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Klaus Bendel: Soziologie für die Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 08.12.2020

Cover Klaus Bendel: Soziologie für die Soziale Arbeit ISBN 978-3-8487-5050-4

Klaus Bendel: Soziologie für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2020. 2. Auflage. 250 Seiten. ISBN 978-3-8487-5050-4. 25,00 EUR.

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Thematischer Hintergrund

Lange war Soziologie eine Bezugswissenschaft für die Soziale Arbeit. Das hat sich geändert, seit die Sozialarbeits-Curricula vom Kanon der Zuliefer-Wissenschaften auf die Betrachtung eigenständiger Aktions- und Handlungsfelder umgestiegen sind. Gerade Soziologie als Lehre vom Gesellschaftlichen per se und Sozialarbeitswissenschaft gerieten schon länger in eine fast identitäre Nähe. Bei Themen wie Professionalisierung, Betrachtungsebenen, Generationsbeziehungen, Netzwerken, Sozialstruktur, Armut, Migration und Devianz konnte man oft nicht mehr ausmachen, ob sich ihr Soziologen oder Sozialarbeitswissenschaftler annahmen. Umso ehrenwerter ist es aus soziologischer Sicht, dass sich der an der Abteilung Paderborn der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen lehrende Klaus Bendel einer genuinen Soziologie für die Soziale Arbeit annimmt, die nun in zweiter Auflage bei Nomos Baden-Baden vorliegt.

Autor

Professor Dr. phil. Klaus Bendel leitet den Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, und lehrt dort Soziologie mit Schwerpunkten Soziale Ungleichheit, Soziologie der Behinderten, Sozial- und Gesellschaftstheorie sowie Methoden der Sozialforschung.

Aufbau und Inhalt

Bendel gliedert seine Soziologie für die Soziale Arbeit mit ihren elf Kapiteln in drei Abschnitte: Zunächst werden die handelnde Akteurs- und die strukturierende System-Perspektive unterschieden und es wird der Herausbildung der modernen Gesellschaft mit ihren Subsystemen nachgegangen. Der zweite Abschnitt gilt der Beschreibung der vier biographischen Lebensvollzüge Familie, Kindheit, Jugend und Alter. Der dritte Abschnitt behandelt in zwei Kapiteln die sozialstrukturell verursachte, bessere oder schlechtere Zuteilung von Lebensgrundlagen sowie den Zustand der Armut.

Das erste Kapitel grenzt Soziologie und Soziale Arbeit mit dem beschreibenden Ziel der ersten Disziplin und dem intervenierenden Anstoss des zweiten Gebiets voneinander ab.

Das zweite Kapitel stellt das soziale Handeln als sinnhaftes Reagieren auf Lebensumstände dar, das sowohl als emergent über die unsicheren Erwartungs-Erwartungen als auch über normative Fixierungen und Routinen wiederum als berechenbar eingestuft wird.

Verfestigte Kommunikation erbringt die im dritten Kapitel behandelten gesellschaftlichen Institutionen mit ihrer selbstreferentiellen Verstetigung auf den Plan. Hier ergibt sich durch oszillierendes individuelles Handeln wie auch durch die Zufälligkeit der Verfestigung von kollektiven Mechanismen eine doppelte Kontingenz und somit fragile Gültigkeit.

Im vierten Kapitel geht der Autor der unterschiedlichen Dichte und Regelhaftigkeit in den sozialen Gebilden, nämlich von Gruppe, Netzwerk und Organisation nach.

Das fünfte Kapitel beschreibt die Herausbildung der modernen Gesellschaft mit ihren Subsystemen. Infolge Ökonomisierung, Singularisierung und Beschleunigung können Individuen in der Postmoderne mit ihren immer mehr auseinander driftenden Handlungsmustern überfordert werden.

Solche Risikoschübe tangieren auch die familialen und generativen Handlungsvollzüge, denen Bendel im zweiten Abschnitt nachgeht. Kapitel sechs hebt auf die emotionalen und persönlichkeitsprägenden Momente der Familie ab, die in ihrer stark verbreiterten Formen-Typologie abgehandelt wird. Soziale Kontrolle findet in ihr eher per Aushandlung als per Machtausübung statt.

Die Kindheit wird in Kapitel sieben als Lebensphase mit eigenständigen Bedarfen, Ressourcen und Aktionsmöglichkeiten gesehen. Frühkindliche außerhäusliche Betreuung intensiviert sich. Schulerfolg ist auch abhängig von der elterlichen Bildungs-Affinität. Hoch liegt die digitale Mediennutzung. Das Armutsrisiko stellt sich bei Kindern Alleinerziehender und bei Migrationshintergrund als besonders hoch dar.

