Michael Wertheimer: Facets of an academic’s life
Rezensiert von Prof. Dr. Hellmuth Metz-Göckel, 26.05.2020
Michael Wertheimer: Facets of an academic’s life. A memoir. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2020. 545 Seiten. ISBN 978-3-658-28769-6. D: 90,94 EUR, A: 93,49 EUR, CH: 100,50 sFr.
Autor
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die Memoiren von Michael Wertheimer, der als Sohn von Max Wertheimer 1927 in Berlin geboren wurde. Max Wertheimer war einer der Mitbegründer der Gestalttheorie. Er hatte 1933 eine Professur an der Universität Frankfurt, als er aufgrund der Nazigesetze seine Stelle verlor und sich daraufhin entschloss, mit der Familie (Frau, drei Kinder, darunter Michael) in die USA auszuwandern.
Dies und die weitere Bildungs- und Berufsgeschichte von Michael Wertheimer, einschließlich sehr vieler Informationen über die Familie, Hobbys etc. sind in den Memoiren ausführlich beschrieben und durch Fotos und Abbildungen belegt.
Das Buch ist demnach aus verschiedenen Perspektiven interessant, wobei wir uns auf das Schicksal einer von den Nazis vertriebenen Familie und auf den wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang eines Psychologen vom Studium bis zur Professur in den USA konzentrieren. Dabei werden sich einige Besonderheiten des US-amerikanischen Universitätswesens in der fraglichen Zeit von ca. 1940 bis 1993 aufzeigen lassen. Vielleicht haben sie sich seitdem gar nicht so sehr verändert.
Aufbau
Der eigentliche Text der Memoiren umfasst 236 Seiten. Ein ausführlicher Anhang enthält den wissenschaftlichen Werdegang, die circa 500 Positionen umfassende Publikationsliste (Bücher, Artikel, Vorträge); außerdem seine vielen Aktivitäten in der universitären Selbstverwaltung und diejenigen in Fach- oder Berufsorganisationen wie der American Psychological Assoziation (APA).
Im Anhang findet sich auch eine Reihe von eher privaten Dokumentationen, wie Tagebücher, Gedichte, Fotos, Zeichnungen, etc. Das Buch ist sehr aufwändig verlegt; es enthält Fotos von praktisch allen darin erwähnten Personen.
Die folgenden Ausführungen sind alle dem Buch entnommen, also referiert. Nur im Punkt Fazit sind Interpretationen des Rezensenten wiedergegeben.
Inhalt
Familie und Emigration
Die Familie bezog nach der Schiffspassage 1933 ein Haus in einem Vorort von New York, und Max Wertheimer erhielt eine Professur an der New School for Social Research (New York), die viele Emigranten aufnahm. Michael berichtet auch, dass er ein liebevoller, aufmerksamer Vater war, jedenfalls wenn es seine wissenschaftliche Tätigkeit zuließ. Es wurde in der Familie viel musiziert und gesungen, wobei noch oft deutsches Liedgut gepflegt wurde (Zupfgeigenhansl etc.). Es gibt im Text immer auch Hinweise darauf, dass in der Familie noch lange deutsch gesprochen wurde.
Die Familie hatte zunehmend Kontakt mit anderen Familien, aber gelegentlich auch Besuch von später bekannt gewordenen Psychologen, die zum Teil ebenfalls Emigranten waren. So etwa kam Rudolf Arnheim zum Babysitten in die Familie. Arnheim hat später Gestalttheorie und Kunstpsychologie in derart überzeugender Weise mit einander vereinigt, dass man ihm an der Harvard University eine eigene Professur einrichtete. Auch Abraham Luchins, ein Doktorand von Max Wertheimer, verkehrte in der Familie; ebenso Salomon Asch, ein Sozialpsychologe, der besonders durch seine Experimente zum Gruppendruck auf die Urteile Einzelner bekannt wurde. Er half Max Wertheimer bei seinen englischen Texten, insbesondere bei der Übersetzung des Buches ‚Produktives Denken‘, was offensichtlich eine für beide sehr anstrengende Erfahrung gewesen war. Max Wertheimer starb 1943 im Alter von 63 Jahren.
