Michel Raab, Cornelia Schadler (Hrsg.): Polyfantastisch?
Rezensiert von Maria Kühn, 30.06.2020

Michel Raab, Cornelia Schadler (Hrsg.): Polyfantastisch? Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis. Unrast Verlag (Münster) 2020. 224 Seiten. ISBN 978-3-89771-282-9. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.
Thema
Der Band widmet sich mit seinen diversen Beiträgen der Fragestellung inwiefern polyamorösen Begehrensweisen und nicht-monogamen Beziehungspraxen ein emanzipatorischer Gehalt zugesprochen werden kann. Dabei richten die Herausgeber*innen den Fokus nicht darauf wie Nichtmonogamie im gesellschaftlichen Diskurs zu Veränderungspotenzialen und Perspektiverweiterungen beitragen kann, sondern fokussiert dagegen vorrangig auf die innerhalb von polyamorösen Begehrensweisen auftretenden Widersprüche in Bezug auf die tatsächlichen emanzipatorischen Potenziale. Dabei geht es um Fragestellungen von Selbstverständnissen, Positionierungen und Privilegien die innerhalb sowie außerhalb von nichtmonogamen Beziehungspraxen wirksam werden. Der Ansatzpunkt des Buches ist diese zu diskutieren und damit Anregungen für die im Titel formulierte emanzipatorische Praxis zu geben.
Herausgeber*innen
Cornelia Schadler ist Soziolg*in und Senior Lecturer am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien und forscht zu Beziehungsassemblagen, Familiendefinitionen, nicht-monogamen Beziehungen und kollektiver Elternschaft.
Michael Raab ist Köch*in, Sozialarbeiter*in und Sozialwissenschaftler*in und Teil des Bildungskollektivs Biko.
Autor*innen
Die Autor*innenschaft ist sehr vielfältig aufgestellt. Ein Teil ist im akademischen Setting verortet; dabei reichen die Disziplinen u.a. von Politik- und Bildungswissenschaft, Soziologie, Transkultureller Kommunikation sowie Queer und Gender Studies. Des Weiteren sind die Autor*innen im aktivistischen – feministischen, linken und gewerkschaftlichen – Kontext verortet. Dabei befassen sich die Autor*innen aus persönlicher Perspektive sowie theoretischer Perspektive mit Nichtmonogamie.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber*innen wollen mit den Beiträgen den Bandes Impulse für die Fragestellung setzen ob und wie eine private Lebensweise hegemoniale und kapitalistische Strukturen unterwandern kann. Damit vertreten die Herausgeber*innen eine klare linke Positionierung, die sich mit den Schnittpunkten von persönlicher Lebensentscheidung und politischem Bewusstsein und Engagement auseinandersetzt. Anliegen ist den Herausgeber*innen dabei vor allem auch eine Auseinandersetzung mit dem Scheitern vieler Beziehungsexperiemente der 68er und folgenden sowie die Potenziale die sich aus der entsprechenden Reflexion für heutige nicht-monogame Beziehungsweisen ergeben.
Inhalt
In der Einleitung „Die Weltrevolution am Küchentisch?“ der Herausgeber*innen Cornelia Schadler und Michael Raab wird eine prägnante und übersichtliche Darstellung der Entwicklung „alternativer Lebensformenpolitik“ [1] von 1930 bis heute sowie die sich daraus ergebenden Ausblicke. Diskutiert werden die Entwicklungen vor der Fragestellung inwiefern ein Zusammenhang zwischen Beziehungsform und Gesellschaft besteht. Eine direkte Kopplung entsprechen der Idee einer (De-)Stabilisierung (private Lebensführung hat Einfluss auf gesellschaftliche Zustände) beziehungsweise der neoliberalen Integration (kapitalistisch-patriarchale Verhältnisse bilden sich ebenso in alternativen Lebensentwürfen ab). Eine lose oder keine Kopplung entsprechen einem poststrukturalistischem Verständnis, welches lokales Wirken alternativer Praktiken eingebettet in Normen und Strukturen mit dem Potenzial diese zu rekonfigurieren sieht, dies aber nicht zwingend voraussetzt. Die Fragestellung der Wirksamkeit und des Veränderungspotenzials zieht sich nachfolgend als Roter Faden begleitend durch den Band.
