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Jobst Finke, Heinke Deloch et al.: Personzentrierte Psychotherapie und Beratung

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 04.06.2020

Cover Jobst Finke, Heinke Deloch et al.: Personzentrierte Psychotherapie und Beratung ISBN 978-3-497-02896-2

Jobst Finke, Heinke Deloch, Gerhard Stumm: Personzentrierte Psychotherapie und Beratung. Störungstheorie - Beziehungskonzepte - Therapietechnik. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2019. 404 Seiten. ISBN 978-3-497-02896-2. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 16.

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Thema

Die personzentrierte Psychotherapie entwickelte sich ab den 40er Jahren in den USA, aus der Auswertung von Carl Rogers Erfahrungen in der Erziehungsberatung, zentralen Elementen der Humanistischen Psychologie (Abraham Maslow, Charlotte Bühler, Kurt Lewin, Gorden Allport), die der zeitgenössischen psychoanalytischen Ich-Psychologie kritisch gegenüberstand. Otto Rank,ein psychoanalytischer Renegat, hat Rogers mit seinen Arbeiten maßgeblich beeinflusst. Ende der 60er Jahre kommt die nicht direktive Beratung in der BRD an und wird von Reinhard und Anne-Marie Tausch unter dem Namen Gesprächspsychotherapie weiterentwickelt; anschlussfähig ist das Verfahren auch in der DDR, wo Johannes Helm der Protagonist der Bewegung wird. In beiden Teilen Deutschland entstehen schnell curriculare Weiterbildungen. In den 80er Jahren wird die nicht direktive Psychotherapie an vielen Hochschulen die Basis der Kommunikationstrainings in Sozialer Arbeit, Psychologie und Medizin.

Autor

Jobst Finke war als Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Essen und Weiterbildungsbeauftragter. Er ist Lehrtherapeut bzw. Ausbilder in der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG) und der Ärztlichen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (ÄGG). Er ist heute in freier Praxis tätig, Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Texte zur personzentrierten Psychotherapie sowie Referent in diversen Weiterbildungsformaten.

Aufbau

Finkes Buch behandelt auf 400 Seiten und in 13 Kapiteln Störungstheorie, Beziehungskonzepte und klinische Theorie der personzentrierten Psychotherapie. Die Bedeutung des Textes liegt darin, dass hier eine klinische Theorie des Verfahrens vorgestellt wird, das, aus der humanistischen Psychologie kommend, sich einer solchen expliziten Handlungstheorie bisher weitgehend verweigert hat. Damit macht Finke die personzentrierte Methode anschlussfähig an den psychotherapeutischen Mainstream in Zeiten von Operationalisierung, Manualisierung und evidenzbasierter Medizin, ohne jedoch die Essentials der Gesprächspsychotherapie aufzugeben.

Inhalt

Finke beginnt mit einer unerwarteten Verortung der Personzentrierten Therapie: Carl Rogers entwickelte sein Verfahren in den 50er Jahren auch als Reaktion gegen die technisch anmutende und expertenzentrierte Haltung sowohl der Psychoanalyse als auch der damaligen Beratungsformate (und man kann wohl getrost annehmen, auch gegen den damaligen Behaviorismus). Diese Abgrenzung sei heute viel weniger verständlich, verträten doch die intersubjektive Psychoanalyse und die analytische Selbstpsychologie ähnliche Haltungen und selbst die einst „orthodoxe“ Ich-Psychologie ist „objektbeziehungtheoretisch“ weiterentwickelt und inzwischen viel mehr auf die Beziehungsdynamik als auf die Expertenrolle des Therapeuten fixiert. Weitere Gemeinsamkeiten gibt es mit der existenziellen Psychotherapie von Irvin Yalom und der Daseinsanalyse (Medard Boss, Ludwig Binswanger).

