Thilo Fehmel: Sozialpolitik für die Soziale Arbeit
Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 20.05.2020

Thilo Fehmel: Sozialpolitik für die Soziale Arbeit.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2019.
229 Seiten.
ISBN 978-3-8487-4067-3.
24,90 EUR.
Reihe: Studienkurs Soziale Arbeit.
Thematischer Hintergrund
Die Soziale Arbeit machte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge des deutschen Wirtschaftswunders einen Wandel durch von der notbeseitigenden zur psychosozialen Sozialarbeit. Im Gefolge von Globalisierung und Postindustrialismus scheint es derzeit einen Rückschwung zu materiellen Notlagen zu geben. Das Buch „Soialpolitik für die Soziale Arbeit“ von Thilo Fehmel kann da eine willkommene Aufgabe erfüllen.
Autor
Professor Dr. rer. pol. habil. Thilo Fehmel (51) ist von Haus aus Soziologe mit Schwerpunkt Politische Soziologie und lehrt und forscht derzeit an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig auf den Gebieten Sozialpolitik, Sozialverwaltung, Soziale Ungleichheit, Wohlfahrtsstaatstheorie, Politische Soziologie und Soziologische Theorien.
Inhalt und Aufbau
Das Buch „Sozialpolitik für die Soziale Arbeit“ von Thilo Fehmel stellt eine Verbindung her zwischen dem deutschen Sozialleistungssystem und Sozialer Arbeit. Denn die Sozialarbeitenden exekutieren die Leistungsansprüche ihrer Klientel an der Basis, müssen sich folglich hierin auskennen, haben aber auch Möglichkeiten, die Fortentwicklung des Leistungsrechts zu beeinflussen.
Der Autor gliedert seine Darstellung in neun Kapitel, von denen acht in einem Umfang von je 15 bis 20 Seiten mit der Betrachtung von Einzelaspekten der Sozialen Sicherung etwa gleich lang in einem Leseschritt gut verfolgbar sind. Nur Kapitel 6 mit der Struktur des Sozialleistungssystems geht mit 64 Seiten stark über dieses Maß hinaus und stellt die fünf Sozialversicherungs-Säulen, die Entschädigung sowie Hilfen/Förderung in Armut, Not, Familie und bei Behinderung dar. Der vertiefenden Reflektion dienen in jedem Kapitel eine Lernziel-Einführung sowie am Ende Wiederholungsfragen und spezielle Literaturhinweise (bei Kapitel 6 verdoppelt).
- Kapitel 1 - Unsicherheit als Problem schildert die grundsätzliche Überwindung individueller Unsicherheit durch Zusammenlegung menschlicher Ressourcen in Familie, Märkten und Staat.
- Kapitel 2 - Was ist das Soziale an Sozialer Sicherung? Was ist das Politische an Sozialpolitik? zeigt, wie durch Ressourcen-Umverteilung jeweils bestimmte Lebenssituationen bewältigt werden können. Gewachsene, sich ständig wandelnde Prozesse ermöglichen dies. Als Regulator tritt jenseits von Moral und Ökonomie der Staat auf den Plan.
- Kapitel 3 - Was ist – und welche Rolle spielt – der Sozialstaat? geht der Veranlassung des Sozialstaates zu seinen Aktivitäten nach anhand von funktionalen, institutionellen, kulturalistischen und konfliktualistischen Erwägungen mit dem Ziel der Befriedung seines Gemeinwesens.
- Kapitel 4 - Eine kurze Geschichte des Systems sozialer Sicherung in Deutschland verfolgt die Geschichte Sozialer Sicherung in Deutschland in fünf Phasen: Angefangen von Bismarcks Konstituierung (1) über die Konsolidierungen um die Weltkriege (2), die Rekonstruktion und den Ausbau mit den Fördergesetzen um 1970 (3), den Um- und Abbau-Maßnahmen mit Kürzungen und Deregulierungen ab 1980 (4) sowie der multiplen Integration in den Europäischen Markt und den neuen Gesamtdeutschen Staat samt Einführung der Pflegeversicherung (5).
- Kapitel 5 - Wie wirkt und was leistet der deutsche Sozialstaat? zeigt anhand zeitlicher und internationaler Sozialleistungsquoten-Betrachtungen, dass die soziale Umverteilung in Deutschland den Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung von 24 Prozent auf 16 Prozent senkt; auch der Gini-Koeffizient als Maß ungleicher Einkommensverteilung erweist die angleichende Wirkung durch Absinken von 0,5 vor auf 0,3 nach Transfers.
- Kapitel 6 - Die Struktur des deutschen Systems sozialer Sicherung stellt die umfängliche Sozialleistungs-Trias Versicherung-Versorgung-Fürsore zunächst mit den fünf Sozialversicherungs-Säulen Kranken-, Unfall-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung dar. Grundprinzipien, Dilemmata der Finanzierung und Grenzen werden abgesteckt. Vom Sektor Versorgung werden Beamtenversorgung, Kindergeld und Sonderopfer-Ausgleiche angesprochen. Ausführlich werden im Sektor Hilfe/Förderung die Grundsicherungen bei Arbeitssuche, Alter, Erwerbsminderung und Migration behandelt. Für den Bereich Behinderung erfolgt eine Zusammenschau der einschlägigen Leistungen aus Versicherung, Versorgung und Fürsorge.
