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Verena Witzig: Gemeinsam Haushalten

Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost, 23.07.2020

Cover Verena Witzig: Gemeinsam Haushalten ISBN 978-3-96665-001-4

Verena Witzig: Gemeinsam Haushalten. Arbeitsteilung und Praktiken von Mütterlichkeit und Väterlichkeit in getrennten Familien. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. 186 Seiten. ISBN 978-3-96665-001-4. D: 27,00 EUR, A: 27,80 EUR.

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Thema

Trennungen von Elternteilen sind nicht nur durch die Situation selbst belastend, sie sind meist Ursache von (Folge-)Problemen und der Frage, wie Eltern ihren (getrennten) Alltag mit den (gemeinsamen) Kindern organisieren und in welcher Form sie ihre Elternschaft praktizieren. Damit rücken die Gestaltungswege und die Umsetzungsoptionen (guter) Mutter- und Vaterschaft unter Prämissen einer Trennung in den Mittelpunkt. Die Studie nimmt – anders formuliert – die Entwicklung der Praktiken des Haushaltens und der Arbeitsteilung in getrennten Familien in den Blick, wie sie sich im Kontext von Arbeit und der (neuen) Lebensrealität darstellen.

Autorin

Verena Witzig ist Fachexpertin für Diversity & Inclusion und als Beraterin zur Realisierung von Chancengleichheit in der gleichnamigen Abteilung an der Universität St. Gallen tätig. Die Dissertation, die nun als Buch vorliegt, entstand im Doktorratsstudiums „Organisation und Kultur“, währenddessen sie am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität angebunden war.

Aufbau und Inhalt

Einleitend wird in Kapitel 1 ein Überblick über die Inhalte und die grundlegende Problematik des Themas skizziert. Unmittelbarer Anlass für die Studie waren rechtliche Änderungen im Sorge- und Unterhaltsrechts (in der Schweiz), die „eine Teilung der elterlichen Verantwortung nach der Trennung“ fördern sollen (S. 8). Betrachtet wird das Phänomen, wie soziologisch üblich, nicht nur auf der Ebene individueller Entscheidungen, sondern mit Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen, indem die Autorin die Arbeitsteilung und Sorgepflichten vor dem Hintergrund bzw. als Praxis von gesellschaftlich vorgeprägten Rollenverteilungen und Subjektpositionierungen betrachtet.

In Kapitel 2 folgt ein „Theorie“-Teil: Zunächst wird historisch betrachtet, wie sich Haushalte zwischen vormodernen und industriellen Entwicklungsepochen gesellschaftlich in ihrer (Grund-)Struktur und Funktion entwickelt haben. Dabei wird in einzelnen Abschnitt auf die „Entökonomisierung der Hausarbeit“ (S. 15 f.), auf gesellschaftliche Muster der Arbeitsteilung in der Familie (S. 17 f.) sowie der Konzeptionalisierung von Haushalten als Praxis und Prozess (S. 18 f.) eingegangen. In Anlehnung an Bourdieu, Reckwitz u.a. werden Praktiken als materiell, zeitlich verortet und einer Struktur folgend betrachtet, wenngleich sie in ihrer konkreten Ausformung offen sind. Der Praxisbegriff wird dabei nicht nur auf Handlungsvorgänge bezogen, sondern genauso auf sprachliche Äußerungen und zugrundliegende (implizite) Wissensbestände. Schon an dieser Stelle wird die zentrale Bedeutung von Sinn und Diskursen, die sich letztlich auch in der Wahl der Interpretationsstrategie, nämlich einer Diskursanalyse, manifestiert. Auch der analytische Strang einer Subjektpositionierung und Geschlechtsidentität wird der Konzeption hinzugefügt, d.h. der Aspekt, dass „doing gender in diesen Praktiken untrennbar eingesponnen“ ist (S. 35).

In Kapitel 3 wird das Forschungsdesign ausgeführt. Die Forschungsfragen richten sich einerseits auf die Arbeitsteilung der beiden Elternteile, andererseits auf die (geschlechtsspezifischen) Subjektpositionierungen Der Prozess der Datenerhebung, Interviewauswahl und Analyse erfolgte nach Prinzipien der Grounded Theory. Zunächst wurden zwei Interviews mit einem getrennten Paar und mit Experten durchgeführt, um auf der Basis offenen Kodierens erste Kategorien herauszuarbeiten und damit Orientierung für den Forschungsprozess/​Feldzugang wie für die Erhebung bzw. den Interviewleitfaden zu gewinnen. Die eigentliche empirische Arbeit erfolgte durch die Analyse von 14 Interviews mit getrennten/​geschiedenen Elternteilen und von Dokumenten, und zwar Artikeln anlässlich der Revision des Sorge- und Unterhaltsrechts. Beide Materialien wurden mittels einer „psychologischen Diskursanalyse“ (S. 49 ff.) reflektiert bzw. codiert, wobei die Software Atlas.ti angewendet wurde. Eine wesentliche Grundüberlegung dieser Interpretation ist die Vorstellung von „interpretativen Repertoires“, die sich jeder aneignet und auf die im Alltag zugegriffen wird.

