionellen Beratungsteams“ (S. 209) schließlich reflektieren in Form eines Fachgesprächs die eigenen Erfahrungen und Blickwinkel auf die Herausforderungen der digitalen Welt im Allgemeinen, ferner diskutieren sie konkrete Eindrücke an einer Gemeinschaftsschule in Nettetal im Speziellen.

Mit dem fünften Abschnitt zu „Organisation und Vernetzung“ – so die Überschrift – wird der Fokus zunächst auf die Gelingensbedingungen für Medienbildung in der Kooperation von Schule, Schulsozialarbeit und Medienpädagogik gelegt. Guido Bröckling untersucht dazu die Potenziale der politischen Medienbildung und hält fest: „Eine Politische Medienbildung kann nur in ihrer kooperativen Form zwischen Schule, Schulsozialarbeit, Jugendarbeit und Medienpädagogik nachhaltig wirken, indem sie die traditionell unterschiedlichen Vorstellungen von gelingender Erziehung und Bildung kooperativ miteinander verbindet“ (S. 235). Anne Schulze fragt nach der Situation in der Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte für Schulsozialarbeit und identifiziert mehrere Ansatzpunkte für eine „digital aufsuchende Sozialarbeit“ (S. 239), welche jedoch immer auf die digitale Rollenkompetenz der SozialarbeiterInnen angewiesen sei, was besonders im Studium angebahnt werden müsse als „eine Grundqualifizierung im Sinne eines digitalen Orientierungswissens“ (S. 247).

Der sechste Abschnitt besteht aus einem Beitrag, der den medienrechtlichen Rahmenbedingungen der Digitalisierung an den Schulen gewidmet ist. Darin erläutert der Medienpädagoge Thorsten Junge die komplexe juristische Gemengelage wegen der europäischen Datenschutz-Grundverordnung und der Datenschutzgesetze der Länder, die besondere Hürden für die Nutzung von Social Media wie Facebook oder Instagram durch die Fachkräfte für Schulsozialarbeit, aber auch durch die Lehrkräfte an den Schulen zur Folge habe. Der rote Faden seines Beitrags lautet: „Insgesamt zeigt sich auch bei der Betrachtung von Social Media, dass zwar unbestritten Potenziale vorhanden sind, aber es sind auch rechtliche Hürden zu beachten.“ (S. 258)

Diskussion

20 Beiträge von 26 AutorInnen dokumentieren eindrucksvoll die Vielfalt der Zugänge zum Thema der mediatisierten Lebenswelten und zu deren Folgen für die Arbeitsweisen, das Selbstverständnis und die Handlungsmöglichkeiten der Schulsozialarbeit in schulischen und außerschulischen Kontexten. Nicht jede Antwort mag eine endgültige sein, aber die Beiträge zeigen, dass wichtige Forschungsfragen für die Schulsozialarbeit im Raum stehen, die hier erstmals systematische Impulse erhalten. Zugleich haben die beiden Herausgeber Erich Hollenstein und Frank Nieslony durch ihren ersten Systematisierungsversuch einen plausiblen und weitgehend tragfähigen Orientierungspunkt für weitergehende Anstrengungen gelegt, das Feld zu gliedern und zu gruppieren. Dabei zeigen die lesenswerten Beiträge, wo bereits erste Erkenntnisse systematisiert werden können – etwa bei Konzepten einer virtuell-aufsuchenden Sozialarbeit – und wo noch erhebliche Desiderata zu verzeichnen sind, etwa bei Wirkungsstudien oder bei den rechtlichen Dimensionen des Arbeits- und Handlungsfeldes.

Fazit

Der Sammelband eröffnet ein neues Arbeits- und Forschungsfeld der Schulsozialarbeit und liefert fundierte und facettenreiche Impulse für die Frage, wie eine Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Kontext von Digitalisierung und Mediatisierung durch die Schulsozialarbeit gestaltet sein kann. Die diversen Beiträge sind sachkundig und forschungsbasiert verfasst, sie zeigen ein hohes Reflexionsniveau, das stets Praxis- und Alltagsbezüge mitdenkt. Insofern wird der Sammelband dem Anliegen der beiden Herausgeber, zu „Diskussion und Reflexion“ (S. 8) über die Rolle und die Gestaltungsspielräume der Schulsozialarbeit beizutragen, im besten Sinne gerecht.

Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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Es gibt 43 Rezensionen von Torsten Mergen.

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ISSN 2190-9245