Studium
Michael Wertheimer absolvierte seine Studien zunächst am Swarthmore-College, dann wechselte der zur Johns Hopkins- und schließlich zur Harvard-University. Er berichtet, dass Wolfgang Köhler bei seiner Hochschulausbildung Ratgeber und Förderer war. Köhler war neben Max Wertheimer und Kurt Koffka Begründer der Gestalttheorie (Berliner Schule). Wolfgang Köhler ist durch die denkpsychologisch sehr wichtigen Schimpansenuntersuchungen auf Teneriffa, aber auch durch einschlägige theoretische Schriften zur Gestalttheorie bekannt geworden. Als Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Berlin war er erheblichen Schikanen durch die Nazis ausgesetzt und entschied sich ebenfalls, in die USA auszuwandern. 1938 nahm er eine Professur am Swarthmore College (Pennsylvania) an. Köhler hat dann wohl Michael Wertheimer geraten, dort zu studieren; auch Hans Wallach, ebenfalls ein Emigrant, gehörte zum Lehrkörper.
Obwohl die Leistungen im Studium nicht besonders berückend waren, geriet Michael Wertheimer („possibly again with Köhlers help“, S. 60) in ein spezielles Förder-Honors-Programm (mit individueller Betreuung der wenigen Studenten), was zu der Entscheidung führte, eine akademische Karriere einzuschlagen.
Nach dem Übergang zur Johns Hopkins University in Baltimore war es wieder Wolfgang Köhler, der ihm riet, sich – nach vielen Kunst-, Sprachen- und ‚Humanities‘-Studien in der College-Ausbildung – nun der experimentellen Psychologie und den Naturwissenschaften zuzuwenden. Das war dann der Anlass, sich für das Studium der Psychologie zu entscheiden.
Er musste feststellen, dass sich die theoretische Orientierung der Psychologie-Vertreter an den verschiedenen Universitäten stark unterschied. Er war aufgrund der Studien am Swarthmore College (und auch von zuhause aus) stark an der Gestalttheorie orientiert. Dies sollte sich dann an der Johns Hopkins University als falsch erweisen; hier war der Geist des Behaviorismus noch am Leben, der nur objektives Verhalten als forschungswürdig erachtete. Bei den Gestalttheoretikern war die Untersuchung der Wahrnehmung Ausgangspunkt vieler Erkenntnisse. Nach behavioristischer Lehrmeinung könne sie aber aufgrund ihres subjektiven Charakters nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung sein, und ‚Ganze‘, die bei den Gestalttheoretikern im Mittelpunkt des Interesses standen, seien nichts anderes als der assoziative Zusammenschluss der zugrundeliegenden Elemente. Das zeigte sich auch in der akademischen Lehre (Frontalunterricht in Vorlesungen) und Multiple-Choice- und Wahr-Falsch-Fragen in den schriftlichen Prüfungen. An der Harvard Universität herrschte dagegen der Strukturalismus vor, und Gestalttheorie, aber auch Psychoanalyse wurden lächerlich gemacht.
Nach der Graduierung an der Johns Hopkins University wechselte er an die Harvard University (Cambridge, Massachusetts) in ein Promotionsprogramm, in das nur drei oder vier Studierende im Jahr aufgenommen wurden. Wenngleich die Gestalttheorie dort keine hohe Akzeptanz hatte, spielte doch die Tatsache, dass er Sohn von Max Wertheimer war, eine Rolle. Einige Fakultätsmitglieder hatten früher mit diesem Kontakt, z.T. noch in den Jahren vor der Emigration. Michael Wertheimer begegnete in Harvard einer Reihe bekannter Psychologen wie B.F. Skinner, S.S. Stevens, E.G. Boring, K.S. Lashley, G.v. Bekesy.
