Norbert Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 20.01.2022
Norbert Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2020. 6., erweiterte und aktualisierte Auflage. 274 Seiten. ISBN 978-3-17-034146-3. 26,00 EUR.
Thematischer Rahmen
Empowerment stellt heute eine Schlüsselperspektive Sozialer Arbeit dar, wenn es darum geht, Menschen zu ermutigen, ihre eigenen Kräfte, Kompetenzen und Fähigkeiten (z.T. neu oder wieder) wahrzunehmen und die Bedeutung selbsterarbeiteter Lösungen wertzuschätzen, also Soziale Arbeit subjekt- und ressourcenorientiert zu gestalten. Empowerment bedeutet, mit den Worten des Verfassers des vorliegenden Bandes, „Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung. Empowerment beschreibt mutmachende Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewußt werden, eigene Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten Lebensführung nutzen lernen“ (S. 20). Und weiter: „Dort, wo Menschen diese Erfahrungen von Selbstwert und aktiver Gestaltungskraft, von Ermutigung und sozialer Anerkennung haben sammeln können, vollziehen sich Mit machende Prozesse einer ‚Stärkung von Eigenmacht‘“ – kurzum: Empowerment ist als („Marken“-) Kern einer Sozialen Arbeit zu begreifen, die die Zuschreibung von Menschen als defizitär, handlungsun- bzw. -ohnmächtig und (durch ein Verständnis von Expertokratie geprägt) belehrungsbedürftig aufhebt.
Ohne jeden Zweifel ist das Empowerment-Konzept mit der Betonung von Selbstorganisation und eigenverantwortlicher, unabhängiger Lebensführung für die Soziale Arbeit von „hoher Attraktivität“: „Der Blick gilt nicht mehr (allein) den Lebensschwierigkeiten, Unzulänglichkeiten und Unfähigkeiten der Menschen“, im „Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen vielmehr die Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen, mit denen sie auch in Lebensetappen der Schwäche und der Verletzlichkeit die Umstände und Situationen ihres Lebens selbstbestimmt gestalten können. In dieser programmatischen Hülle artikuliert sich so eine veränderte professionelle Grundhaltung, eine neue Kultur des Helfens, die den allzu selbstverständlichen pädagogischen Blick auf die Unfertigkeiten und die Defizite von Menschen überwindet, ihre Selbstverfügungskräfte stärkt und sie zu Selbstbestimmung, sozialer Einmischung und eigeninszenierter Lebensgestaltung ermutigt“. Empowerment ist damit als „Anstiften zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens“ (S. 8. Hervorh. im Orig.) zu verstehen.
Verfasser
Dr. Norbert Herriger ist Diplom-Pädagoge und lehrt seit 1992 als Professor am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Düsseldorf im Lehrgebiet Allgemeine Soziologie mit den Schwerpunkten Soziale Probleme und Soziale Arbeit, Empowerment und ressourcenorienterte pädagogische Arbeit sowie Biographieforschung.
Inhalt
Das Buch hat einen „Argumentationsfaden“, dem die zehn Kapitel folgen:
- Zunächst erfolgt eine kurze Übersicht über die Definitionen zum Empowerment, wie sie sich in der Literatur auffinden lassen (Kap. 1),
- sodann werden die Entwicklungslinien des Empowerment-Konzepts in Erinnerung gerufen (Kap. 2). Die „Reise in die Stärke“ bildet den Schwerpunkt des Bandes (Kap. 3): „Diese Reise beginnt an biographischen Nullpunkten – dort, wo Menschen von oft entmutigenden Erfahrungen von Ohnmacht und erlernter Hilflosigkeit betroffen sind“ (S. 8).
- Dazu bedient sich das Empowerment-Konzept unterschiedlicher methodische Instrumente, in Bezug auf die Person, die Gruppe, die Organisation und den Sozialraumes vorgestellt werden Kap. 4–7),
- woran sich die Erkundung und Aneignung (neuer) personaler Ressourcen zur Entwicklung einer autonomen Lebensführung und die „Erschließung neuer sozialer Ressourcen in der unterstützenden solidarischen Vernetzung mit anderen“ (S. 9) anschließen (Kap. 8).
- Abschließend nimmt Norbert Herriger eine Klärung der „Stolpersteine, die der Verwirklichung einer Empowerment-Praxis im Wege stehen“ (S. 9) und den „Versuch einer Profilierung der professionellen Identität“ im Rahmen der Überlegungen des Empowerment-Konzepts (Kap. 9 und 10) vor.
Diskussion
Die in der Sozialen Arbeit in weiten Teilen und lange Zeit verbreitete Vorstellung, es mit Menschen zu tun zu haben, die durch Unvermögen, Unkenntnis, Hilflosigkeit, Problemleugnung, persönliche Schuld und auch Unwillen gekennzeichnet seien (Defizitzuschreibung), und die die Vorstellung rechtfertigten, Soziale könnten als Experten agieren, die wissen, was Menschen als Klient*innenzu tun und zu lassen haben, führte zu einer Entmächtigung der Adresssat*innen Sozialer Arbeit. Mit dem Empowerment-Konzept verbindet sich dagegen das Ziel, eine professionelle Haltung herauszubilden, die der Förderung Einzelner und deren Stärkung in Gruppen und politischen Zusammenhängen dient, die Entwicklung von Netzwerken unterstützt und Potenziale der Selbstorganisation und gemeinschaftlichen Handelns begleitet.
