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Maria Montessori: Verantwortung für diese Welt

Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 30.04.2021

Cover Maria Montessori: Verantwortung für diese Welt ISBN 978-3-451-38711-1

Maria Montessori: Verantwortung für diese Welt. Kernaussagen zur Entwicklung des Menschen. Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2020. 128 Seiten. ISBN 978-3-451-38711-1. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.
Übersetzer*innen: Malve Fehrer und Ulrike Hammer.

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Thema

Am 31. August 2020 war der 150. Geburtstag Maria Montessoris. Welch außergewöhnliche Popularität ihre Vorträge und Publikationen sowie vor allem ihre pädagogischen Aktivitäten bis heute haben, braucht nicht eigens betont zu werden.

Auf dem Buchmarkt ist indessen sehr viel mehr Literatur über die italienische Kinderärztin und Pädagogin als von ihr zu finden. Nicht selten werden ihre im weitesten Sinne anthropologischen Thesen auf eine alltägliche Erziehungspraxis heruntergebrochen und kaum um ihrer selbst willen rezipiert. Schon allein das bekannteste und entsprechend banalisierte Diktum, „Hilf mir, es selbst zu tun“, weist in diese Richtung. Dass Montessori einerseits auch im Abseits des Pragmatismus und andererseits im Konnex mit ihm wissenschaftlich empirisch forschte und theoretisierte, beweisen unter vielem anderem die Schriften, die in „Verantwortung für diese Welt“ versammelt sind. Sie formieren einen wesentlichen Teil der Montessori-Pädagogik, sind aber insofern mit Vorsicht zu goutieren, als die editorischen Aktivitäten im Hintergrund weitestgehend opak bleiben.

Herausgeberinnen

Übersetzt aus dem Englischen haben Malve Fehrer und Ulrike Hammer. Dem Band ist eine Einführung von Ginni Sackett vorangestellt, die seit 2018 das Amt der Pädagogischen Direktorin der Association Montessori Internationale (AMI) innehat.

Entstehungshintergrund und Aufbau

„Verantwortung für diese Welt“ bzw. „Schlüsseltexte über den Menschen und eine neue Erziehung“ sind Teil von Maria Montessoris Gesammelten Werken, die seit 2010 im Herder-Verlag erscheinen und insgesamt 21 Bände umfassen sollen. Ziel ist es, die Genese des pädagogischen Denkens Montessoris nachzuvollziehen. Herausgeber der Reihe ist Harald Ludwig, emeritierter Pädagogik-Professor an der Universität Münster.

Der vorliegende Band jedoch ist in erster Linie ein Projekt anlässlich des 150. Geburtstages. Während die „Schlüsseltexte“ in den Gesammelten Werken auf originalen Grundlagen in italienischer und französischer Sprache basieren, liegen den neun Aufsätzen hier Texte in englischer Sprache, „Citizen of the World – Key Montessori Readings“, zugrunde. In ihnen spiegeln sich neun „Montessori Principles“.

Inhalt

Ginni Sackett spricht zu Beginn von „mehreren, parallel zueinander verlaufenden Reisen“ (S. 7), die man in Montessoris Schaffen beobachten könne. Sie bestimmt drei wesentliche Narrative, ein „chronologisches“, ein „thematisches“ und ein „visionäres“, bevor die Texte zu den neun „Prinzipien“ folgen:

1. „Die zwei Naturen des Kindes“ (Vortrag 1933 beim 19. Internationalen Kurs in London) – im Allgemeinen werde das Kind als bedürftiges „Mangelwesen“, das in Angst und Abhängigkeit lebe, interpretiert. Sehr viel wichtiger sei aber das „verwandelte Kind“, das selbstständig und genau sei, eine Liebe zu seiner Umgebung und ein „Bedürfnis nach Ordnung“ ausbilde. Dabei arbeite es emsig für „seine eigene innere Entwicklung.“ (S. 17)

2. „Die Bedeutung der Anpassung“ (Vorlesung bei einem der Ausbildungskurse Montessoris) – jeder Mensch verfüge über die Kraft, sich an seine Umwelt anzupassen und diese gleichermaßen zu verändern. Ein Kind sei immer in Relation zu seiner Umwelt zu sehen und es müsse beobachtet werden, wie es seine individuelle Adaption an diese hervorbringe.