Die Texte des ersten und umfagreichsten Teiles des Bandes mit dem Titel Widerständige Räume setzen sich mit den Möglichkeiten von nicht-monogamen Beziehungsgestaltungen auseinander und deren sich, im Bezug zu den scheinbar übermächtigen bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, ergebenden Fragen zu Sprache, Beziehungsdefinitionen und -relationen, sowie nicht-heteronormativen Lebensweisen. Die Texte fragen nach den Wegen die Menschen beschreiten hin zu Beziehungskonzepten jenseits der Mononormativität sowie den Herausforderungen und den vielgestaltigen Vorstellungen innerhalb von nicht-normativen Beziehungsweisen. Die Texte sind vorrangig geprägt von persönlichen Erzählungen, biographischen Anteilen und Interviews. Damit bietet dieser Teil des Bandes eine multiple Innenschau verschiedenster Poly-Kontexte und thematisiert deren Vielschichtigkeit sowie Widersprüche und Ambivalenzen. Die Texte sollen anregen zu reflektieren, weiter und um zu denken und keine Allgemeingültigkeit und damit feststehende Normen und Kategorisierungen zuzulassen, sondern permanent in Frage zu stellen.
Gesa Mayer beschäftigt sich in ihrem*seinem Text „Meine Freundin und ihr Freund. Oder: gibt es Sprache jenseits von Mononormativität?“ mit Möglichkeitsräumen von Sprache für Begehrens- und Lebensweisen jenseits von Heteronormativität und bezieht dafür Autobiographisches sowie Erkenntnisse mit Interviewpartner*innen ein. Dabei diskutiert die* Autor*in wie Begriffe als widerständige Praxis anzueignen sind, sowie die Möglichkeiten der Schaffung neuer Begriffe um Schubladisierungen entgegen zu wirken.
Der Text „Beziehung(s)formen im queeren Alltag“ von Boka En & Michael En mit David En-Griffiths, Felix Pilz, Mer Pöll & Max Rosenthaler setzt sich in theoretischer wie sehr persönlicher Art mit der Frage auseinander „Was [es] bedeutet […], nicht zu leben, was >normal< ist, sondern zu leben, was möglich ist?“ (S. 45). Die Autor*innen beschäftigen sich mit den Probleme von Kategorisierungen und damit verbundene Erwartungen und Ansprüchen und der Infragestellung von Zielen von Beziehungen, wie eben Kinder und Ehe und verweisen dagegen auf Dynamiken, Brüche, Veränderungen. Die Autor*innen sind in ihrer Darstellung dabei nicht utopisch optimistisch, sondern sehr sensibel für die Herausforderungen die sich aus unterschiedlichen Vorstellungen sowie aus immer wieder verändernden Konstellationen ergeben.
Der Text „Schöner leben mit Polyamory? Von selbstbestimmten beziehungsweise fremdbestimmten Beziehung“ von Stefan Ossmann verdeutlicht anhand von Interviews wie Ungleichheiten und Hierarchien, sowie Differenzen im Selbstverständnis innerhalb eines Polyküls zum Tragen kommen.
Doreen Kruppa erweitert die romantisierte bis sexuell konnotierte Beziehungsperspektive in ihrem*seinem Text „Freundschaftszentrierte Lebensweisen. Wie Alltagspionier*innen neue Wege der Vergesellschaftung beschreiben“ um den Aspekt der Freund*innenschaft und stellt deren dekonstruktivistische Potenziale dar, wenn Menschen ihren primären Fokus nicht auf den Wunsch nach Partner*innenschaft legen, sondern solidarische, care- und gemeinschaftliche Bedürfnisse dem gegenüber bevorzugen.
