Dirk Neumann, Ronald Pahlen u.a.: Sozialgesetzbuch IX
Rezensiert von Dr. Richard Schüler, 14.07.2020

Dirk Neumann, Ronald Pahlen, Stefan Greiner, Jürgen Winkler, Jürgen Jabben u.a. u.a.: Sozialgesetzbuch IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Verlag C.H. Beck (München) 2020. 14., neu bearbeitete Auflage. 1151 Seiten. ISBN 978-3-406-74143-2. 108,00 EUR.
Thema
Der Schwerpunkt des Bandes liegt bei der Kommentierung des SGB IX. Erläutert werden darüber hinaus das Behindertengleichstellungsgesetz, die Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung, die Werkstättenverordnung, die Schwerbehindertenausgleichsverordnung und weitere Vorschriften des Schwerbehindertenrechts.
Autoren
Verfasst wurde der Band durch:
- Dr. Dirk Neumann, Vizepräsident des Bundesarbeitsgerichts a.D.
- Dr. Ronald Pahlen.,Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht a.D.
- Prof. Dr. Stefan Greiner, Universität Bonn
- Prof. Dr. Jürgen Winkler, Katholische Hochschule Freiburg
- Jürgen Jabben, DRV Braunschweig-Hannover
Entstehungshintergrund
Durch das Bundesteilhabegesetz vom 23.12.2016 erfolgte die Weiterentwicklung des SGB XI. Dabei handelt es sich um ein umfassendes Artikelgesetz, mit dem verschiedene Bücher des Sozialgesetzbuches und weitere Rechtsvorschriften abgeändert wurden. Die umfassenden Änderungen traten bzw. treten in einem Zeitraum von 30.12.2016 bis 01.01.2023 in Kraft. Hintergrund für die Neukommentierung sind die am 01.01.2020 in Kraft getretenen Änderungen des SGB XI. Das betrifft das neue Vertragsrecht zwischen den Trägern der Eingliederungshilfe und den Einrichtungen und Diensten der Menschen mit Behinderungen sowie insbesondere die neu aus dem SGB XII überführte Eingliederungshilfe. Die Berücksichtigung von Gesetzgebung und Rechtsprechung erfolgte mit Stand vom 01.01.2020.
Aufbau und wesentliche Inhalte
Auf die einleitenden Bemerkungen zum Behindertenschutz schließt sich die Erläuterung des Sozialgesetzbuch IX – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an. Die Seiten 9 bis 21 beinhalten eine Synopse bezüglich der Bestimmungen des SGB IX mit Stand 19.06.2001 und 14.12.2019. Daran schließt sich entsprechend dem Aufbau des Gesetzes die Erläuterung der Normen an. Das Gesetz ist in drei Teile gegliedert:
- Teil 1 Regelungen für Behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen
- Teil 2 Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen (Eingliederungshilferecht)
- Teil 3 Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenrecht)
Auf den Seiten 22 bis 919 erfolgte die umfassende Erläuterung der entsprechenden Paragraphen. Gemäß § 1 erhalten Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Entsprechend dieser Norm ist der Inhalt des Sozialgesetzbuches auszulegen, „so dass bei jeder Vorschrift gefragt werden kann und muss, welchem Zweck die Bestimmung dient und dazu auf den Programmsatz zurückzugreifen ist.“ (S. 22)
Mit der Formulierung über die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe wurde das SGB IX an den Wortlaut des Artikels 1 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland am 26.03.2009 in Kraft trat, angepasst. Ebenso gilt dies für die neue gesetzliche Formulierung von „Menschen mit Behinderung,“ anstelle der bisherigen Formulierung „Behinderte“. Auch hiermit erfolgte die Anpassung an die UN-BRK. Hervorgehoben wurde, dass mit dem Bundesteilhabegesetz zur Umsetzung der UN-BRK folgende Ziele im SGB IX Teil 1 verwirklicht werden sollen:
„Dem neuen gesellschaftlichen Verständnis einer inklusiven Gesellschaft soll durch einen neu gefassten Behinderungsbegriff Rechnung getragen werden.
- Leistungen sollen wie aus einer Hand erbracht und zeitintensive Zuständigkeitskonflikte der Träger untereinander sowie Doppelbegutachtung zu Lasten der Menschen mit Behinderungen vermieden werden.