3. „Moralische und soziale Erziehung“ (Vortrag beim Montessori-Kongress 1938 in Edinburgh) – Kinder bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Unabhängigkeit und sozialer Erfahrung. Um sich zu entwickeln, müsse ein Individuum Anstrengung und Unabhängigkeit demonstrieren. Daraus ergebe sich „eine ‚Valorisation‘, eine ‚Aufwertung‘ der Persönlichkeit“, für die es einer sozialen Erfahrung bedürfe (S. 31). Ab dem Alter von sieben Jahren müsse das Kind größere Anstrengungen unternehmen, um in der Schule zu bestehen. Anstrengung sei darüber hinaus dem geistigen Leben immanent, denn man müsse „dem sanften Leben entsagen“ (S. 34), um in das geistige Leben zu gelangen.

4. „Die vier Phasen der Erziehung“ (ebenfalls 1938 in Edinburgh und Vorlesung in London im März 1939) – im Laufe der Entwicklung gebe es Krisen, die mit Metamorphosen im Insektenreich verglichen werden könnten. Daraus resultiere eine Art „Wiedergeburt“ in der nächsten Entwicklungsstufe.

Die erste Phase der Entwicklung erstrecke sich von der Geburt bis ca. dem Alter von sechs Jahren. Es sei zielführend für das Kind, ohne Hilfe zu handeln, was gleichbedeutend mit Freiheit sei. Zwei Sätze fassten dies zusammen: „Den ersten Satz sagte tatsächlich ein Kind zu seiner Erzieherin: ‚Hilf mir, es selbst zu tun.‘ Der andere stammt von uns: ‚Jede unerwünschte Hilfe ist ein Hindernis für die Entwicklung.‘“ (S. 38)

In der zweiten Entwicklungsphase nehme das Kind die Dinge nicht mehr vorwiegend sensorisch auf, sondern trete „in den Bereich der Abstraktion“ (S. 40) ein. In der Schule spiele „Material“ eine herausragende Rolle, denn dieses diene dem Erwerb von Kultur. Indem es am Material arbeite, versuche das Kind „hartnäckig, Gründe, Ursachen und Konsequenzen herauszufinden. Die geistigen Anstrengungen des Kindes“ seien „immer von der Aktivität der Hand begleitet“. (S. 42) Gerade das Material ermögliche abstrakte Übungen.

Mit der Adoleszenz beginne die dritte Phase. Neu sei, dass die Jugendlichen einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und selbstständig forschen und erleben wollten. (S. 43)

Eine vierte Phase beziehe sich auf die universitäre Bildung. Ein Individuum dieser Altersgruppe sei ein Mensch, der nach dem erfolgreichen Durchlaufen der vorhergehenden Phasen wisse, wie er eigenständig entscheiden könne.

Bildung müsse ein Leben lang fortgesetzt werden. Aus jeder Entwicklungsphase müsse das jeweils Positive destilliert und in der folgenden weitergeführt werden.

5. „Die Erneuerung in der Erziehung“ (Aufsatz aus dem Jahr 1942) – es sei die Aufgabe des Kindes selbst, sich zu einem Menschen heranzubilden. Im Kind finde insofern eine Inkarnation statt, als alles, was das Kind assimiliere und kreiere, in ihm zu leben beginne und in seine Persönlichkeit integriert werde. Die Methoden der Bildung gingen vom Kind aus, denn es besitze „einen sehr großen Verstand, auf einem viel höheren Niveau, als wir es uns vorstellen können.“ (S. 54)

6. „Der vergessene Bürger“ (Rom, 1951) – in dieser Botschaft anlässlich des dritten Jahrestages der „Deklaration der Menschenrechte“ betont Maria Montessori mit Vehemenz, dass den Kindern die Aufgabe zukomme, die Menschenrechte in die Praxis umzusetzen, obwohl sie selbst in der Erklärung vergessen worden seien. Es sei höchste Zeit, das Kind „als Erbauer des Menschen“ (S. 60) zu würdigen und die Kindheit als zweite embryonale Phase, in der sich der Geist bilde, zu definieren. Das Kind dürfe nicht länger „ein vergessener Bürger“ sein.