Die Texte von Betaversion und Katja Krüger setzen sich mittels persönlich geprägter Darstellung mit der Bedeutung von Polyamory als permanenter Verhandlungsprozess in Bezug auf Online-Kontaktsuchen auseinander und verdeutlichen die in diese Formaten häufig zum Tragen kommenden stereotypen Vorstellungen von polyamorös begehrenden Menschen.
Der letzte Text des ersten Teil des Bandes von Gwendolin Altenhöfer stellt im Rahmen einer sehr persönliche Abrechnung mit den Weihnachtsfeiertagen dar wie sich gesellschaftliche Normen an einem Tag in ihrer Wirkmächtigkeit des glücklichen liebevollen familiären Zusammenseins in voller Wucht entfalten dem sich kaum eine*r zu entziehen vermag.
Im zweiten Teil des Bandes Struktur und Strukturierung verdeutlichen die Autor*innen Aspekte der Diskussionen um Strukturierung von Sexualität, Konsens sowie häuslicher Aufgabenteilung in Poly-Kontexten.
Christian Klesse plädiert für die Anwendung und Neu-Rezeption des von Paul B. Preciados begründeten „Kontrasexuellen Manifestes“ innerhalb nicht-monogamer Begehrensweisen. Dabei ist es die*der Autor*in ein Anliegen zu vermitteln dass „Dekonstruktion, Kapitalismuskritik, Lust und widerständige Praxis […] einander nicht ausschließen [müssen]“ (S. 127). Anhand von Dildo und Anus diskutiert die*der Autor*in Möglichkeitsräume der subversiven Wideraneignung von Selbstverständlichkeiten des Sex (im Sinne von Begehren, Geschlecht und sexuelle Praktiken) und eine damit verbundene „radikale Infragestellung unseres Wissens um Sexualität und Geschlecht“ (S. 129).
Karl Meyerbeer widmet sich einem entscheidenden Moment der Nichtmonogamie, welcher unter dem Fokus einer allseits propagierten Konsensmoral in Beziehungen von grundlegender Bedeutung ist: die Frage nach der Gültigkeit und Wirksamkeit von Konsens. Dahingehend fragt die*der Autor*in was Konsensentscheidungen brauchen um für alle tragbar zu sein und kommt zu dem Schluss dass diese zwingend herrschaftskritisch sein müssen um Entscheidungen auf Augenhöhe überhaupt treffen zu können.
Der Text von Michael Raab bezieht sich auf eine der*dem Autor*in eigene Studie die Care in konsensuell-nichtmonogamen Beziehungsnetzwerken untersucht. Dabei konnte die*der Autor*in feststellen dass Poly-Kontexte durch ihre Struktur angehalten sind mehr „Eigensinn in der Beziehungsführung und auch in der Aufgabenverteilung zu entwickeln“ (S. 158). Des Weiteren zeigt sich dass die untersuchten Beziehungsnetzwerke alle nicht die Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt des Lebens stellen, sondern ein sorgsames Miteinander – und damit auch ein Gegenmodell zu kapitalistischen Verwertungslogik bieten.
Im dritten Teil des Bandes „Polynormativität?“ setzen sich die Autor*innen mit der notwendigen Kritik vieler Konzepte und Begriffe der Polyamorie auseinander. Die Texte geben dabei zahlreiche Einblicke und Anregungen unter dem Fokus dass Poly alleine nicht ausreicht, sondern dass die Auseinandersetzung mit Hegemonie, Diskriminierung und Ungleichheit zwingend nötig ist. Die alleinige Anwendung eines Beziehungs- oder Lebenskonzeptes mit einer grundlegenden fairen und sensiblen Beziehungsgestaltung kann nur gelingen, wenn vielschichtigere und multiple kritische Auseinandersetzungen zugelassen werden, die auch die Unterscheidung von Poly und Mono in den Hintergrund rücken lässt.
Mer Pöll fragt im Text nach der Wirkmächtigkeit der Norm der exklusiven romantischen Zweierbeziehung und diskutiert wie der Imperativ der Liebe auch in Polykontexten forciert wird wodurch jenseits von Amanormativität [2] bestehende Beziehungsweisen depriviligiert werden.