- Die Position der Menschen mit Behinderungen im Verhältnis zu den Rehabilitationsträgern und den Leistungserbringern soll durch eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung gestärkt werden.
- Der Anreiz zur Aufnahme einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt soll auf persönlicher und institutioneller Ebene verbessert werden.
- Die Leistungen zur Teilhabe an Bildung sollen insbes. im Hinblick auf studierende Menschen mit Behinderung verbessert werden“. (S. 22 ff).
Im ersten Teil werden die Leistungen zur Teilhabe und Rehabilitation geregelt Durch § 2 Abs. 1 SGB IX wird der Behindertenbegriff bestimmt. Im Abs. 1 heißt es dazu:
„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“
Es wird damit angeknüpft an die von der WHO verabschiedete ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) (S. 26). Damit erfolgt die Klassifikation in folgende Beeinträchtigungen:
- von Funktionen und Strukturen des menschlichen Organismus,
- von Aktivitäten aller Art einer Person und
- der Partizipation an Lebensbereichen wie z.B. dem Erwerbsleben.
„Behinderung ist danach die negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und den Kontextfaktoren auf ihre Funktionsfähigkeit, worunter vor allem die Teilhabe an Lebensbereichen verstanden wird“ (S. 26). Es wird darauf verwiesen, dass sich Schwierigkeiten bezüglich der Feststellung der Behinderung dadurch ergeben, dass auf die Regelwidrigkeit des körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes abgestellt wird. (S. 28).
Alterserscheinungen typischer Art sollen daher keine Berücksichtigung finden. Bei diesen handelt es sich um „körperliche, geistige oder seelische Leistungseinschränkungen, die sich im Alter physologisch entwickeln und die für das jeweilige Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind“ (S. 28). Durch das jugendliche oder höhere Alter bedingte Leistungseinschränkungen und damit Funktionsstörungen sollen somit keine Behinderung darstellen, da sie nicht Folge eines regelwidrigen Zustandes sind (S. 28). Weiterhin wird darauf verwiesen, dass Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im höheren Alter auftreten, nicht als Alterserscheinungen angesehen werden, auch wenn sie erstmalig im höheren Alter zu verzeichnen sind (S. 29). Hierzu wird auf entsprechende Beispiele verwiesen. Da hierzu keine Bezugnahme auf die UN-BRK erfolgt, ist davon auszugehen, dass von den Autoren kein Widerspruch zwischen der Begriffsbestimmung durch das SGB IX und der UN-BRK gesehen wird. Eine solche Auffassung wird in anderen Darstellungen nicht geteilt. Bei der Erläuterung der UN-BRK im Nomos Kommentar, Gesamtes Arbeitsrecht, Band 3, 1.Auflage 2016 wird darauf verwiesen, dass es problematisch ist, dass § 2 Abs. 1 des SGB IX das Kriterium des „Abweichens des von dem für das Lebensalter typischen Zustandes“ enthalte Damit werde älteren Menschen das Recht auf Teilhabe in der Gesellschaft verwehrt. Bereits vor Inkrafttreten der UN-BRK habe die Begrenzung auf altersadäquate Funktionen Kritik erfahren, „da weder bei Kindern noch bei hoch altrigen Personen der richtige alterstypische Zustand zu ermitteln ist“ (S. 2287).
Es bedürfe, ausgehend von der UN-BRK der Weiterentwicklung der entsprechenden Regelungen im § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Verwiesen wird hierzu auch auf Lösungsversuche durch die Rechtsprechung. Mit den Erläuterungen wurden die Koordinierung der Leistungen, Beratung, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zur Teilnahme am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, soziale Teilhabe u.a. dargestellt.
Der Teil 2 umfasst das Eingliederungsrecht (S. 284 ff). Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen war bis zum 31.12.2019 in den §§ 53 ff. SGB XII geregelt und wurde dann in das SGB XI überführt. Hierdurch erfolgte die Herauslösung aus der „Fürsorge“. Gegenstand der Eingliederungshilfe sind daher nur sogenannte Fachleistungen. Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung werden weiterhin im Rahmen der §§ 41 ff SGB XII erbracht. Es ist nunmehr zu verzeichnen, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht mehr einrichtungs- sondern personenkonzentriert ausgerichtet werden. Ziel ist es, den Menschen mit Behinderungen eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen und die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu fördern.
