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Bo Hejlskov Elvén, Charlotte Agger et al.: Herausforderndes Verhalten bei Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 13.11.2020

Cover Bo Hejlskov Elvén, Charlotte Agger et al.: Herausforderndes Verhalten bei Demenz ISBN 978-3-497-02937-2

Bo Hejlskov Elvén, Charlotte Agger, Iben Ljungmann: Herausforderndes Verhalten bei Demenz. Bedürfnisse erkennen und gelassen darauf eingehen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2020. 133 Seiten. ISBN 978-3-497-02937-2. D: 26,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Reinhardts Gerontologische Reihe - 58.

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Thema

Der Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium wird gegenwärtig recht kontrovers in der Fachliteratur angesichts der vielen Modelle und Konzepte erörtert. Ein Grund hierfür liegt u.a. in dem fehlenden gemeinsamen Orientierungsrahmen auf der Grundlage der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse. Gelten z.B. für jeden Physiker die Naturgesetze, so haben sich im Bereich Demenzpflege in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Richtungen auch hinsichtlich der fachlichen Fundierung etabliert. Die vorliegende Publikation enthält eine teils neue Sichtweise aus Dänemark.

Autor und Autorinnen

Bo Hejlskov Elvén aus Lomma (Schweden) ist als klinischer Psychologe in Praxis und Weiterbildung mit den Schwerpunkten Behindertenpädagogik beschäftigt.

Charlotte Agger aus Kopenhagen (Dänemark) leitet als Fachpflegende ein Demenzzentrum.

Iben Ljungmann aus Hillerod (Dänemark) arbeitet als Psychologin in der Beratung von stationären Demenzeinrichtungen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in drei Teile mit 17 Abschnitten untergliedert.

In der Einführung (Seite 6 – 13) formulieren die Autoren ihre Festlegungen und Vorgehensweisen bezüglich des Umganges mit Demenzkranken. Sie konstatieren, dass die Pflege oft mit Pflegeverweigerung und tätlicher Gewalt seitens der Erkrankten einhergeht und dass die Pflegenden mit diesen Konfliktlagen in der Regel überfordert sind und entsprechend unangemessen reagieren. Mit diesem Buch soll aufgezeigt werden, „dass alle älteren demenziell veränderten Menschen ein funktionierendes Leben aufrechterhalten können, indem sie autonom und in der Lage sind, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen.“ (Seite 9). Des Weiteren wird darauf verwiesen, dass die in dem Buch dargelegten Handlungsstrategien auf einer Kombination der „personzentrierten Pflege“ in Anlehnung an Kitwood und dem „Low-Arousal-Ansatz“ (ein Stressregulations- bzw. Deeskalationskonzept aus der Behindertenpädagogik) basieren.

In Teil 1 (Grundsätze, Seite 15 - 80) erläutern die Autoren anhand kurzer Beispiele aus dem Heimbereich verschiedene Regeln und Orientierungen im Umgang mit Demenzkranken unter besonderer Berücksichtigung demenzspezifischer Verhaltensweisen. Es sind überwiegend Fallbeispiele aus dem Bereich der Überforderung in konkreten Situationen: Wenn z.B. ein Demenzkranker mit verdreckten Fingern an den Gemeinschaftskühlschrank möchte und dabei eine Pflegende umstößt, die sich schützend vor den Kühlschrank stellt. Oder wenn ein Bewohner das Wechseln der kotverschmierten Kleidung im Badezimmer durch mehrere Pflegende fehldeutet und sich mit aller Gewalt dagegen wehrt. Dabei wird sowohl das Verhalten der Demenzkranken als auch die Reaktionsweisen und Interventionsformen der Mitarbeiter u.a.im Rahmen eines Affektregulationsmodells analysiert und interpretiert. In diesem Zusammenhang wird mehrfach auf die Bedeutung von Ablenkungsstrategien bei eskalierenden Interaktionen zwischen Demenzkranken und Pflegenden mittels einiger Fallbeispiele hingewiesen. Hierbei wird auch die Strategie eines fiktiven Telefonats mit der Polizei beschrieben (Seite 66f). Es wird auch darauf verwiesen, dass Demenzkranke nicht mehr lernen können und dass daher Zurechtweisungen bei störenden Verhaltensweisen unwirksam sind. Des Weiteren wird die Wirkung der Reizgefüge der unmittelbaren Umwelt (Licht, Räumlichkeiten, Farben und Geräusche) auf die psychische Befindlichkeit der Bewohner beschrieben. Dabei wird eine Milieustudie in Schweden angeführt, wo durch eine generationsspezifische Möblierung des Wohnbereiches das Wohlbefinden der Demenzkranken deutlich gesteigert werden konnte.

Teil 2 (Fallbeispiele und Aktionspläne, Seite 81 - 109) beginnt mit der Darstellung eines Fallbeispiels: ein ehemaliger leitender Gefängniswärter „Roddy“ hatte die Angewohnheit, Mitbewohner gegen ihren Willen willkürlich einfach in Zimmer zu führen bzw. rollstuhlgebundene Bewohner in eine Abstellkammer zu schieben. Als eine Pflegende ihn daran zu hindern versuchte, wurde sie umgestoßen. Bei ihrem zweiten Versuch, ihn bei seinem Handeln Einhalt zu gebieten, erhielt sie einen Kopfstoß. Eine Kollegin tätigte daraufhin den Alarmknopf, woraufhin drei Pfleger ihn bei starker Gegenwehr überwältigten. Mit ärztlicher Erlaubnis erhielt er anschließend eine Beruhigungsspritze. Es folgt eine ausführliche Analyse der Krisensituation auf der Grundlage des Affektregulationsmodells. Hieran anschließend wird das Modell des fünfstufigen Aktionsplans für Konfliktsituationen beschrieben, das bereits erfolgreich in einer Behinderteneinrichtung in Malmö angewendet wurde. Der anschließend für „Roddy“ entwickelte „Aktionsplan“ besteht in den Stufen 1 - 4 aus den üblichen Ablenkungs- und Beruhigungsimpulsen. In Stufe 5, „wenn Roddy zu aufgedreht ist und sich schon in der Krisenphase befindet“, wird u.a. Folgendes empfohlen: „Die anderen Bewohner nach und nach aus dem Wohnzimmer in ihre Zimmer zu bringen“ und warten, bis „Roddy“ sich beruhigt hat (Seite 93). Im Anschluss werden noch einige knappe Beispiele jedoch ohne „Aktionsplan“ dargestellt und den Abschluss bilden kurze Hinweise auf körperliche Ursachen für demenzspezifische Verhaltensmuster (u.a. Verstopfung, Blasenentzündung, Blutzuckerspiegel und Medikamentennebenwirkungen).