Aufschlussreiche Facetten zeigt das Interview mit Regisseur*in Paul-Julien Robert zu dem Film „Meine kleine Familie“, in der sich die*der Regisseur*in mit den Auswirkungen von gescheiterten Polybeziehungen auf Kinder aus einer autobiographischen Sicht auseinandersetzt. Paul-Julien Robert ist in der sogenannten Mühl-Kommune aufgewachsen und beschreibt im Interview wie trotz der Auflösung der Privatheit in Bezug auf Besitz sich Macht und Gewalt in der Kommune durchgesetzt hat. Anhand dessen verdeutlicht sich wie idealistische Vorstellungen nicht einfach umgesetzt werden können, sondern eines permanenten Reflexionsprozesses, Kritik und Veränderbarkeit bedürfen.
Cornelia Schadler verdeutlicht anhand von Interviews und eines Fallbeispiels wie eine De-Thematisierung von Ungleichheiten aufgrund struktureller gesellschaftlicher Zustände Gewalt in Poly-Kontexten bedingen kann. Die*der Autor*in beschreibt wie Kommunikation grundsätzlich als essenziell für Polyküle [3] verstanden wird, wobei bei nicht vorhandener Bereitschaft zur Reflexion von Machtverhältnisse diese zu Abwertungen und Diskriminierung innerhalb von Polykülen sowie nach Außen führen können.
Andrea*s Exner thematisiert wie Poly als Distinktionsgewinn für bestimmtes Milieu zu verstehen ist im Sinne der Möglichkeiten im neoliberalen Wertekanon, der sich auch in Liebesverhältnissen wiederfindet, anhand von Anforderungen wie Selbstoptimierung, Beziehungsarbeit, Flexibilität und Bedürfnisorientierung. Die*der Autor*in fragt wie Polyamory zu einer Überwindung dieser Zwänge und sozialen Normen führen kann und fordert heraus diese nicht einfach zu übernehmen, sondern Herrschaft und Marginalisierung jeweils zu thematisieren um Möglichkeitsräume nach freier und selbstbestimmter Beziehungs- und Liebesweisen zu schaffen, egal ob mensch poly oder mono lebt.
Im 4. Teil des Bandes „Wie die anderen es sehen“ ist es ein Anliegen der Herausgeber*innen im Rahmen eines Übersichtartikels von Frank Lipschik eine notwendige Aussenperspektive einzubeziehen. Der Text widmet sich den Familien- und Liebesvorstellungen im deutschen Rechtspopulismus, da mit diesen eine klare Abwehr vielfältiger Lebens- und Begehrensweisen einhergeht. Aufgrund dessen ist eine Begegnung und Auseinandersetzung zwangsläufig um emanzipatorische Potenziale zu erhalten auch wenn – oder gerade weil – nicht-monogame Lebensweisen und -vorstellungen nicht widerspruchsfrei sind.
Diskussion
Als zentrales Moment des Bandes ist zu verstehen, dass Nichtmonogame Beziehungen äußerst vielfältig und vielschichtig sind wie der Gehalt des Begriffes Nichtmonogamie (oder Polyamory) selbst. Die sich aus dieser Vielschichtigkeit ergebende Komplexität und Widersprüchlichkeit im lebenspraktischen wie gesellschaftlichen Kontext stellen die Beiträge des Bandes sehr gut für gelebte Poly-Begehrens- und Lebensweisen wie für den theoretischen Diskurs in deren gegenseitiger Verknüpfung dar.
