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Verena Friederike Hasel: Der tanzende Direktor

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 09.09.2020

Cover Verena Friederike Hasel: Der tanzende Direktor ISBN 978-3-0369-5800-2

Verena Friederike Hasel: Der tanzende Direktor. Lernen in der besten Schule der Welt. Kein & Aber AG (Zürich) 2019. 189 Seiten. ISBN 978-3-0369-5800-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 28,00 sFr.

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Thema

Es geht um das Bildungssystem und die Schulen in Neuseeland. Es steht in der britischen Tradition stehend, wie die Schuluniformen zeigen. Doch hat sich hier ein einzigartiges Schulwesen entwickelt, mit einer besonderen pädagogischen Kultur. Vergröbernd könnte man diese als »konsequent kinderfreundlich« bezeichnen. Als Gesamtschulen sind sie in aller Regel öffentlich finanziert. In einem verbindlichen nationalen Rahmen verfügen sie über eine recht hohe Autonomie. Das soziale Umfeld der jeweiligen Schule ist im neuseeländischen System transparent. Man kann im Internet nachschauen, zu welchem der zehn sozioökonomischen Dezile die Schule gehört. Je tiefer das Dezil, desto höher eine teilweise kompensierende staatliche Schulfinanzierung. Neuseeland rangiert seit Jahrzehnten bei internationalen Vergleichsstudien zu Schulleistungen auf den oberen Rängen. In einer Mischung zwischen Erlebnisbericht und Sachbuch gibt die Autorin Einblicke in diese faszinierende Bildungswelt, mit Schwerpunkt bei alltäglichen Situationen des Unterrichts.

Autorin und Entstehungshintergrund

Die ausgebildete Psychologin hat bereits einen Entwicklungsroman veröffentlicht, ein Kinderbuch, jüngst ein demokratietheoretisches Manifest. Im Hauptberuf ist sie freie Journalistin mit breitem Themenspektrum. In den 2010er Jahren verbrachte sie mit Mann und drei Töchtern ein halbes Jahr in ihrem Traumland Neuseeland. Die damals Achtjährige und auch die mittlere Fünfjährige besuchten die Primarschule in einem kleinen Ort nahe der Grossstadt Auckland. Deren Direktor ist namensgebend für das Buch. Aus dieser Schule »auf dem Hügel« schöpft die Autorin viele ihrer Erzählungen, Berichte und Reflexionen. Sie hat auch andere Schulen besucht, darunter auch solche in ärmeren Wohngegenden.

Das Buch ist Anfang 2020 bereits in dritter Druckauflage erschienen. Ursprünglich trug es den Haupttitel «Whanaungatanga». Dieses Wort aus der Maori-Sprache meint das in Familien- oder Verwandtschaftssystemen durch gemeinsame Erfahrungen und Kooperation entstandene Gefühl der Zugehörigkeit. Dass die Kultur der Maori mit ca. 15 % Bevölkerungsanteil die Schulen Neuseelands mitgeprägt, ist einer der Erzählstränge.

Inhalt

Das Buch besteht aus 18 Kapiteln mit Überschriften wie »Radierer verboten«, »Ein Hund im Klassenzimmer« oder »Verliebte Vulkane». Wie Differenzierung und Individualisierung angesichts heterogener Lernvoraussetzungen gelingen können, wird ganz praktisch gezeigt: Jedes Kind bekommt alle drei Monate eine individuelle Karte mit für es schwierigen Wörtern oder Wörtergruppen. Mit grünem, niemals mit rotem Stift, gibt die Lehrperson Anregungen für Verbesserungen. Das »Lernen Sichtbar Machen« nach John Hattie spielt eine wichtige Rolle: sei es, dass die Kinder auf Zielanzeiger-Haftzetteln ihre eigenen Ziele an den Klassenzimmerfenstern publik machen, dass sie jeden Freitag einen kleinen Film für die Eltern aufnehmen, oder dass das Gespräch mit der Lehrerin mit einem Digitalfoto startet, auf dem individuelle Lernsituationen festgehalten sind. Die Anforderungen werden an das jeweilige Kompetenzniveau des einzelnen Kindes angepasst: Sie sind hoch, denn es geht um optimalen Lernzuwachs: »In der Festlegung der Ziele sind die Lehrer autoritär, bei der Ausgestaltung des Weges dorthin lassen sie den Kindern Freiheit.« Auch kann man nachlesen, wie professionell viele neuseeländische Lehrpersonen Feedback geben, und es nicht mit simplem Lob oder Tadel verwechseln. Schließlich kann man sich überzeugen, dass es sich lohnt, auch Heranwachsende in anspruchsvolle Denkprozesse einzuführen, z.B. eine Meta-Sprache des Lernens mit ihnen zu sprechen.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die tiefe, authentische Wertschätzung von Fehlern. Dies wird auch im deutschsprachigen Schulwesen oft propagiert, seltener gelebt. In einer Szene schreibt die Lehrerin «mythisch» an der Tafel absichtlich falsch, um den Kindern als Modell zu zeigen, wie man Unsicherheit bewältigt. Und dass Rechtschreibfehler nichts, aber auch gar nichts mit den einmaligen Personen zu tun hat, die diese machen. Dass das Lernen tief geht, zeigt sich exemplarisch im Ringen um das Verstehen und das Schreiben ungewöhnlicher Wörter. Dieser und andere Prozesse werden im Klassenraum ganz bewusst mit starken positiven Emotionen verbunden.