Finanzierung des Studiums
Nach den Darstellungen hatte die Familie nach der Emigration ihr Auskommen, aber gewiss keine Reichtümer, um den Sohn das Studium zu finanzieren. Freunde des Vaters unterstützten Michael Wertheimer in den ersten Collegejahren, „but after that I believe I managed to make my way financially myself“ (S. 98).
Er berichtet auch von vielen Stipendien und Förderprogrammen, in deren Genuss er im Verlaufe seiner Studien kam, ohne sich im Einzelnen daran erinnern zu können. Ein solches Programm (‚Parker Fellowship‘, S. 98) war dann ausschlaggebend, sich an der Harvard-Universität bewerben zu können und auch aufgenommen zu werden.
Mehrfach hatte er – in unserer Sprache – Hilfskraftjobs in Form von Lehr- und auch Forschungsassistenzen. So fungierte er als Lehrassistent in einer Psychologie-Einführung bei E.G. Boring.
Spezielle Forschungsbeteiligungen
An der Hopkins University war er Forschungsassistent in einem Projekt von Salomon Asch, und zwar bei Nachuntersuchungen zu dessen Untersuchungen zum Gruppendruck auf einzelne Personen, eine inzwischen klassische Studie. Bei einer einfachen Beurteilungsaufgabe gab eine vorinstruierte Zahl anderer Versuchsteilnehmer falsche Beurteilungen ab, denen sich die eigentliche Versuchsperson in bis zu 70 % der Fälle – trotz Zweifel – anschloss. Michael Wertheimer hatte freie Hand bei einer Reihe von Nachuntersuchungen, z.B. die Bedeutung der Größe der falsch urteilenden Mehrheit oder die Auswirkung einer weiteren nicht vorinstruierten, also ‚echten‘ oder ‚naiven‘, Versuchsperson. Asch publizierte die Ergebnisse dieser Untersuchungen ohne Michael Wertheimer zu erwähnen, noch nicht einmal in einer Fußnote. Dieser fühlte sich daraufhin ‚disappointed‘ und sogar ‚cheated‘ (S. 231).
Bei einer anderen Forschungsassistenz hatte er das Erkennen von Lichtblitzen auf einem Monitor zu untersuchen und lernte dabei sehr viel über Versuchsplanung und -auswertung. Da dieses Projekt als militärisch relevant klassifiziert wurde, wurde Michael einem Sicherheitscheck unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass er nicht ordnungsgemäß eingebürgert war, obwohl seine Eltern diesen Status bereits hatten. Mit Hilfe der Universitätsverwaltung wurde ihm dann die US-Staatsbürgerschaft zuerkannt, „so this potential threat to US security was removed“ (S. 83).
Für B.F. Skinner (Harvard University) führte er Untersuchungen zum Tischtennisspiel von Tauben durch. In einem Ping-Pong-Spiel sollten diese lernen, sich kompetitiv zu verhalten, indem sie den Ball heftig in den Bereich der anderen Taube pickten, was belohnt wurde. Sie gaben das kompetitive Spiel aber schnell auf, nachdem sie merkten, dass der Ball aufgrund der Versuchsanordnung immer mal wieder in die richtige Richtung lief. Sie mussten ihn nur laufen lassen, und bekamen dann ebenfalls die Belohnung, ohne darauf zu picken. Wie Skinner auf diesen Misserfolg reagierte, berichtet Michael Wertheimer nicht.