Die Personzentrierte Störungs- und Persönlichkeitstheorie, hier knapp auf 40 Seiten dargestellt, kommt konsequent subjekttheoretisch um viele Probleme herum, die in der psychodynamischen Therapie breiten Raum einnehmen: Hier verbergen sich für mich die meisten ungelösten Fragen, gleichwohl scheint das aus personzentrierter Perspektive gar nicht als Problem. So führt Rogers das früher auch von ihm problematisierte Thema der Übertragung auf eine Art Fehlhaltung des Therapeuten zurück: Wenn der Therapeut die an ihn adressierten Gefühle und Vorstellungen vorbehaltlos akzeptierend versteht, dann löst sich die Übertragung eben im Laufe Prozesses auf. Das sei natürlich ein Mythos. Was hier aber deutlich wird: Eine lebendige psychotherapeutische Bewegung ist lernfähig und integriert neue existenzielle Probleme und findet Auswege für methodische Sackgassen. So entwickelt sich die personzentrierte Methode auch weiter, indem sie differenzierte klinische Konzepte für unterschiedlichen Zielgruppen und selbst Krankheitsbilder entwickelt, ohne Carl Rogers Grundüberzeugung „Das Leben ist keine Krankheit“ aufzugeben.

Die personzentrierte Praxis ist wohl nach wie vor um die zentralen Topi „Einfühlung und Verstehen“, „Beziehungsklären“ und „Selbstöffnen“ organisiert, diese Praxisformen sind relativ genau beschrieben und seit vielen Jahren bereits liegen sorgfältige Studien vor, die die Wirksamkeit der therapeutischen Basisvariablen belegen, nicht nur das; die Effektstärke scheint zu steigen, wenn Therapeut*innen diese Variablen besonders kongruent verkörpern. Da sich diese Forschungen nicht um die gesundheitspolitisch gewollte Methode der randomisierten, verblindeten Vergleichsstudien (RCT's) kümmert, hat die PZP bis heute mit einer skeptischen Beurteilung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie beim Gemeinsamen Bundesausschuss zu kämpfen, was dazu führte, das diese Behandlungsmethode in Deutschland lange ein Nischendasein führen musste.

Im Kapitel ‚Weiter- und Parallelentwicklungen zur Personzentrierten Psychotherapie‘ wird besonders auf das Focusing rekurriert. Damit ist auch der Übergang zur „leibzentrierten“ Therapie beschrieben – sicher nicht die einzige Verbindung zwischen Körper und Seele auf die sich die personzentrierte Methode bezieht, aber gewissermaßen der Königsweg.

Nach einer erneuten relativ breiten Untersuchung existenzieller Fragestellungen innerhalb der PZP kommt Finke zur Behandlung der Diagnostik und Indikation: Hier ist die PZP sicher am meisten über Carl Rogers Schatten gesprungen, war doch früher jedes Diagnostizieren innerhalb des klientzentrierten Ansatzes verpönt und gewissermaßen eine verdinglichende Praxis. So verwundert es etwas, wenn Finke die ICD- oder DSM-Diagnostik als Mindestanforderung vor Aufnahme einer Psychotherapie darstellt. Der Rest des diagnostischen Kapitels kann inklusive Fallbeispiel auf etwa 5 Seiten abgehandelt werden: Die Diagnostik ist so marginal weil es in Wirklichkeit, auch wenn Finke sich darum bemüht, keinen wirklich differenzierten klinischen Handlungskontext gibt. Zwar werden im weiteren über 150 Seiten differenzierte Behandlungsstrategien für unterschiedliche Störungen beschrieben. Das behandlungstechnische Vorgehen ist jedoch nicht wirklich „störungsspezifisch“ in eine differenzierten Krankheitslehre der PZP verankert, sondern orientiert sich ziemlich beiläufig an Persönlichkeitsstilen, die den unterschiedlichen Störungen eher impressionistisch zugeschrieben werden. Hier also taucht die Idee wieder auf „Leben ist keine Krankheit“, und natürlich dem auch nicht zu widersprechen.