7. „Die fortwährende Aktualität des Plädoyers von Maria Montessori“ – bereits im Jahre 1937, 22 Jahre vor der „Erklärung der Rechte des Kindes“, gründete Maria Montessori in Kopenhagen eine „Soziale Partei des Kindes“. In einem Artikel („Ein Schritt in die Zukunft: Die Soziale Partei des Kindes“) unterstreicht sie die Erforderlichkeit eines solchen Unterfangens, indem sie nach einer knappen Charakterisierung des „Jahrhundert des Kindes“ diagnostiziert, dass gesellschaftliche Missstände darin wurzelten, dass man das Kind nicht als „schöpferische Kraft“ verstehe. Wenn man erkenne, dass das Kind „psychologisch gesehen anders“ sei als Erwachsene, dass die Bedürfnisse eines Kindes von denen der Erwachsenen abwichen, tätige man einen entscheidenden Entwicklungsschritt für die Menschheit und ebne einem „höheren Niveau für das soziale Leben“ (ebd.) den Weg. Höchst dringlich sei es, ein „Staatsministerium für das Kind“ zu implementieren.

8. „Die San-Remo-Vorträge 1949“ – hier sind vier Vorträge subsumiert, die Maria Montessori im August 1949 während des Internationalen Montessori-Kongresses hielt.

Vortrag I: „Die schöpferische Fähigkeit der frühen Kindheit“, fokussiert die Notwendigkeit eines neuartigen Erziehungssystems, das Erwachsene verlange, die gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern ein Gefühl der Demut entwickelten und auf diese Weise die gewaltige geistige Energie der frühen Kindheit erleben und begleiten könnten. Es sei dabei sinnvoll, das Wort „Erziehung“ durch „Kultivierung“ zu ersetzen. Wenn man die Menschheit kultivieren und verbessern wolle, müsse man beim Kind beginnen und die in ihm schlummernden psychischen Kräfte so stimulieren, dass „damit die Blüte der Menschheit reichere und schönere Formen entwickeln“ (S. 85) könne.

Mit Vortrag II, „Die menschliche Solidarität in Zeit und Raum“, lanciert Maria Montessori ein Plädoyer für einen substanziellen Wandel in der Art und Weise, wie menschliche Beziehungen betrachtet werden. Die Einheit der Welt sei bereits vorhanden, es gehe nun darum, dass sich die Menschheit dieser Einheit gewahr werde. Alle Menschen dieser Welt wirkten in einem „einzigen lebendigen Körper“ (S. 92) zusammen. Vor diesem Hintergrund sei es kaum gewinnbringend, allein die Inhalte verschiedener Fächer zu lehren. Vielmehr sollten in gleichem Maße „die leidenschaftlichen Bemühungen der Menschen“ Erwähnung finden, „die mit ihrer Arbeit, ihrer Hingabe, ihrem Opfer neue Wahrheiten ans Licht gebracht“ (S. 93) hätten.

In Vortrag III, „Der absorbierende Geist“, wiederholt Maria Montessori eine ihrer grundlegenden Thesen: „Bis heute ist man davon ausgegangen, dass Erwachsene dem Kind helfen müssen, einem zerbrechlichen kleinen Wesen, dem es an Intelligenz und Kraft fehlt. Wir jedoch gehen vom Gegenteil aus. Wir glauben, dass sich die Menschheit, um den richtigen Weg zu finden, sich dem Kind zuwenden sollte, um Hilfe und Orientierung zu erhalten“. (S. 95) Nicht zuletzt seine Fragilität mache das Kind zu „Gottes Instrument für die Evolution der Menschheit“. Es nehme „in den Augen des Erziehers ein Bild von Majestät, Güte und göttlicher Weisheit an“. (S. 99) Erzieher*innen müssen demnach in der Lage sein, zu begreifen, dass dem Kind eine nahezu mystische Macht inhäriert, die sich durch seine Aktivitäten äußert. Diese Erkenntnis vertreibt laut Montessori alle Anflüge von Überlegenheit.