Das achte Kapitel Jugend fragt, wie sich soziale Platzierung und Normen-Übernahme in der gestreckten Adoleszenz vollziehen. Innere, autonome Personalisation wird als wesentlicher angesehen denn tradiert angepasste Normübernahme. Die Inkonsistenz des jugendlichen Moratoriums zwischen elterlicher ökonomischer Abhängigkeit und eigenständigem Agieren in den Freizeit- und Bildungsbereichen wird beleuchtet. In ihrer Werteorientierun tendieren Jugendliche mehr zum Postmaterialismus mit Selbstentfaltung, Toleranz und Sicherung der Lebensgrundlagen. An Abweichungen werden Kriminalität, Drogenkonsum und Essstörungen benannt.

Im letzten generativen Kapitel neun wird dem sich ausdifferenzierenden Alter mit materieller Lage, Pflegebedürftigkeit, helfenden Netzwerken und demografischen Verwerfungen nachgegangen. Altersarmut ist noch niedriger als in der Gesamtbevölkerung verbreitet, ältere Frauen aber sind allein lebend stärker davon betroffen.

Der dritte Abschnitt wendet sich der Ungleichheit der Lebenslagen und der Armut zu. Kapitel zehn geht der schwierigen Frage der sozialen Gerechtigkeit am problematischen Begriff der Gleichheit nach. Abgehoben wird bei Umverteilung zur Vermeidung von plumpen Egalisierungskonzepten auf die Berücksichtigung von Leistung, Bedarf und dem Vorteil für die am wenigsten Begünstigten nach John Rawls. Den traditionellen Statuskriterien Bildung, Beruf und Einkommen werden im Rückgriff auf Habitus-Theoreme angefügt Mentalitäten, Milieus, Lebensstile und kulturelles Kapital sowie das Geschlecht. Wo Statusunterschiede unbegründet bestehen, entstehen unliebsame Diskriminierungen und ungerechtfertigte Privilegien.

Hier sind die in Kapitel elf behandelten Armutsphänomene die Folge, denen abzuhelfen ist, soweit die Lebensgrundlagen nicht mehr sicher gestellt sind. Beschrieben werden absolute und relative, objektive und subjektive sowie bekämpfte und verdeckte Armut. Als von relativer Armut betroffen werden Arbeitslose, Geringqualifizierte und Alleinerziehende genannt, deren Armutslage durch Sozialtransfers gemildert wird. Armut bringt weitere Deprivationen sozialer und gesundheitlicher Art mit sich, die durch soziale Hilfen aufzufangen sind.

Diskussion

Auf knappem Raum gibt Bendel eine soziologische Einführung in die Gesellschaft mit ihren Institutionen, Normen und Rollen. Deutlich wird schon in den einführenden Kapiteln Bendels relativ statische Sicht sozialer Prozesse, indem er die Wirkkraft sozialer Strukturen hervor hebt. Die Verschränkung des sozialen Handelns der Individuen und seine Gerinnung zur einheitlichen Groß-Gesellung wird aber nur dann zur Grundlage einer Gesellschaft mit gemeinsamer Kultur, wenn sie aufeinander bezogenes Handeln zur Grundlage hat. So fehlt die Frage nach Brüchen durch Parallelgesellschaften. Leider bringt Bendel das Thema Devianz nur am Rande des Kapitels Jugend zur Sprache und beschränkt sich dabei auf deren Kriminalität, Drogenkonsum und Essstörungen.

Die soziologische Theorie-Geschichte wird aphoristisch knapp durchmessen, etwa wenn auf Seite 34 in einem Satz Max Webers soziales Handeln, George H. Meads symbolischer Interaktionismus und die rationalen Wahlhandlungen James Colemans nebeneinander gestellt weren, ohne zuvor im einzelnen detailliert entwickelt worden zu sein. Besser wäre die Explizierung von wählbarem Handeln und verfestigender Struktur an Beispielen aus der Sozialen Arbeit geschehen statt am Elfmeterschiessen und der Straftat-Zeugenvernehmung: Etwa an sozialarbeitlichen Innovationen wie Drogenbekämpfung, Schuldnerberatung, Schulsozialarbeit oder Hospizhilfe, deren Einführung ja jeweils nicht selbstverständlich war.

Positiv an Bendels Schrift sind die vielen, typografisch in Kasten gesetzten eigenständigen Definitionen, Zusammenfassungen und die zum Nachdenken anregenden Wiederholungsfragen in jedem der elf Kapitel. 