- Kapitel 7 - Wohlfahrtspluralismus und Wohlfahrtskorporatismus wirft den Blick auf die zwischen Leistungsträgern und Klientel tätigen Leistungserbringer. Die Sonderstellung der sechs in den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege zusammen geschlossenen freigemeinnützigen Einrichtungen kraft des Subidiaritätsprinzips wird diskutiert. Ihrem lobbyistischen Einfluss auf die Ausgestaltung der sozialen Rechtssetzung wird nachgegangen. Das Aufkommen der die Freigemeinnützigen konkurrenzierenden frei-kommerziellen Leistungserbringer wird festgestellt. Die zunehmende Volatilität des Ehrenamts wird beobachtet.
- Kapitel 8 - Kommunale Sozialpolitik im sozialpolitischen Mehrebenensystem setzt sich mit den steigenden Aufgaben der Kommunen bei nicht ausreichender Finanzierung auseinander. Die Kommunen erbringen übertragene Aufgaben und leisten freiwillige Angebote. Zur Koordination und Kooperation mit anderen administrativen und freien Dienstleistern ist Schnittstellenarbeit durch kommunale Sozialarbeit erforderlich. Netzwerke werden zum Wohl der Klientel geknüpft. Wunsch- und Wahlrechte der Leistungsempfänger sind zu gewährleisten. Sozialarbeitende haben hier Komplexreduktion zu leisten und Anwaltsfunktion wahrzunehmen. So erfolgt eine zunehmende Kommunalisierung der Sozialpolitik, die finanziell belastet und gesteuert werden muss über fixe Budgets und Qualitätsstandards.
- Kapitel 9 - Zum Verhältnis von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit geht von einer Zweiteilung sozialstaatlicher Aufgaben aus. Sozialpolitik deckt allgemein-normale Lebensrisiken ab, der Sozialen Arbeit fallen die davon abweichenden Sonderfälle zu. Inzwischen hat im fordernden Sozialstaat Soziale Arbeit bei den Klienten auch für Akzeptanz zu sorgen. Dabei können Sozialarbeitende entweder ordnungs(sozial)politisch agieren oder sich erweiternd in das Sozialsystem einmischen.
Diskussion
Thilo Fehmel verfolgt in seiner „Sozialpolitik für die Soziale Arbeit“ das Werden der Sicherheit schaffenden staatlichen Sozialpolitik auf der Grundlage breit angelegter, verzweigter wissenschaftlicher Konzepte. Die Vorläufer der staatlichen und vorstaatlichen Stützen wie die städtisch-gemeindliche Armenfürsorge, berufsständische Sicherungen und die Christliche Soziallehre bleiben dabei hinter den sozialwissenschftlichen Theoremen von Kulturalismus, Funktionalismus, Institutionalismus und Konflikttheorien im Hintergrund. Das hängt auch damit zusammen, dass sich der Autor als sicherndes Dreieck auf die drei Institute Familie, Markt und Staat beschränkt und weniger auf intermediäre Instanzen abhebt. In seinem geschichtlichen Abriss will er (Seite 67) darauf explizit „nicht eingehen“. So wird auch das die Sozialpolitik durchziehende Subsidiaritätsprinzip als solches nicht erklärt, lediglich als Begriff benutzt. Bei der Schilderung der Privilegierung der Freien Träger schwingt ein leicht missvergnügter Unterton mit, ohne dass die Leistungen der Freien Wohlfahrt bei der Notbekämpfung nach dem Zweiten Weltkrieg (Suchdienst, Spendenverteilung) gewürdigt werden, ohne die das deutsche Wirtschaftswunder nach der Stunde Null kaum so schnell möglich geworden wäre.
Positiv ist die Betonung der durchgängigen Werte-Fundierung allen sozialpolitischen Handelns zu sehen. Auch die Verschränkung allen sozialpolitischen Agierens mit den politischen Bestrebungen von Machtgewinn und Machterhalt werden gebührend beleuchtet. So wird die Leserschaft tief in das sozialpolitische Ringen mit sozialen Programmen hinein genommen und kann sich die Fragilität, Zufälligkeit und Inkonsistenzen von Sozialsystemen gut erklären. Auch Blicke über Deutschland hinaus erhellen, wobei Gøsta Esping-Andersens Typologie der Wohlfahrtsstaaten bei der Behandlung der Sozialleistungsquoten griffiger hätte exemplifiziert werden können.
