Christina Clemm: AktenEinsicht
Rezensiert von Gesa Bertels, 11.06.2020
Christina Clemm: AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2020. 205 Seiten. ISBN 978-3-95614-357-1. 20,00 EUR.
Thema
Jede 7. Frau erlebt in Deutschland im Laufe ihres Lebens strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt. Dazu gehören Vergewaltigungen, versuchte Vergewaltigungen und verschiedene Formen sexueller Nötigung. Nur 5 % dieser Sexualstraftaten werden angezeigt. Hinter diesen Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt stehen individuelle Schicksale. Die Rechtsanwältin Christina Clemm gibt anhand von Fallgeschichten Einblicke in die Lebensgeschichten betroffener Frauen.
Autorin
Christina Clemm ist Juristin und als Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin-Kreuzberg tätig. Sie arbeitet als Strafverteidigerin und Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Zudem war sie Mitglied der Expertenkommission des Bundesjustizministeriums zur Reform des Sexualstrafrechts. Bei ZEIT ONLINE ist sie gelegentlich als Gastautorin zu den Themengebieten Sexualstrafrecht und häusliche Gewalt tätig.
Entstehungshintergrund
Seit vielen Jahren begegnen ihr in ihrem beruflichen Alltag Frauen, die Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung, sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt wurden. Anhand einer „Einsicht in ihre Akten“ (siehe Titel, wobei die Einsicht sicher einen doppeldeutigen Klang hat) gibt sie einen Einblick in verschiedene Fallbeispiele und fächert damit zugleich das Themengebiet auf.
Aufbau und Inhalt
Insgesamt acht Einzelschicksale werden dargestellt, die „tatsächlichen Ereignissen nachempfunden sind, aber in dieser Form nicht stattgefunden haben“ (vgl. Vorbemerkung). Sie zeigen – sicher nicht erschöpfend, aber doch eindrücklich – die vielen Facetten von sexualisierter Gewalt gegen Mädchen und Frauen auf.
Den Auftakt macht die Geschichte von Claudia S., die Partnerschaftsgewalt im Drogenmilieu erlebt. Im Fall von Marcella E. wird ein Übergriff durch Polizeibeamte im Dienst thematisiert. Alina S. ist als Prostituierte tätig, als sie den Mann kennenlernt, der letztlich auf offener Straße mehrfach auf sie einsticht, nachdem sie ihn abgewiesen hat. Anhand des Falls von Mia P. wird die Verharmlosung rechter Gewalt selbst durch den zuständigen Richter geschildert. Das tragische Schicksal von Eva H., bei dem es um häusliche Gewalt geht, zeigt auch die möglichen Auswirkungen auf die beteiligten Kinder auf. Das erlittene Leid von Monique B. lenkt den Blick auf Missbrauch in kirchlichen Strukturen. Iryna R.s Lebensgeschichte verdeutlicht u.a. die besondere Brisanz des Themas in Flüchtlingsunterkünften. Bei der abschließenden Darstellung des Schicksals von Faizah M. hingegen liegt der Fokus auf dem Strafbestand der Vergewaltigung in der Ehe.
Die Darstellung dieser Einzelschicksale wird wiederholt unterbrochen von Einschüben, in denen Hintergrundinformationen, juristische Gegebenheiten und wissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt werden. Diese sind oftmals hilfreich und nötig, um die Zuständigkeiten, Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der beteiligten Personen und die Rahmenbedingungen des Rechtssystems zu verstehen.
Diskussion
Die persönlichen Geschichten zeigen, dass sexualisierte Gewalt stets mit einem Ungleichgewicht und Missbrauch von Macht einhergeht. Dies zieht sich durch alle Fallvignetten durch. Anhand der persönlichen Geschichten werden aber vor allem die Belastungen der betroffenen Frauen durch die Gewalterfahrung, wie aber auch durch den Gerichtsprozess sehr deutlich. Transparent werden zudem die Schwierigkeiten bei der juristischen Aufarbeitung. Es werden Mythen und Vorurteile sichtbar, denen von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen begegnen, auch vor Gericht. In mehreren Fällen wird gezeigt, wie geschlechtsspezifische, kulturelle und selbst rassistische Stereotype selbst vor Gericht wirksam sein können.
Das Buch ergänzt durch den Blick auf die Einzelschicksale viele andere Publikationen zu diesem Thema, bei denen z.B. eher die – meist durch die Problematik des hohen Dunkelfelds mit Vorsicht zu interpretierenden – Fallzahlen im Vordergrund stehen. Es veranschaulicht auf nachhaltige Art und Weise die furchtbaren, langwierigen und umfassenden Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen, wie auch die Belastungen durch die juristische Aufarbeitung. Vielleicht kann man sogar soweit gehen, Ansatzpunkte für die diskussionswürdige These einer frauenfeindlichen Rechtsprechung zu finden.
Während in der medialen Berichterstattung über Gerichtsverfahren wegen Gewalt gegen Frauen oft der Fokus auf dem Täter (seltener der Täterin) liegt, stehen hier die Schicksale der Betroffenen im Mittelpunkt. Beeindruckend wird nicht nur aufgezeigt, wie sehr die Gewalterfahrung sie beeinträchtigt, sondern auch, wie viele von ihnen einen Weg finden, nicht in ihrer Opferrolle zu verbleiben, sondern mit ihren Verletzungen und ihrem erlittenen Leid zu leben und selbstbestimmt ihren Weg zu gehen. Was mir persönlich etwas gefehlt hat und vielleicht dem Fokus auf die juristische Perspektive zum Opfer fiel, ist die für viele Betroffene sicher zentrale Unterstützung durch spezialisierte Fachberatungsstellen.
Fazit
Indem einzelne Schicksale von Gewalt betroffener Frauen in ihrer Bandbreite dargestellt werden, wird diesen Betroffenen eine Stimme gegeben. Über diese erschütternden Einblicke in individuelle Schicksale hinaus lenkt der Band den Blick aber auch auf strukturelle Probleme, denen betroffene Frauen begegnen. Deutlich wird, dass es bei dem Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt noch einiges zu tun gibt, insbesondere im Bereich des Opferschutzes bei der juristischen Aufarbeitung. Man kann diesem Buch nur viele Leser_innen jederlei Geschlechtszugehörigkeit wünschen.
Rezension von
Gesa Bertels
Soziologin (M.A.) und Diplom-Sozialpädagogin (FH), wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), München
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Es gibt 19 Rezensionen von Gesa Bertels.
Zitiervorschlag
Gesa Bertels. Rezension vom 11.06.2020 zu:
Christina Clemm: AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2020.
ISBN 978-3-95614-357-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27012.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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