Diskussion

Obwohl viele Schnittmengen bestehen, gibt es doch einen unüberbrückbarer Konflikt zwischen personzentrierter und psychodynamischer Haltung. Der ist geringer im Vergleich mit Autoren wie Martin Altmeyer oder zu den intersubjektiven und relationalen Vertreter*innen (wie z.B. Merton Gill, Jessica Benjamin oder Robert D. Stolorow, Bernard Brandchaft, George E. Atwood), zwischen PZP und Kleinianern oder anderen objektbeziehungstheoretischen Schulen scheint er unüberbrückbar. Oder anders ausgedrückt: Selbst die empirisch (OPD-) fundierte psychodynamische Therapie im Gefolge Gerd Rudolfs dürfte sich mit der wissenschaftlichen Begründung der PZP schwertun. Personzentrierte Konzepte stehen in einer Art Ergänzungsreihe zu bestimmten psychodynamischen Konzepten mit beachtlicher Schnittmenge. Je mehr ein psychodynamisches Konzept jedoch von kleinianischen Ideen beeinflusst ist, desto stärker handelt es sich um ein alternatives Konzept, im Sinne des gegenseitigen Ausschlusses.

Für die Behandlung von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, eher Domäne der psychodynamischen Verfahren, beurteile ich den Beitrag der PZP eher gering.

Die größte Verbesserung der Versorgungssituation ließe sich wohl erreichen, wenn Ärzte aller Disziplinen PZP als Basispsychotherapie erlernten. Hier steht die PZP Seite an Seite mit den psychodynamischen Kolleg*innen, die mit ihren Balint-Gruppen (psychodynamischen Fallkonferenzen) versuchen, analytische Kompetenz auch den Patient*innen zukommen zu lassen, die keinen Weg in eine individuelle Therapie finden können.

Die gegenwärtigen Entwicklungen – warenförmige Ökonomisierung zuallererst – scheint auf lange Sicht zumindest im deutschen Sprachraum, wohl auch vom Gesundheitssystem erzwungen (versteckte Rationierung), zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung und gleichzeitig zeit- und zielorientierten Annäherung psychotherapeutischer Orientierungen (was hilft für wen?) zu führen. Ob sich dabei einmal eine Allgemeine Psychotherapie, im Sinne des Empirismus eines Klaus Grawe (1998) entwickeln wird, darf bezweifelt und sollte nicht angestrebt werden. Besser wäre die Etablierung psychotherapeutischer Kulturen, die gleichberechtigt miteinander interagieren und mit unterschiedlichen Menschenbildern von Patient*innen und Therapeut*innen korrespondieren.

Für die Behandlung von Kindern hat sich schon sehr früh (1947) die nicht-direktive Spieltherapie von Virginia M. Axline ausdifferenziert. Die deutsche Übersetzung erschien 1971 mit einem Vorwort von Reinhard Tausch, dem Nestor der personzentrierten Methode in Westdeutschland. Die Fachorganisation der nicht-direktiven Therapeut*innen hat bereits 1978 eine Rahmenrichtline für Kinderpsychotherapeuten verabschiedet. Die Nicht-Beachtung der Kindheit als Entwicklungsphase und Raum therapeutisch vermittelter Veränderungen erlebe ich als einen Mangel des vorliegenden Werks; Zeitlichkeit wird nicht ernstgenommen, alles scheint sich auf den Augenblick der Begegnung zu fokussieren. leicht beheben. Die Verweise auf Kinder sind spärlich, selbst die vorgestellte personzentrierte Familientherapie beschäftigt sich mehr mit den Anliegen der Eltern. Für eine neue Auflage ließe sich diese Lücke schließen.