Vortrag IV, „Die Einheit der Welt durch das Kind“, fußt auf der Einsicht, dass im täglichen Miteinander „das Prinzip der Liebe“ (S. 105) nicht dominiere. Dem Verantwortungsbewusstsein der Erzieher*innen obliege es, die Menschen dieser Welt durch „die Liebe zum und das Interesse am Kind“ (S. 105) zu vereinen. Erziehung müsse die „psychischen Energien des Kindes“ dergestalt anfachen, dass diese Energien „den Weg der harmonischen Anpassung an die universellen Gesetze des Lebens“ (S. 108) wählen könnten.

9. „Frieden und Erziehung“ (Vortrag 1932 in Genf auf Einladung des „International Bureau of Education“) – am Anfang steht die „Negativ-Definition“ von Frieden als „Ende aller Kriege.“ (S. 110 f.) Dieser Zustand sei für die Besiegten eine „moralische Tragödie“. Nach einem länger ausgeführten Vergleich von Krieg mit der verheerenden Wirkung einer Pest-Epidemie pointiert Maria Montessori das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind als Kriegszustand. Der Erwachsene besiege das Kind, sodass dieses, wenn es sich zu einem Erwachsenen entwickelt habe, „die Spuren jenes berühmten Friedens in sich“ trage, „der auf den Krieg“ folge „und der einerseits eine Zerstörung und andererseits eine Anpassung“ (S. 117) sei. Der Kampf zwischen Kindern und Erwachsenen spiele sich in der Schule und im Elternhaus ab. Um dauerhaft Frieden zu erreichen, bedürfe es eines neuen Menschen, der durch das Band der Liebe mit seinen Mitmenschen vereint sei. Da die Geschichte des Menschen beginne, drei Dimensionen zu haben, da der Mensch in das Reich der Sterne vorgedrungen sei, könne er zu „seiner vollen Größe aufsteigen“ (S. 124) Doch es gelte, alle „Elemente dieser neuen Welt“ zu koordinieren und „in einer Wissenschaft des Friedens“ (S. 125) zu organisieren.

Diskussion

Die große Frage, die sich angesichts der Textsammlung stellt, bezieht sich auf die Edition. Es bleibt bar jeder Begründung, weshalb man nicht einfach die Texte aus den Gesammelten Werken, die auf den eigentlichen Originalen basieren, isoliert und in einem Extra-Band zum 150. Geburtstag hat erscheinen lassen. Mit der doppelten Übersetzung, die zudem gänzlich ohne textkritischen Apparat auskommt, läuft man Gefahr, auf editorischem Glatteis zu landen. Sowohl die Einführung, die man sich systematischer, stärker bezogen auf das Folgende, hätte wünschen dürfen, als auch das Nachwort der Übersetzerinnen geben nur sehr bedingt Aufschluss über die Genese der Texte. Die knappen Bemerkungen im Vorfeld der einzelnen Aufsätze verorten diese zwar in Montessoris Gesamtschaffen und sparen das Datum der Erstpublikation nicht aus, lassen aber textgenetische Erläuterungen genauso vermissen wie die anderen Peritexte. Eine Minimalanforderung wäre es, zumindest diesen Mangel selbst zu thematisieren und zu erklären.

In editorischer Hinsicht ist außerdem anzumerken, dass die Darstellung des siebten „Montessori-Prinzips“ unübersichtlich ist. Es wäre schön gewesen, wenn man diesem entweder eine aufschlussreiche Einleitung vorangestellt hätte oder sich mit dem Abdruck des Artikels zur Sozialen Partei des Kindes aus dem Jahre 1941 begnügt hätte.

Nichtsdestoweniger spiegeln die Vorträge und Aufsätze die Lebendigkeit des Denkens einer großartigen Persönlichkeit wider. Sie ermöglichen einen guten Einblick in die Prinzipien der Montessori-Pädagogik und in die Arbeitsweise der Forscherin dahinter. Als Wissenschaftlerin beruft sich Montessori auf Fakten, sieht experimentelle Beobachtung als Basis-Methode der Empirie und Induktion, was in „Die zwei Naturen des Kindes“ sowie „Moralische und soziale Erziehung“ besonders augenfällig ist.