Fehmels Darstellung bleibt auf weiten Strecken für die Handlungsbezüge der Sozialarbeitenden zu theorielastig. Das ist für angehende Akteure in sozialen Diensten schade. Die Sicht in der Abgrenzung von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit, wonach sich die Sozialpolitik der allgemeinen Fälle und die Sozialarbeit nur der besonderen Problemfälle annehme (Kapitel 9), ist insofern verkürzt, als die sozialpolitischen Regelungen auch für alltägliche Problemlagen komplex sind und die Klienten auch in Normalfällen sozialarbeitliche Lotsenfunktion benötigen (wie das der Autor u.a. auf Seite 107 feststellt). Auch zerbröselt Normalität durch unterschiedliche Lebensmilieus. Hilfreicher wäre gewesen, reflektiert zu überdenkende Ausgangslagen von Langzeitkranken, Pflegebedürftigen, Querschnittgelähmten, Arbeitslosen, Alleinerziehenden und/oder Asylbegehrenden mit Lösungen einzubringen als wissenschaftstheoretische Diskurse abzustecken.
Im mit 64 Seiten umfangreichsten Kapitel 6 mit der Darstellung der Struktur des deutschen sozialen Sicherungssystems werden noch am ehesten Hilfen für einzelne Bedarfsfälle wie Krankheit, Behinderung, Erwerbsminderung, Alter, Pflegebedürftigket und Migration aufgezeigt. Leicht verwirren kann der Gebrauch des Terminus „Säulen“ einmal für die drei Grundmuster Versicherung-Versorgung-Fürsorge und sodann für die fünf Sozialversicherungszweige (Seiten 99 und 100 versus Seiten 106 und 122). Eine tabellarische Übersicht über die Bücher des Sozialgesetzbuchs SGB fehlt leider.
Sehr schlüssig wird bei den Risiken Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit dem konfliktgeladenen Reformbedarf der Sicherungssysteme zwischen Beitragsfinanzierung und Staatszuschüssen nachgegangen. Die Erwägungen Fehmels sind hier zukunftsweisend und hilfreich. Auch die Gefahren des Rückgangs der Dauer-Normalarbeitsverhältnisse als Basis für hinreichende Sozialversicherungsansprüche werden aufgezeigt, wobei auch einige Hinweise auf die Ideen von Grundeinkommen/Bürgergeld und Bürgerversicherung hätten gegeben werden können.
Der Bereich Versorgung wird in Kapitel 6.3 nur sehr kursorisch gestreift. Beim Komplex Fürsorge sind sehr differenziert behandelt die Unterschiede zwischen strukturellen und individuellen Ursachen für das Misslingen der Eingliederung in die Arbeitswelt. Hilfreich ist die Darstellung von Leistungen für behinderte Menschen in der Zusammenschau der Versicherungs-, Versorgungs- und Sozialhilfe-Leistungen (Seite 155).
Der Bezug der Sozialleistungen zur Sozialen Arbeit ist zwar gegeben, aber nicht immer genügend konkretisiert. So fehlen beschreibende Tätigkeitshinweise von Sozialarbeitenden im Krankenhaussozialdienst, in der Rehabilitationsberatung, für Ausbildungs- und Arbeits-Anbahnung, in der Berufshilfe, in der Armutsbekämpfung, in der Alten- und Ausländerhilfe. Auch das Eindringen anderer Professioneller wie Pflegekräfte (Pflegestützpunkte), Verwaltungswirte (Jobcenter) und eigens Ausgebildete der Sozialleistungsträger (Berufshelfer, Reha-Berater) selbst in Domänen der Sozialen Arbeit hätte kritisch behandelt werden sollen. So wird der Weg beim in Kapitel 9 geschilderten doppelten Mandat zwischen ordnungs(sozial)politischem Besänftigen und erweiternder Einmischung leider leicht in die Richtung der Akzeptanz bei der Klientel mit dem gehen, womit sie abgespeist wird.
Abschließend seien zwei korrekturwürdige Hinweise für Folge-Auflagen gegeben: Auf Seite 68 sind die Einführungen von Unfall- und Rentenversicherung fälschlich mit 1984 und 1989 anstelle 1884 und 1889 terminiert. Auf Seite 153 ist zu korrigieren, dass es sich bei den Ausgleichsabgaben im Schwerbehindertenrecht um monatliche Zahlbeträge handelt, die lediglich jährlich eingezogen werden, was allerdings in SGB IX auch missverständlich formuliert ist.
Fazit
Eine sehr problemorientierte Darstellung der Sozialpolitik in Hinsicht auf Aktionsfelder Sozialer Arbeit wird vorgelegt. Zielkonflikte in den sozialpolitischen Bestrebungen werden deutlich heraus gearbeitet. Bei den sozialpolitischen Akteuren steht der Staat mit seinen Administrationen im Vergleich zu gesellschaftlichen Akteuren wie Kirchen, Berufsverbänden und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen im Vordergrund der Betrachtung. Professionelle Aktionsfelder der Sozialen Arbeit sind in unterschiedlicher Intensität eingefügt: Detailliert bei den Risiken Armut, Behinderung und Pflege, aber eher pauschal bei der Phase Alter, bei familialen Umbrüchen und bei der Jugendhilfe.
Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 20.05.2020 zu:
Thilo Fehmel: Sozialpolitik für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2019.
ISBN 978-3-8487-4067-3.
Reihe: Studienkurs Soziale Arbeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26978.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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