Das Schwerbehindertenrecht ist im Teil 3, S. 408 ff dargestellt. § 152 SGB IX regelt als Zentralnorm des Behindertenrechts das Verfahren zur Feststellung der Behinderung (S. 416). Auf Antrag des behinderten Menschen wird durch die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt. Hierfür gilt seit dem 01.01.2009 die zu § 30 BVG erlassene Versorgungsmedizinverordnung. Ausführlich werden der besondere Kündigungsschutz sowie sonstige Vorschriften, die dem Schutz Schwerbehinderter dienen, dargestellt. Das betrifft die Freistellung von Mehrarbeit § 207, den Zusatzurlaub § 208 sowie Werkstätten für behinderte Menschen § 209 ff. Behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten stehen gemäß § 221 Abs. 1 SGB IX, wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu den Werkstätten in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis. Es wird darauf hingewiesen, dass konkrete Bestimmungen zur Höhe der den behinderten Menschen zu gewährenden Vergütung normativ auch weiterhin nicht getroffen werden. Geregelt ist nur, dass ein Grundbetrag in Höhe des Ausbildungsgeldes, das die Bundesagentur für Arbeit nach den für den sie geltenden Vorschriften behinderten Menschen im Berufsausbildungsbereich zuletzt leistet, sowie darüber hinaus ein leistungsangemessener Steigerungsbetrag gezahlt werden muss. Die Höhe des jeweils zu zahlenden Steigerungsbetrages sei dabei von den Verhältnissen in der einzelnen Werkstatt abhängig (S. 852). Hierzu wird auf die Bestimmungen der Werkstättenverordnung WVO verwiesen. Die Beendigung der Werkstattverhältnisse erfolgt gemäß § 221 (7) SGB IX durch die Lösungserklärung des Trägers der Werkstatt. Diese bedarf der Schriftform und ist zu begründen. Für Rechtsstreitigkeiten zwischen den behinderten Menschen und dem Träger der Werkstatt sind die Arbeitsgerichte zuständig (S. 855).
Im Anschluss an die Kommentierung des SGB IX werden auf den Seiten 921 ff weitere behinderungsrechtliche Vorschriften dargestellt. Auszugsweise wird das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr und vollständig das Behindertengleichstellungsgesetz erläutert. Daran schließen sich der Abdruck des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sowie die Erläuterung der Durchführungsverordnungen: Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen, Schwerbehindertenausgleichsabgabeverordnung, Werkstättenverordnung, Werkstätten- Mitwirkungsverordnung und Schwerbehindertenausweisverordnung an. Mit dem Band werden daher die wesentlichen Vorschriften für Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen kommentiert. Zu verweisen ist darauf, dass eine Vielzahl anderer Rechtsvorschriften auch Normen enthalten, die diese Materie betreffen. Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl von Richtlinien sowie Empfehlungen von Leistungsträgern die der Durchsetzung dieser Vorschriften dienen.
Fazit
Das Bemühen zur übersichtlichen Gestaltung des Schwerbehindertenrechts wird an den Ausführungen in diesem Band sichtbar. Die Materie bleibt jedoch weiterhin, bedingt durch die Aufgliederung des Sozialleistungssystems, kompliziert. Die Anforderungen ergeben sich aus einer Vielzahl von Regelungen für unterschiedliche Leistungsträger mit jeweils spezifischer Interessenlage. Obwohl das Behinderungsgleichstellungsgesetz auf die Berücksichtigung bestimmter Behinderungen bei der Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken sowie bezüglich der Kommunikation orientiert, bleibt es daher gegebenenfalls schwierig, die entsprechenden Normen an Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zu vermitteln. Die Erläuterungen sind auf aktuellem Stand und bieten eine fundierte Orientierung für die Rechtsanwendung. Der Kommentar ist daher allen zu empfehlen, die sich mit der Beratung und Leistungserbringung auf dem Gebiet der Rehabilitation zu befassen haben.
Rezension von
Dr. Richard Schüler
Fachanwalt für Arbeitsrecht
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Zitiervorschlag
Richard Schüler. Rezension vom 14.07.2020 zu:
Dirk Neumann, Ronald Pahlen, Stefan Greiner, Jürgen Winkler, Jürgen Jabben u.a. u.a.: Sozialgesetzbuch IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Verlag C.H. Beck
(München) 2020. 14., neu bearbeitete Auflage.
ISBN 978-3-406-74143-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27023.php, Datum des Zugriffs 01.10.2023.
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