Dabei diskutieren die Autor*innen die sich ergebenden Herausforderungen auf unterschiedliche Weise mittels auto-/biographischer Anteile sowie über theoretischer-wissenschaftlicher Auseinandersetzung vom Erfahrungsberichten über Interviewstudien, literarischer Beiträge bis Lektürerezeptionen. Der Band schafft darin einen sehr guten Spagat zwischen auto-/biographischen Narrativen und kritisch-theoretischen Anspruch und macht das Thema „polyfantastischer“ Lebens- und Begehrensweisen in der gesellschaftlichen Relevanz greifbar. Diese Art der Herangehensweise an den Band macht diesen zu einer spannenden und lebendigen Lektüre, der eine gute Theorie-Praxis-Verbindung schafft. Es eröffnen sich durch die Lektüre Möglichkeits- und Vorstellungsräume wie starre hegemoniale und heteronormative Denkschemata im Rahmen Nichtmonogamer Beziehungen einerseits flexibilisiert und destabilisiert werden und andererseits genau darin verharren können.
Explizit ist den Autor*innen ein Anliegen aus einer dezidiert linke Perspektive die Herausforderungen innerhalb nicht-monogamer Lebensweisen herauszuarbeiten, die sich aus heteronormativen wie kapitalistischen gesellschaftlichen Zuständen an die Menschen, die sich für nicht-monogame Lebensweisen entscheiden sowie für die sich ergebenden Polyküle ergeben. Dabei befassen sich die Autor*innen mit Hierarchien und Macht innerhalb von Polykülen, Ausschlüssen aus Polykülen, Verteilung von Care-Arbeit innerhalb von Polykülen, Hierarchisierungen von Partner*innenschaft und Freundschaft, normative Setzungen von Romantik, Liebe und Verbundenheit sowie sprachliche Barrieren der Selbstermächtigung.
Allerdings bleibt die Fragestellung der Wirksamkeit und des Veränderungspotenzials unbeantwortet. Dabei benennen die Herausgeber*innen die Leerstelle des Bandes – sowie des gesamten Diskurses – in ihrem Schlusswort selbst: Wo weist die Auseinandersetzung mit Poly über Poly hinaus? Dass bedeutet konkret wenn Nichtmonogamie nicht auf sich im „kleinen“ privaten Polykül beschränkt bleiben möchte und sich an gesellschaftlichen Zuständen reiben muss und will wo bleibt dann das verbindende Element und Koalitionen mit anti-hegemonialen Aktivismus?
In einzelnen Beiträgen werden die Themen Macht, Hierarchie, Diskriminierung, Klassismus, Rassismus benannt, aber leider ohne konkrete Antworten wie mit den Themen umgegangen werden kann und wie ein machtkritischer und diskriminierungssensibler Raum innerhalb von Polykülen geschaffen werden könnte. Dabei betonen einzelne Beiträge durchaus die Notwendigkeit von Reflexion und Kritikfähigkeit und immer wieder erforderlichen Aushandlungsprozessen, aber die im Titel benannte emanzipatorische Praxis bleibt leider außen vor. Dabei wären gerade intersektionale Ansätze für eine emanzipatorische Praxis der Nichtmonogamie sehr ertragreich.
Die Herausgeber*innen fragen dementsprechend warum Poly-Kontexte die über „Lebensformpolitik“ hinausweisen nicht oder wenig sichtbar werden. Dabei versuchen die Herausgeber*innen eine linke Positionierung vorzunehmen da in ihrem Verständnis Beziehung und Familie gesellschaftlich bedeutsame Lebensbereiche sind und Beziehungsgestaltung entsprechend ein wichtiges Thema der politischen Linken sein sollte. Dabei wird ein Verständnis der „Linken“ von den Autor*innen nicht vorgenommen und verbleibt damit als unklare Randnotiz. Damit folgen die Herausgeber*innen einem bekannten Mechanismus Links als Worthülse bestehen zu lassen ohne konkret inhaltlich zu füllen. Das ist schade und würde dem Anliegen der Herausgeber*innen eines emanzipatorischen Verständnisses durchaus entgegenkommen. Das Anliegen einer linken Positionierung ist dabei durchaus nachvollziehbar, allerdings durch die Unklarheit der Begriffsbestimmung auch nicht unproblematisch, da die in dem Band ebenso diskutierten Abgrenzungs- und dadurch Abwertungstendenzen sich ebenso in linken Räumen und Selbstverständnissen finden. Daran schließt sich die Frage an für wen nicht-monogame Beziehungsweisen gedacht sind und wem entsprechende emanzipatorische Potenziale überhaupt zugestanden werden. Man könnte auch von den Privilegien der Nichtmonogamie sprechen – wie es durchaus auch zum Teil im Band geschieht (Vrgl. Andre*as Exners Beitrag). Denn es stellt sich die Frage ob die im Band formulierten nicht sichtbaren Poly-Kontexte nicht vorhanden sind oder wo ein linkes Poly-Verständnis eingeschränkt sein könnte.
