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Adrian Lobe: Speichern und Strafen

Rezensiert von Dr. Richard Schüler, 22.02.2021

Cover Adrian Lobe: Speichern und Strafen ISBN 978-3-406-74179-1

Adrian Lobe: Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis. Verlag C.H. Beck (München) 2019. 256 Seiten. ISBN 978-3-406-74179-1. 16,95 EUR.

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Thema

Behandelt werden die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung. Die aus der Digitaltechnik resultierenden Möglichkeiten zur Kontrolle und Überwachung der Bürger führen in ein von den Nutzern selbstgebautes Datengefängnis.

Autor

Verfasst wurde der Band von Adrian Lobe. Dieser ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er hat insbesondere zu Fragen des Datenschutzes und der Überwachung publiziert.

Entstehungshintergrund

Die Möglichkeiten für die Nutzung der Digitaltechnik zur Überwachung und Kontrolle wurden in einer Vielzahl von Publikationen reflektiert. Hier sei nur die amerikanische Ökonomin SHOSHANA ZUBOFF (Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus) erwähnt. Diese verwies auf die „Verfinsterung des digitalen Traums“ und dessen rapide Mutation zu einem ganz und gar neuen gefräßigen kommerziell orientierten Projekt, dem sie den Namen Überwachungskapitalismus gab. Von dieser Sichtweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ist auch die vorliegende Schrift geprägt. Der Autor knüpft, das macht bereits der Titel deutlich, an das Werk des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) „Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses“ – an. Dort wurde die Entwicklung der Institution Gefängnis dargestellt. Verbunden war damit die Herausbildung einer neuen Strafpraxis, die auf den Wegfall der körperlichen Strafe und der nunmehrigen Isolierung von Häftlingen im Gefängnis zur Disziplinierung und Überwachung basierte. Anknüpfend hieran konzentriert sich Adrian Lobe auf die digitalen Techniken, die dazu führen, dass nunmehr das Speichern und Strafen einer Gesellschaft im Datengefängnis erfolgt.

Aufbau und wesentliche Inhalte

Vor dem Beginn der Ausführungen wird das Zitat „Das Gefängnis funktioniert als ein Wissensapparat“ von Foucault gestellt. Hieran anknüpfend werden die entsprechenden digitalen Techniken an einer Vielzahl von Beispielen dargestellt. Nach einem über düsteren Prolog über techno-autoritäre Lösungen für Wahlen der Zukunft schließen sich die folgenden Abschnitte an:

  1. Einleitung – Auf dem Weg in die programmierte Gesellschaft
  2. Endstation Flughafengate – Wenn der Algorithmus die Ausreise verweigert
  3. Code is Law – Wer braucht noch Gesetze, wenn es Programmcodes gibt?
  4. CST Google – Per Suchbefehl zum Täter
  5. Der Körper als Spurensicherung – Wie das Internet der Dinge zum Tatort von morgen wird
  6. Gefangen in informationeller Sippenhaft – Wie Gene uns verraten
  7. Die Formatierung der Datenkörper – Wenn das Gesicht zum Pass wird
  8. Die Regierung der Datenkörper – Wie Staaten und Konzerne unsere Körper unterwerfen
  9. Die Internierung der Datenkörper – Wie wir mit smarten Gadgets im offenen Vollzug landen
  10. The New Normal – Wenn der Computer sagt, dass du nicht mehr normal bist
  11. Die Gesellschaft der Metadaten – Wie Freiheit im Datengefängnis eingeschränkt wird
  12. Schluss – Auf dem Weg in die Post-Wahl-Gesellschaft