„Die vier Phasen der Erziehung“ ist zweifelsohne einer der bedeutungsträchtigsten Vorträge überhaupt. Indem Montessori die immense Tragweite von Transitionen, eine „Wiedergeburt“ in ihren Augen, konturiert und die Krisenhaftigkeit der jeweiligen Übergänge herausstellt, antizipiert sie, ohne diese auf die gesamte Lebensspanne des Menschen auszudehnen, die Phasen der psychosozialen Entwicklung, die Erik Erikson rund 20 Jahre später bestimmte. Des Weiteren scheint Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung nicht weit entfernt, wenn Montessori zwischen der sensorischen Aufnahme von Dingen und der nachfolgenden Abstraktion differenziert. Es liegt eine enge Verquickung mit dem präoperationalen Stadium und dem darauffolgenden konkret operationalen vor. In erster Linie ist aber ein Entwicklungsmodell zu würdigen, aus dem hervorsticht, dass sich aus der Sukzession der Phasen letztendlich eine Simultaneität der Errungenschaften jeder einzelnen Phase ergibt. Das sich auf diese Weise herausbildende Individuum bleibt dynamisch und wird sich der hochgradigen Wertigkeit lebenslänglicher Bildung inne.

Mit ihren Ausführungen zur „Erneuerung in der Erziehung“ beruft sich Montessori zwar weiterhin auf Beobachtungen, dringt aber mit dem Bild der Inkarnation stärker als in anderen Texten in metaphysische Sphären vor. Die Idee der Inkarnation erweist sich als zentral für Montessori und vermittelt sich in einem mitreißenden Enthusiasmus, wenn sie darlegt, dass „das geistige Wesen […] mit der ihm innewohnenden Kraft auf eine greifbare Weise zu einer körperlichen Einheit“ werde. „die sich in einer bestimmten Zeit nach einem besonderen Wurf der Natur“ (S. 49) aufbaue. Dafür passt auch der aristotelische Begriff der Entelechie und der Gedanke, dass die Entwicklung eines Organismus teleologisch verläuft, dieser seine Dynamik auf ein Ziel hin aus sich selbst bezieht. Sehr konsequent leiten sich daraus die Eigenständigkeit und Freiheit des Kindes ab, das einer Begleitung oder Kultivierung durch den Erwachsenen, sicher aber nicht einer Erziehung im herkömmlichen Sinne bedarf. Die sehr eindringliche Fürsprache rund um den „vergessenen Bürger“ und die Gründung der Sozialen Partei des Kindes sind gleichzusetzen mit den weitreichenden Bemühungen um und die zumindest partielle Realisierung von Partizipation. Festgeschrieben ist diese seit dem Ende des 20. Jahrhunderts im Programm der meisten Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche.

In den Vorträgen, die sie 1949 in San Remo gehalten hat, wird Maria Montessori nicht müde, zu betonen, leider ohne dabei zu konkretisieren, dass Psychoanalytiker, Psychiater und Ärzte den Ursprung psychischen Leidens in der frühen Kindheit ansiedeln. Dies ist ihr zum einen Beweis genug für die Bedeutung der Kindheit als „Embryonalphase“ des Erwachsenen und dient ihr zum anderen dazu, erneut aufzuzeigen, dass aus der Anerkennung der „Inkarnation“ und der damit einhergehenden Autonomie des Kindes ein Erwachsener aufblüht, der seinen richtigen Weg findet. Im Übrigen könne das Kind dem Erwachsenen helfen und die Menschheit könne sich perfektionieren, wenn sie sich dem Kind zuwende.

Warum „Frieden und Erziehung“ an das Ende der Kompilation gestellt wurde, erschließt sich nicht ganz. Man fragt sich ohnehin, ob es vielleicht nicht besser gewesen wäre, rein chronologisch vorzugehen. Erklären lässt sich dieser Schlussakkord allein durch die visionäre Kraft von Montessoris Denken, die Ginni Sackett in der Einführung lobt. „Frieden und Erziehung“ ist hochpolitisch, denn Maria Montessori positioniert sich deutlich zum Status quo, wenn sie z.B. bemerkt, dass die Menschheit „im Bereich der Moral […] keinen einzigen Schritt vorwärts gemacht“ […] habe und „in moralischer Hinsicht so rückständig wie die Menschen im Mittelalter in Bezug auf die Hygiene“ seien. Dennoch bleibt sie unangreifbar, weil keine Namen genannt werden. Am Ende verleiht sie einer Hoffnung Ausdruck („Werden der Völkerbund und die Gesellschaften zur Förderung des Friedens ihr Kräfte vereinen, um das Zentrum einer neuen Ausrichtung der Menschheit zu gründen?“, S. 125), die wenige Jahre später bitter enttäuscht werden wird.