Fachliche Schwerpunkte
Michael Wertheimer hatte im Verlauf seiner Studien Erfahrungen mit verschiedenen Themen der Psychologie: Grundlagen der Psychologie, Experimentelle Psychologie, Psycholinguistik und Spracherwerb. Ein Schwerpunkt war ‚Geschichte der Psychologie‘, worüber er ein sehr erfolgreiches Lehrbuch schrieb. Nach der Promotion hatte er sogar eine Stelle als klinischer, psychoanalytisch orientierter Psychologe inne. Dazu kamen die schon erwähnten unterschiedlichen theoretischen Orientierungen an den verschiedenen Universitäten: Gestalttheorie, Behaviorismus, Strukturalismus. „Eventually this did result in a kind of somewhat uncomfortable eclecticism in my own theoretical bent, but with a high value on empiricism, experimentalism, objectivity, and a respect for convincing evidence and rational argument—and also a hefty dose of Gestalt thought“ (p. 230). Nachdem die ‚kognitive Psychologie‘ aufgekommen war und sich durchsetzte, fand er diese Richtung der Psychologie so überzeugend, dass er sich damit identifizieren konnte.
Professur in Boulder Colorado
Eine Promotion an der Harvard University und eine Reihe von Publikationen in angesehenen (peer-reviewed) Zeitschriften eröffnete viele Möglichkeiten bei der Stellensuche. Er betont auch, dass Bewerbungen damals weniger kompliziert waren als später (oder als heute bei uns in Deutschland). Michael Wertheimer erhielt zunächst eine Lebenszeitstelle an der Wesleyan Universität in Middletown, Connecticut. Die Krönung der akademischen Laufbahn war dann ab 1955 eine Professur an der University of Colorado in Boulder, die er bis zur Emeritierung (1993) innehatte.
Fazit
Was ist interessant an diesen Memoiren? Weshalb lohnt die Lektüre? Da ist zunächst einmal das Schicksal einer Familie, die aufgrund von Nazi-Willkür emigrieren musste. Allerdings waren die Startchancen in diesem Fall aufgrund der wissenschaftlichen Reputation des Vaters recht gut; er erhielt sofort eine Professur. Die Familie hat sich mit noch sehr vielen deutschen Bräuchen, Liedern etc. dann offenbar recht gut etabliert und auch in die neue Umgebung integriert.
In den Memoiren stellt Michael, ein Sohn dieser Emigrantenfamilie, seine akademische Entwicklung dar, wobei man sehr viel über Besonderheiten des US-amerikanischen Universitätswesens aus der damaligen Zeit (ev. auch noch heute) erfährt. Der Autor zeigt, dass es offensichtlich möglich war, über vielfältige Förderungen, Stipendien und Hilfskrafttätigkeiten das eigene Studium zu finanzieren.
Auffallend war die sehr unterschiedliche theoretische Orientierung der Psychologie an den verschiedenen Universitäten. Und da er sich früh für das Fach Psychologie entschied, hatte er viel Kontakt und auch Kooperationen mit bekannten Personen aus der Geschichte der Psychologie.
Die Besonderheiten des US-amerikanischen Hochschulwesens dürften aber auch für Nicht-Psychologen interessant sein.
Bei unserer Perspektive auf Karriere und das Fach Psychologie blieb ausgespart, was einen weiteren Zugang zum Autor der Memoiren eröffnet. Nämlich die vielen Informationen (und Fotos und andere Dokumentationen) zu der wachsenden Familie, und seinen Freizeitaktivitäten wie Skifahren, Segeln, Bergsteigen, Gärtnern und Kochen. Trotz des privaten Charakters verweisen sie in gewisser Weise auf die US-amerikanische Kultur, allerdings oft eingefärbt durch Elemente des Herkunftslandes.
Es gibt also viele Gründe, die Lektüre des sehr aufwändig verlegten Buches zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Hellmuth Metz-Göckel
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Zitiervorschlag
Hellmuth Metz-Göckel. Rezension vom 26.05.2020 zu:
Michael Wertheimer: Facets of an academic’s life. A memoir. Springer International Publishing AG
(Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2020.
ISBN 978-3-658-28769-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26988.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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