In Kapitel 4 werden die Ergebnisse des Forschungsprojekts präsentiert, zunächst Erkenntnisse aus der Analyse der Dokumente (Verzeichnis auf S. 183), danach jene der Interviews. Herausgearbeitet werden „Repertoires“, die sich in den diskursiven Praktiken der (getrennten) Elternschaft zeigen. In den (Medien-) Diskursen (Dokumenten) werden Repertoires der Egalität, der Verschiedenheit, des Kindeswohls und individueller Lösungen festgestellt sowie auf Dilemmata zwischen diesen Repertoires verwiesen. Die Interviewanalyse wird entlang der zentralen Fragestellung der Studie, wie die Teilung der Elternarbeit und die Subjektpositionierung gestaltet. Die in den Interviews vermittelten Modelle werden zunächst nach egalitären und traditionellen geordnet. Egalitäre Modelle verweisen in ihren Grundstrukturen auf eine geschlechtsunspezifische Arbeitsteilung in der Kinderbetreuung, d.h. die Eltern sorgen zu ähnlich gleichen (Zeit-)Anteilen für die Kinder. In traditionellen Modellen erfolgt eine (ungleiche) Arbeitsteilung, sodass die Mutter zu großem Teil die Sorgearbeit und der Vater (vermehrt) die Erwerbsarbeit übernimmt. Als zweite Achse der Differenz in den Modellen führt die Autorin die Akzeptanz/​Konflikthaftigkeit eines praktizierten Modells zwischen den beiden Elternteilen ein. Dadurch ergeben sich grundsätzlich vier Modi getrennter Familiensysteme: akzeptierte/​problematisierte Egalität oder akzeptierte/​problematisierte Traditionalität. In jeweils einem Abschnitt des vierten Kapitels wird nun jeder Modus genauer beschrieben. Kernthemen sind dabei die Teilung von Sorge und Haushalt und die Subjektpositionierung. Zunächst beschreibt die Autorin die Ausgangsbedingungen einzelner „Fälle“ in den jeweiligen Modi. In einem Fall etwa – die Tochter ist zwei Jahre alt – hat sich etwa das Paar bereits in der Schwangerschaft getrennt; die Mutter übernimmt unter der Woche die Sorgearbeit; während ihrer Berufstätigkeit – sie ist zu 50 % als Projektleiterin beschäftigt – ist die Tochter im Kindergarten. Am Sonntag übernimmt der Vater die Kinderbetreuung. Die Mutter wird in diesem Modus („akzeptierte Traditionalität“) zum wichtigeren Elternteil, übernimmt (fast) die Alleinverantwortung. Der Kontakt zum Vater findet in klar definierten Zeitfenstern statt. Danach werden die Fragen der Teilung der finanziellen Lasten und der Nähe/Distanz im jeweiligen Modus bearbeitet. Abschließend werden – wieder in den jeweiligen Formen – die Subjektpositionen des Vaters und des Mutters analysiert, dabei mit Begriffen wie z.B. „Vollblutmutter“ und „Zahlvater“ die Position auch möglichst treffend benannt.

Abschließend werden die Modelle im Überblick resümiert und die Erkenntnisse diskutiert. Dabei wird darauf verwiesen, dass selbst in egalitär organisierten Modellen mehr an Sorgearbeit von den Mütter geleistet wird und Egalität die „Obergrenze für den Betreuungseinsatz der Väter darstellt“ (S. 163). Die meisten der einbezogenen Fälle stammen dabei aus der unteren Mittelschicht, einige aus der oberen Mittelschicht bzw. lebten manche Interviewten mit sehr niedrigem Einkommen. Die traditionellen Modelle entwickeln sich häufiger – wenn auch nur in dieser kleinen Stichprobe – im Rahmen prekärer Lebensverhältnisse, die gerade im Zuge der Trennung entstehen.

Fazit

Die Frage der Arbeitsteilung in Familien mit Kindern ist eine wichtige. Diese Studie bearbeitet diese Frage speziell für getrennte Familien und schafft ein umfassendes Bild von den Konstellationen bzw. Lebensverhältnissen nach Trennungen, die in vier Modi gruppiert werden. Beachtenswert ist die klare Struktur der Studie: trotz induktiver Vorgangsweise und der Durchführung einer (psychologischen) Diskursanalyse sind die Ergebnisse gut gegliedert, nachvollziehbar geschrieben und sticht deshalb die gute Lesbarkeit der Abhandlung hervor.

Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gerhard Jost.

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Zitiervorschlag
Gerhard Jost. Rezension vom 23.07.2020 zu: Verena Witzig: Gemeinsam Haushalten. Arbeitsteilung und Praktiken von Mütterlichkeit und Väterlichkeit in getrennten Familien. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. ISBN 978-3-96665-001-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26998.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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