Lehrerinnen und Lehrer arbeiten in den neuseeländischen Kollegien eng zusammen, tauschen sich aus, lernen voneinander, besuchen sich gegenseitig in den Klassenzimmern oder machen gemeinsam Unterricht, in gar nicht so kleinen Klassen. – Eine kluge Frage der Autorin an das deutschsprachige Schulwesen: »In unserer Gesellschaft spricht man viel darüber, wie schwer es Alleinerziehende haben, auch emotional. Warum nur lassen wir Lehrer mit den Kindern so alleine?«

Diskussion

Im Kern schaut Frau Hasel aus der Elternperspektive auf das Schulwesen. Sie berichtet über ihr Glück, dass ihre Kinder gerne in die Schule gehen. Dort gewinnen sie womöglich nachhaltig Freude am Lernen, machen wichtige Erfahrungen und erwerben Wissen und Fähigkeiten, von denen sie ihr ganzes Leben zehren können. Den Lesenden bietet sie zahlreiche mikroskopisch genaue Beobachtungen, wie bei Kindern die Liebe zum Lernen und besonders zum Lesen (ja, von Büchern!) geweckt wird. Immer wieder gelingt es der Autorin, mir als Lesendem ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern: Ja: so stellt man sich eine rundum kindgerechte und der offenen Zukunft zugewandte Schule vor.

Die Autorin stellt heraus, dass es nicht allein die engagierten Lehrkräfte sind, die dieses reale, aus mitteleuropäischer Sicht utopische Schulsystem prägen. Dahinter stehen auch die Bildungspolitik, die Wissenschaft und die Eltern. Was zunächst paradox erscheint, wird im Buch lediglich gestreift: Die Bildungsverwaltung steuert vom Zentralstaat aus durch bis hin auf den Rahmen für die einzelne Schule (zum Beispiel durch das »Nationale Curriculum») und deren Finanzierung. Es gibt eine umfassende öffentlich zugängliche externe Evaluation jeder einzelnen Schule. Das Bildungsministerium bietet seit Jahrzehnten ein international wegweisendes digital gestütztes System der Lernförderung. Jede Lehrerin und jeder Lehrer muss jährlich rezertifiziert werden. Dabei spielen Fördergutachten der darauf durch Fortbildungen bestens vorbereiteten Schulleitung eine herausragende Rolle. Dies alles findet statt in einem durch Fehlerfreundlichkeit und Whanaungatanga geprägten Bildungskultur.

Erfrischend argumentiert das Buch abseits normativ aufgeladener pädagogischer Richtungskämpfe. Es setzt sich über Vorbehalte von Lehrerverbänden hinweg, die neben den föderalen Bürokratien und sich profilierenden Bildungspolitiken gerade in Deutschland mitverantwortlich sind für den vergleichsweisen Stillstand in der Unterrichts- und Schulentwicklung. Das Buch schaut in die Unterrichtspraxis und aus der Unterrichtspraxis heraus auf die großen Zukunftsaufgaben der Bildung.

Bei aller Süffigkeit der journalistischen Herangehensweise von Frau Hasel gibt es doch zwei Wermutstropfen: Zum ersten handelt das Buch nicht von »der besten Schule der Welt«. Aus neuseeländischer Denkweise ist «best practice» ein Unwort. Es gibt so viele gute Schulen in Neuseeland. Schulen aus weit auseinanderliegenden Dezilen zu vergleichen wäre unfair. Schulen können so gut sein, weil sie untereinander, und die Schulen mit ihrem politischen und sozialen Umfeld zusammenarbeiten. Die Autorin legt selbst Zeugnis genau darüber ab. Zum zweiten schmerzen die gelegentlichen pauschalierenden Seitenhiebe auf deutsche Schulen und Lehrkräfte: Hier gibt es ebenfalls viele faszinierende Lehrkräfte und Schulleitende, die in ihrem Umfeld Unwahrscheinliches gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern leisten – oft gegen den Mainstream. Auf Anekdoten abgestützte Pauschalverurteilungen reichen nicht, weder für guten Journalismus und erst recht nicht für gute Sachbücher. Vielleicht wäre dies ja sogar in einer weiteren Auflage korrigierbar, zusammen mit einem etwas größeren und aktuelleren Literaturteil.

Fazit

Dieses gut lesbare und auch fröhliche Buch sei allen in den deutschsprachigen Ländern empfohlen, die ihren Optimismus für das nächste Jahrzehnt von Schule und Unterricht stärken wollen. Besonders Studierende der Pädagogik und Lehrkräfte sollten es unbedingt auswerten. Wünschenswert wäre darüber hinaus, dass es von Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern, Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern, Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildnern gelesen wird. Besonders dann, wenn diese eigene schulpflichtige Kinder oder Enkelkinder haben, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an der Vision nicht nur erfreuen, sondern ihr eigenes Handeln entschieden daran ausrichten.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor, Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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Es gibt 25 Rezensionen von Wolfgang Beywl.

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ISSN 2190-9245