Seinen Ausgang hat das Verständnis von Empowerment insbesondere mit der Kritik Barbara Solomons an der Mittelschichtsorientierung der Sozialen Arbeit und deren Orientierung an den Wertvorstellungen des bürgerlichen Mainstreams in den USA genommen. Angesichts von Hilflosigkeit, geringem Selbstbewusstsein und Selbstzweifeln v.a. der afroamerikanischen Bevölkerung, deren Ressourcenarmut und Schwäche, sich neue Potenziale zu eröffnen, müsse die „Bemächtigung Machtloser“ das Ziel Sozialer Arbeit sein. Ihre Aufgabe sei es, Machtanalysen dazu zu betreiben, (Macht-)Barrieren zu identifizieren und zu bearbeiten, die die Bemächtigung verhinderten, z.B. durch Formen der Selbstorganisation, Arbeitsbündnisse, Selbsthilfe (vgl. Salomons 1976).
Fachkräften der Sozialen Arbeit fällt hierbei die Aufgabe zu, die unterschiedlichen Akteure und Kräfte zusammenzuführen. Empowerment forcierte also den Konflikt der Umverteilung politischer Macht mit dem Ziel, demokratische Partizipation zu ermöglichen. Es lässt sich also sagen, dass es im Sinne einer positiven Perspektive darum geht, als Fachkräfte der Sozialen Arbeit eine optimistische Sicht auf die Themen ihrer Adressat*innen zu entwickeln, z.B.
- dazu beizutragen, dass Menschen sich aufgehoben fühlen können in Beziehungen zu anderen, die entwickelt, gepflegt und vertieft werden können und zu Grundlagen sozialen Austauschs werden,
- Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten zu haben, mit den Schwierigkeiten der Lebensführung und -bewältigung selbst „klarzukommen“, und
- Ideen von der eigenen Entwicklung und Zukunft selbst zu haben und deren Verwirklichung als möglich und anstrebbar zu sehen (vgl. Wendt 2021: 38 ff).
Empowerment verändert damit das Selbstverständnis professionell tätiger Fachkräfte, wie Herriger formuliert (S. 256–261): Sie werden zu „Biografie-Arbeiter“*innen, „Wegbereiter“*innen, „Politische(n) Aktivist“*innen „Sozialreformer“*innen und stehen damit als Analytiker*innen der Lebenswelt der Adressat*innen, als Menschen, die sich auf deren Eigen-Sinn einlassen können, als Netzwerk- und Ressourcenmobilisierer*innen, als Brückenbauer*innen (zwischen sich differenzierenden Lebenswelten, zwischen Lebenswelt und System) und als „Normalisierungsarbeiter“*innen (die z.B. auch unkonventionellen Lebensentwürfen und Lebensweisen Geltung verschaffen) sowie Fachkräfte für Organisations- und Systementwicklung (befähigt zur Politikberatung ebenso wie zum „campaigning“ im Mandat der Adressat*innen wie der Sozialen Arbeit selbst) zur Verfügung.
Norbert Herriger billigte seinem Buch im Vorwort zur ersten Auflage 1997 (das auch der sechsten Auflage vorangestellt bleibt) den „Charakter einer Einführung“ zu, die eine „Übersetzung des Empowerment-Konzeptes aus dem angloamerikanischen Sprachraum“ darstellt, und „die noch offenen Fäden und Enden der Debatte zusammenzubinden“ bemüht sei, was notwendig auch „den Charakter des Unfertigen“ haben müsse, mehr noch: „Sie ist ein Steinbruch von konzeptuellen Orientierungen, methodischen Angeboten, berufspraktischen Perspektiven, ein Patchwork von Ideen, das es möglich macht, die Konturen einer produktiven Empowerment-Praxis für die Soziale Arbeit zu zeichnen“ (S. 9).
Zwischenzeitlich ist ein Vierteljahrhundert vergangen, und – m.E. zu Recht – nimmt Herriger im Vorwort zur aktuellen Auflage in Anspruch, dass sich das Empowerment-Konzept zwischenzeitlich durchgesetzt hat, was sich im Zusammenhang von Professionalisierung, „innere(r) Reform der sozialarbeiterischen Praxis“ und Empowerment dokumentiere (S. 11), auch wenn es Instrumentalisierungsanstrengungen des aktivierenden Sozialstaats abzuwehren gilt, der – missbräuchlich – den Begriff für seine eigenen Zwecke zu nutzen bemüht ist. Ich gehe einen Schritt weiter: Das Empowerment-Konzept ist zur zentralen Stellschraube einer zeitgemäßen Sozialen Arbeit geworden, ohne das deren Professionalität nicht mehr zu denken ist.
Fazit
Bei diesen Prozessen der (z.T. Neu-) Bestimmung des professionellen Selbstverständnisses und der gelingenden Verhältnisbestimmung im Arbeitsbündnis mit und zu Adressat*innen (eingewoben in Verhältnisse von Hilfe und Kontrolle) hilft „der Herriger“ nach wie vor: Der Band ist Einführung in das Empowerment-Konzept wie Ratgeber für die berufliche Praxis (in deren alltäglichem Dickicht gelegentlich der optimistisch-empowernde Blick getrübt werden oder gar verlorengehen könnte) zugleich. Er ist – und bleibt – ein „Klassiker“, der Student*innen wie Praktiker*innen uneingeschränkt (und auch bis zur siebten Auflage) empfohlen bleibt.
Literatur
Salomons, B.: Black Empowerment: Social work in oppressed communities, New York 1976
Wendt, P.-U.: Lehrbuch Methoden der Sozialen Arbeit, 3. Aufl. Weinheim und Basel 2021
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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Zitiervorschlag
Peter-Ulrich Wendt. Rezension vom 20.01.2022 zu:
Norbert Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2020. 6., erweiterte und aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-17-034146-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27009.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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