Personzentrierte Psychotherapie verfolgt weiterhin die eigene subjektzentrierte Perspektive ohne sich der zunehmend ökonomisierten Logik in unserem Gesundheitswesen zu unterwerfen. Trotzdem scheint Aussicht zu bestehen, die Überwindung der sozialrechtlichen Barrieren, des deutschen Leistungsrechts zu erreichen und in den Bereich der krankenkassenfinanzierten Psychotherapie gelangen. Das erforderte wohl weitere klinische Wirksamkeitsnachweise. Ich vermute, dadurch würden viele Verhaltenstherapeuten (die auch PZP gelernt haben), ihre eigene eher technizistische Vorgehensweise, durch die humanistische Perspektive der PZP erweitern. Für die Versorgungslandschaft und die Qualität der Patientenversorgung dürfte das Ergebnis eindeutig positiv ausfallen.

Fazit

Trotz meiner Einwände ist das Buch die aktuell wohl umfassendste Einführung in das personzentrierte Verfahren. Es beschreibt ausführlich theoretische Hintergründe, besonders seine anthropologische Einbettung, historische Quellen und Anwendungsformen. Angrenzende Felder und inhaltliche Weiterentwicklungen finden Raum. Als Basislektüre für Studierende der Psychologie, Psychotherapie, Sozialen Arbeit ist das Buch sehr nützlich. Für eine curriculare Weiterbildung als Psychotherapeut*in stellt es eine erste Auseinandersetzung mit dem Feld dar. Besonders gelungen ist die Ausarbeitung der ideengeschichtlichen Voraussetzungen des personzentrierten Verfahrens als subjektwissenschaftliche klinische Theorie, die auch dem erfahrenen Kliniker vertiefte Einblicke ermöglicht.

Literatur

Andersen, Rob (1997): The Martin Buber-Carl Rogers Dialogue: A New Transcript. With Commentary, New Yorrk: Suny Press

Antonowsky, A. (1987): Unraveling the mystery of health: How people manage Stress and stay well. San Franzisko: Jossey-Bass

Binswanger, Ludwig (1957, 1994): Der Mensch in der Psychiatrie, in: Ausgewählte Werke Bd. 4, Hg. von Alice Holzey-Kunz, Heidelberg: Asanger

Balint, Michael (1957, dt. 1965): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit, Stuttgart: Klett Cotta

Balint, Enid und J.S. Norell (1977): Fünf Minuten pro Patient. Eine Studie über Interaktion in der ärztlichen Allgemeinpraxis, Frankfurt: Suhrkamp

Buber, Martin (1923 erste Veröffentl., 13. Aufl. 1997): Ich und Du., Gerlingen: Lambert Schneider

Fonagy, P. et al. (2015): What fits for whom? A criticial review of treatments for children and adolescents. Guilford Press, Second Edition.

Gill, Merton M. (1982, dt. 1996): Die Übertragungsanalyse. Theorie und Technik, Frankfurt: Fischer

Grawe, K. (1998) Psychologische Therapie. Göttingen: Hogreve

Mann, Frido (1981): Ein Handlungsmodell für partnerschaftliche Konflikt- und Problemlösung für Einzel- und Gruppenarbeit im Bereich einer sozial orientierten Psychiatrie, in: Katzenstein, Alfred und Achim Thom: Ausgewählte theoretische Aspekte psychotherapeutischen Erkennens und Handelns, Jena: Fischer

Sack, M. (2018): Individualisierte Psychotherapie, Stuttgart: Schattauer.

Sack, M. (2010): Schonende Traumatherapie – ressourcenorientierte Behandlung von Traumafolgestörungen. Stuttgart: Schattauer

Stolorow, Robert D., Bernard Brandchaft, George E. Atwood (1987, dt. 1996): Psychoanalytische Behandlung. Ein intersubjektiver Ansatz, Frankfurt: Fischer

Weizsäcker, V. (1940): Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. Stuttgart: Thieme

Weizsäcker, V. (1956): Pathosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Yalom, Irvin D. (2000): Existentielle Psychotherapie, Köln: Edition Humanistische Psychologie

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 42 Rezensionen von Ulrich Kießling.

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ISSN 2190-9245