Die gewählten Überschriften für die Gliederungspunkte verweisen auf die Verknüpfung von technischen und gesellschaftlichen Fragenstellungen, die mit einer Vielzahl von Beispielen erläutert werden. Verwiesen wird darauf, dass Foucault ein intellektuelles Erbe hinterließ, das Anknüpfungspunkte zur Erklärung des digitalen Wandels bietet. Nicht sehen konnte Foucault, dass sich entsprechende Entwicklungen erst nach seinem Tode vollzogen, „die aus der Datenexplosion (Big Data) und den digitalen Apparaturen resultierenden Macht- und Überwachungstechnologien, mit denen sich Gesellschaften berechnen und beherrschen lassen“ (S. 18). Er konnte nicht ahnen, „dass Technologiekonzerne mit der Auswertung von Nutzerdaten eine algorithmische Regulierung ins Werk setzen und staatsähnliche Funktionen ausüben würden (etwa in der Strafverfolgung)“. Sein Werk sei weiterhin von besonderer Aktualität, da dieser darin Machttechniken beschreibt, die sich auch für die Analyse programmierter Gesellschaften nutzen lassen (S. 17). Bezugnehmend auf die Internetkonzerne und deren Datenerhebung wird darauf verwiesen, dass Herrschaftswissen an private Konzerne übergeht, die die Gesellschaft mit ihren „Arkan-Formeln“ berechnen und steuern. Die großen Internetfirmen Google, Amazon, Facebook und Apple „mutieren zu parastaatlichen Akteuren, die Verhaltensregeln aufstellen (Siri rät dem Nutzer etwa vom Rauchen ab), Bevölkerungskontrollen durchführen oder Beweise für Strafprozesse sammeln“ (S. 21).

Wieder anknüpfend an Foucault wird darauf verwiesen, dass man Menschen nicht mehr wie im Mittelalter in Kerker und dunkle Verließe stecken muss.

„Sie legen sich freiwillig elektronische Fußfesseln wie Smartphones oder Fitnesstracker an und unterwerfen sich einem elektronischen Hausarrest namens Smart Home. Wir bauen uns unser eigenes Datengefängnis – mit Mikrofonen, Kameras und Sensoren, die uns wie im Strafvollzug 24/7 überwachen. (...) Gerade diese Unmerklichkeit der Kontrollen, das kafkaeske Nicht-Zeigen-Wollen polizeilicher Gewalt, die totale Immaterialisierung von Macht machen die eigentliche Bedrohung aus“ (S. 28).

Diese durch die Anwendung digitaler Techniken bedingte Entwicklung wird in den entsprechenden Abschnitten des Bandes mittels einer Vielzahl von Beispielen dargestellt. Es wird auf das chinesische Sozialkreditsystem verwiesen (S. 56). Man braucht in diesem nicht mehr den Knüppel, um Bürger zu disziplinieren, es genügen nunmehr Abzüge beim Score. Mit dem Bewertungssystem gelingt es dem Regime eine Form des Überwachungsstaates zu installieren, an der die Bürger bereitwillig mitwirken (S. 58). In der Folge werden die Programmiervorschriften zu Verhaltensvorschriften im täglichen Leben, wobei diese algorithmische Steuerung der Gesellschaft nicht ohne einen Überwachungs- und Militärapparat funktioniert, der im Notfall intervenieren kann (S. 61). Hierzu wird angemerkt, dass das Bonitätssystem in China sehr große Zustimmung findet, während in den USA und Europa das Drohgemälde eines orwellschen Überwachungsstaates entworfen wird. Das man nicht nur von einem Drohgemälde, sondern von einer wachsenden Bedrohung sprechen muss, wird an entsprechenden Beispielen dargestellt. Dies betrifft Gesichtserkennungssysteme (S. 103). Mit der Umsetzung derartiger Systeme bahnt sich ein technologischer Totalitarismus an. Alles was nicht maschinenlesbar ist, führt zum Verdacht, subversiv zu sein. Zur Sicherheitskontrolle auf Flughäfen werden Scanner eingesetzt. Beispielhaft wird auf die Fieberkontrolle während der Ebola-Epidemie verwiesen (S. 129 ff). Da die Temperaturmessung mit Thermal-Scanner fehleranfällig war, war damit eine trügerische Sicherheit verbunden. Die Art und Weise, mit der hier das Sicherheitspersonal Verdachtsfälle isolierte und mit Infrarotthermometern die Körpertemperatur von Menschen maß, „trug polizeistaatliche Züge“ (S. 130). Als weiteres Beispiel wird darauf verwiesen, dass sich immer mehr Menschen freiwillig einen Mikrochip unter die Haut implantieren, um kontaktlos Türen öffnen oder in der Kantine bezahlen zu können. Der Körper wird dann wie ein Computer auslesbar. „Nicht nur Puls, Temperatur und Krankheiten, sondern auch Kontoinformationen, Logins, Bewegungsprofile, Konsumverhalten, Krankheiten etc.“ können gespeichert und trotz Verschlüsselung auch gehackt werden (S. 135). Als ambulante Alternative zum stationären Freiheitsentzug hat sich in den USA bereits der elektronisch überwachte Hausarrest etabliert (S. 150). Mit der elektronischen Fußfessel wird damit „eine menschliche und vor allem kostengünstigere Alternative zum konventionellen Strafvollzug“ geschaffen, „die es dem Strafgefangenen ermöglicht, am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (S. 151).