Der großer Gewinn des Bandes – wie schon angeführt – ist die breit angelegte und dadurch spannende und abwechslungsreiche Darstellung der Texte mittels theoretischer, biographische und literarischer Zugänge. Daran anschließend aber auch ein kleiner Kritikpunkt: da aufgrund der vielfältigen Zugänge sich auch die Frage der Zugänglichkeit stellt, da manche Texte eher niedrigschwellig, andere schwer ohne Vorwissen lesbar sind. Dahingehend wäre es wünschenswert gewesen diese Barriere zum Beispiel in der Einleitung zu benennen. Auch ein kleines Glossar wäre hilfreich gewesen um eine barrierefreie Zugänglichkeit eher zu ermöglichen, z.B. werden Begriffe wie Polykül oder Hegemonie nicht eingeführt und damit vorausgesetzt.
Auf alle Fälle verweist der Band ausführlich auf Widersprüchlichkeiten und möglicher Vereinnahmung von Poly-Kontexten durch Kapitalismus, hegemonialen Strukturen, sowie Macht und Diskriminierung.
Und es wird auch klar dass eine emanzipatorische Praxis nicht einfach vorausgesetzt werden kann alleine durch das Bestehen von Nichtmonogamie sondern das auch nichtmonogame Beziehungen nicht herrschafts- und diskriminierungsfrei sind.
Eine Folgeband der die Konsequenzen aufgreift wäre wünschenswert!
Fazit
Der Band gibt einen umfassenden Einblick in den aktuellen Diskussionsstand um Polyamory und Nichtmonogamie. Dabei geht es de Herausgeber*innen nicht um ein objektives von außen Beschreibendes sondern vor allem um eine Innenperspektive. Dementsprechend kommen vor allem persönliche Erfahrungen zu Wort und verknüpfen sich mit theoretischen Überlegungen. Durch diese Herangehensweise bildet sich die Vielschichtigkeit des Themas prägnant ab. Dadurch leistet der Band einerseits einen sehr guten Debattenbeitrag für nichtmonogam lebende wie interessierte Menschen und offeriert andererseits vielfältige Eindrücke und wichtigen Facetten der Thematik für alle denen das Thema bisher fern war. Das Buch lädt dazu ein stereotype Vorstellungen von Nichtmonogamie zu Hinterfragen sowie eine scheinbare zwangsläufige emanzipatorische Praxis kritisch zu hinterfragen.
[1] Mit Lebensformenpolitik beschreiben die Herausgeber*innen gesellschaftliche Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen die dezidiert nicht-hegemoniale Lebensweisen mitdenkt (Vrgl. S. 7)
[2] „Normen des Überhaupt-jemand-lieben-Müssen oder Mit-anderen-Sex-haben-Müssen“ (S. 11)
[3] Gefüge aller Menschen die sich im Rahmen eines nicht-monagmen Beziehungsnetzwerkes miteinander in Beziehungen befinden
Rezension von
Maria Kühn
Bildungsreferent*in, Sexualwissenschaftler*in, Sexualpädagog*in
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Es gibt 2 Rezensionen von Maria Kühn.
Zitiervorschlag
Maria Kühn. Rezension vom 30.06.2020 zu:
Michel Raab, Cornelia Schadler (Hrsg.): Polyfantastisch? Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis. Unrast Verlag
(Münster) 2020.
ISBN 978-3-89771-282-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27015.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.
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