„Es fällt mir immer schwer, meine Auffassung darzulegen, denn sie ist keine einfache, lineare Konzeption, sondern sie ist gewaltig, vergleichbar mit einer Wüste oder einem Ozean.“ (S. 48) – so formuliert Maria Montessori die ersten Zeilen des Aufsatzes „Die Erneuerung in der Erziehung“. Das nun eingeführte komparative Element – die „Auffassung“ wird mit einer Wüste oder einem Ozean verglichen – verlagert die Bildlichkeit auf die Meta-Ebene der Reflexion und verdeutlicht, dass Montessori auch schriftstellerische Qualitäten besitzt, die sich insbesondere im Abseits der Wissenschaftlichkeit entfalten. Immer wenn es um die zukunftsweisende Macht des Kindes geht, wenn sie z.B. das Kind als Träger des Lichts, als Heilsbringer apostrophiert, als „neuen Lehrer“, der „ein neues Licht bringt“ (S. 99), wird Montessori hymnisch und es lassen sich Akzente einer nahezu religiösen Schwärmerei ausmachen. Schon allein wegen dieser Charakteristika sollte eine stabile Textgrundlage oberste Priorität besitzen.

Immer wieder ist auch eine Myriade von Einflüssen zu erspüren, ein Synkretismus im besten Sinne. Es wäre das Ziel einer detaillierten intertextuellen Analyse aufzuzeigen, wer die „Grande Dame“ der Pädagogik beeinflusst hat und wie ihr Gedankengut auf Ideengeschichte und Erziehung bzw. „Kultivierung“ gewirkt hat. Das (post)moderne Bild vom Kind jedenfalls wäre ohne Montessori nicht denkbar.

Fazit

Montessoris „Schlüsseltexte über den Menschen und eine neue Erziehung“, die unter dem Titel „Verantwortung für diese Welt“ erschienen sind, eignen sich hervorragend für Studierende, ausgebildete Erzieher*innen und Lehrer*innen, die sich einen knappen Überblick über das Denken der Pädagogin verschaffen wollen und nicht nur Texte über, sondern auch Texte von ihr lesen möchten. Für Forschungszwecke, vor allem Studien zu Montessoris Schrifttum, ist der Band wegen der im Großen und Ganzen nicht unprekären Textgrundlage nur bedingt geeignet.

Trotz der editorischen Einschränkungen muss festgehalten werden, dass sich ein inspirierendes Denkmodell in seiner chronologisch parallelen sowie rück- und vorwärts gerichteten Anschlussfähigkeit offenbart. So etwa ruft die Idee der Inkarnation nicht zuletzt das poetische Diktum von William Wordsworth, „The child is father of the man“, in Erinnerung und die Idee der Freiheit lässt sich in die chronologisch mehr oder minder parallel zu Montessori konzipierte existenzialistische Philosophie von Jean-Paul Sartre einbetten. Obschon Montessori eher nicht sagen würde, dass der Mensch „zur Freiheit verurteilt“ sei, denn es ist ihm die Freiheit als Chance zu gewähren, so verläuft der Weg der Erziehung bzw. „Kultivierung“ ähnlich „existenzialistisch“ aufsteigend von der Existenz zur Essenz, mit der Idee der Inkarnation im Hintergrund sanfter, gleichwohl aber nicht ohne Anstrengung.

Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
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Es gibt 37 Rezensionen von Anne Amend-Söchting.

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Zitiervorschlag
Anne Amend-Söchting. Rezension vom 30.04.2021 zu: Maria Montessori: Verantwortung für diese Welt. Kernaussagen zur Entwicklung des Menschen. Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2020. ISBN 978-3-451-38711-1. Übersetzer*innen: Malve Fehrer und Ulrike Hammer. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26995.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.


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