Teil 3 (Zusatzmaterialien, Seite 111 - 133) enthält übersichtsartig einige Informationen über die verschiedenen Formen der Demenz (u.a. Alzheimerdemenz, vaskuläre Demenz), die „personenzentriete Pflege“ u.a. mit den „fünf Grundbedürfnissen“ und den 17 Faktoren der „bösartigen malignen Sozialpsychologie“ sowie das Material für Diskussionen im Rahmen von Falldarstellungen.

Diskussion

Der Anspruch der Autoren, Empfehlungen für den Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium bei krankheitsspezifischen Verhaltenssymptomen zu entwickeln, die überwiegend auf dem Unvermögen der Erfassung und Verarbeitung innerer und äußerer Reizgefüge beruhen, konnte aus der Sicht des Rezensenten nicht eingelöst werden. Dies kann anhand der folgenden Sachverhalte belegt werden:

  • Die Grundannahme, Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium seien autonom (Seite 9), lässt sich weder durch die Erfahrungen in der Pflege noch durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse belegen. Im Gegenteil, die Erkrankten sind aufgrund des neuropathologischen Abbaus völlig hilflos. Man muss sie ähnlich wie kleine Kinder u.a. auch aufgrund der drohenden Selbstgefährdung umfassend pflegen und betreuen, denn bereits im mittelschweren Stadium sind sie nicht mehr zu einer selbstständigen Lebensführung in der Lage.
  • Die Autoren behaupten, dass Demenzkranke nicht mehr lernen könnten. Das mag für bewusste geistige Lernvorgänge wie z.B. das Erlernen einer Sprache zutreffen, doch es gilt nicht für das unbewusste Gewohnheitslernen aufgrund ständiger Wiederholungen (Konditionierung). Und gerade durch Konditionierungsprozesse im alltäglichen Umgang u.a. in Gestalt von Ritualisierungen bei der Pflege und Betreuung nebst der Tagesstrukturierung gelingt es, die Betroffenen in ihre unmittelbare Lebenswelt zu ihrem Wohle einzubinden.
  • Den Autoren kann des Weiteren der Vorwurf gemacht werden, keinen neurowissenschaftlichen Bezugsrahmen für ihre Ausführungen entwickelt zu haben. Der bloße Verweis auf die „personzentrierte Pflege“ und ein Stressreduktionskonzept aus der Behindertenpädagogik bietet keine ausreichende Grundlage zur Erklärung der Fallbeispiele und der entsprechenden Lösungsstrategien. So werden z.B. demenzspezifische Verhaltensweisen in den Beispielen beschrieben, ohne sie jedoch als Realitätsverluste in Form von Desorientierungsphänomenen, Wahn- und zwangsähnlichem Disinhibitionsverhalten gemäß dem neurowissenschaftlichen Stand der Forschung zu klassifizieren.

Es gilt aber auch zu betonen, dass in der Publikation verschiedene wirksame Beeinflussungs- und Lenkungsstrategien in den Fallbeispielen beschrieben werden. So wird z.B. in einem Fall die Strategie des „Mitgehens und Mitmachens“ dargestellt. Leider sind die Autoren in diesem Fall aufgrund der fehlenden neurowissenschaftlichen Fundierung nicht in der Lage, diesen Vorfall als einen Löschungsimpuls gemäß der Verhaltenstherapie zu explizieren. Es wird auch der Fall eines fiktiven Schwimmplans erwähnt, um die Pflegeverweigerung einiger Bewohner bezüglich des Duschens zu umgehen. Dass die Autoren mit diesen „Tricks und Kniffen“ (Seite 69) die Grundsätze ihrer Konzeption einer „personzentrierten Pflege“ sträflich verletzen, scheint ihnen nicht bewusst zu sein. Denn laut Kitwood handelt es sich bei diesen Vorgehensweisen („Tricks und Kniffe“) um „Betrug“, einem Symptom der „malignen, bösartigen Sozialpsychologie“: „Einsatz von Formen der Täuschung, um eine Person abzulenken, zu manipulieren oder zur Mitwirkung zu zwingen.“ (Kitwood 2000: 75).

Fazit

Das vorliegende Buch lässt sich als ein Beispiel für den Sachverhalt einer fehlenden Kongruenz von Theorie und Praxis anführen. Wenn der alltägliche Umgang in der Pflege und Betreuung Demenzkranker mit den postulierten Grundannahmen nicht schlüssig in Deckung gebracht werden kann, wenn also eine implizite Widersprüchlichkeit in Handlung und Norm vorliegt, dann kann keine in sich konsistente Darstellung für das Arbeitsfeld Demenzpflege und Demenzbetreuung gelingen.

Literatur

Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 228 Rezensionen von Sven Lind.

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ISSN 2190-9245