In den einzelnen Betrachtungsfeldern sind im Kapitel Familie die inneren sozialen Dynamiken der verschiedenen Familientypen über die blossen Definitionen hinaus zu wenig erhellt. Dafür sind die statistischen Daten über die verschiedenen Familienformen in Kapitel 6.2 (ohne Tabellen) sehr ermüdend zu lesen und für sozialarbeitliche Interventionen wenig hilfreich. Bei der intergenerativen Altenhilfe durch erwachsene Kinder hätten Verknüpfungs- (bei räumlicher Nähe) und Delegations-Modell (bei geographischer Distanz) erwähnt werden können. So sind hier trotz reichen Datenmaterials wenig sozialarbeitliche Bezüge hergestellt.

Das gilt auch für das reiche Instrumentarium der Jugend- und Erziehungshilfen, das gerade bei Abweichungen/​Straffälligkeit viele Maßnahmen im Sinne der Diversion bereit hält, worauf in Kapitel acht hätte hingewiesen werden können und sollen. Auch fragt sich, ob hier die Gefahr der Peergroups, in eine deviante Gegenkultur zu führen, nicht doch hätte aufgeworfen werden sollen. Der Autor akzentuierte hier lieber Postmaterialismus und Selbstentfaltung. Bei den angesprochenen Abweichungen Straftaten, Drogenkonsum und Essstörungen macht sich das Fehlen von Verweisen auf mögliche (Beratungs-, Erziehungs-, Jugendgerichts-)Hilfen besonders bemerkbar.

Auch bei den Altersproblemen mit demografischen Ungleichgewichten und Unversorgtheit bei Pflegebedarfen hätten innovative Hilfen angesprochen gehört wie etwa Klaus Dörners „Dritter Weg“ mit intermediären Beiständen zwischen Familie und organisierer Altenhilfe. Neue Alten-Wohnformen wie Hausgemeinschaften, Betreutes Wohnen, selbstbestimmte Wohnquartiere und Altenwohnanlagen werden nicht angeführt. Bei der theoretischen Grundlegung sind Aktivitäts- versus Disengagementtheorie bereits an den Schuhsohlen abgelaufen: Hilfreicher wäre hier der Hinweis auf die Kontroverse Kompressions- versus Medikalisierungs-Theorem.

Fazit

„Soziologie für die Soziale Arbeit“ erbringt einen gerafften Einblick in Wesen und Theorien-Geschichte der Soziologie. Zugleich bietet das Werk eine kompakte Übersicht über die neuesten sozialstatistsch erfassten Verhaltensweisen und -veränderungen in Lebenssituationen wie Partnerschaft, Scheidung, Elternschaft, Sozialisation, außerhäuslichen Aktivitäten des Familien-Nachwuchses, generativen Beziehungen und Soziallagen. Mit seiner lexikalischen Datenfülle und seinen sozialhistorischen Rückblenden macht es seine Leserschaft nahezu schwindelig – auch, weil man dahinter oft genug vergeblich nach brauchbaren Ansätzen für sozialarbeitliche Interventionen sucht. Insofern erfolgt Bendels ausgezeichneter Röntgenblick auf Berge und Täler des sozialen Geschehens aus der Vogelperspektive bei gutem Wetter. Abgründe, Deformationen und Schattenseiten wie Devianzen, Abdriften und Unversorgtheit sowie deren Korrekturen und Abhilfen durch sozialarbeitliche Methoden und Maßnahmen bleiben leider überwiegend außen vor. Das zeigt sich schon in der Gliederung daran, dass Bendel der Devianz kein eigenes Kapitel gewidmet hat, sondern abweichendes Verhalten nur in einem Unterabschnitt im Kapitel „Jugend“ abhandelt. Das Buch atmet eher viel statistisch durchaus belegbaren Optimismus aus: Armut ist vielfach passager, die Straftaten Jugendlicher sind eher episodisch, die familiale Altenhilfe funktioniert und die gesellschaftliche Integration der Migranten scheint möglich. In grundsätzlich gesellschafts-ablehnende Aktionen wie Aussteigen, Aggressionen gegen helfende Agenten, No-Go-Areas, Paralleljustiz und Solidaritätsverweigerung wird nicht hinein geleuchtet. Sie mögen statistisch nicht nennenswert zu Buche schlagen; Soziale Arbeit wird aber auch von ihnen tangiert, sie hat sich auch um solche Subkulturen und Gegenwelten zu kümmern.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 102 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 08.12.2020 zu: Klaus Bendel: Soziologie für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2020. 2. Auflage. ISBN 978-3-8487-5050-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26977.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.


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