Vorgeschlagen wurde, das Smartphone zu einer Alternative zur elektronischen Fußfessel zu entwickeln (S. 153). Damit könne man Informationen sammeln, die weit über den Standort hinausgehen. Dies werfe die Frage auf „ob das Smartphone eine Bauplattform für Gefängnisarchitekturen ist – und ob das im Alltag verwendete Gerät nicht doch eine Vorstufe der Untersuchungshaft darstellt“. Die Probleme des Smart-Homes werden behandelt (S. 157 ff). Erörtert wird die Funktion von Suchmaschinen. Hierzu heißt es: „die Suchmaschine ist ein Datengefängnis“ (S. 214). Der damalige Google-Chef Eric Schmidt habe 2005 darauf verwiesen, dass das Ziel sei, für jede Suchanfrage nur noch einen Treffer anzuzeigen (S. 215). „Wir sollten in der Lage sein, sofort die richtige Antwort zu geben. Wir sollten wissen, was jemand meint“. Diese Position ist eine Absage an jede Form von Meinungspluralismus. „Die Verabsolutierung der Wahrheit ist wiederum das Wesensmerkmal von Diktaturen“ (S. 216). Verwiesen wird darauf, dass die Entwicklung der digitalen Kommunikation durch Twitter und Co. zur Trivialisierung der Sprachkultur führt (S. 219). In China erfolge die Zensur von Textnachrichten durch Algorithmen. „In westlichen Demokratien werden die Nutzer trivialisiert“. Hierdurch wird das Kommunikationsverhalten genauso kontrolliert – und steuerbar. „Man braucht Kritiker gar nicht mehr mit Gewalt mundtot zu machen – es reicht, wenn man ihre Sprache skelettiert“ (S. 221).

Diskussion

In dem Band werden die gesellschaftlich negativen Auswirkungen der Umsetzung von Digitalisierungstechniken dargestellt. Ursachen für die Entwicklungen werden nur angedeutet. Es wird darauf verwiesen, dass es darum gehe „über die Suspension zukünftiger Entwicklungen den Status quo aufrechtzuerhalten, das Soziale gewissermaßen einzufrieren“ (S. 30). Aufmerksam gemacht wird auf die vorausschauende Polizeiarbeit, die auf Prognosen basiert. Die entsprechenden Prognosetechniken erzeugen jedoch „neue Unsicherheiten, auf die der Staat immer präventiver, restriktiver und mithin autoritärer reagieren muss. Der algorithmengetriebene Staat wird zu einer hochneurotischen Maschine. Der militärisch-industrielle Komplex muss laufend Bürger screenen, damit die metastabile Ordnung aufrechterhalten wird“ (S. 30). Je mehr die Daten gesammelt werden, desto instabiler wird das System. „Es verändert sich etwas Grundlegendes an der Statik des Staates: Das System ist permanent im Ausnahmezustand“ (S. 30). Algorithmen, „die in statistischen Häufigkeitsverteilungen überall Risiken und verdächtige Verbindungen identifizieren“ führen zur Installation von immer mehr Überwachungssystemen, vor denen wir nur noch in Datensicherungssysteme flüchten können (S. 30). Die Darstellung der entsprechenden Probleme macht deutlich, welche Gefahren drohen, die aus dem Einfluss der Internetkonzerne auf staatliche Machtausübung resultieren. Dies unterstreicht die Notwendigkeit zum Gegensteuern, durch den Verzicht auf die Nutzung bestimmter digitaler Techniken, die Entwicklung von Alternativen sowie die staatliche Regulierung. Diese Aspekte sind nicht Gegenstand dieses Bandes. Das Nachdenken darüber wird jedoch angeregt. Die hier dargestellten Prozesse des Einsatzes digitaler Techniken schlagen sich auch in der rechtlichen Normierung nieder. Selbst wenn Sicherheitsgesetze auch vor Verfassungsgerichten scheitern, sagt dies viel über das Grundrechtsverständnis der diese Vorschriften begehrenden Exekutive aus. Politisches Engagement der Bürger ist daher gefragt. Ruhe ist keine Bürgerpflicht.

Fazit

Die Schrift ist sehr zu empfehlen. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung werden anhand der Darstellung einer Vielzahl von Problemkreisen erläutert. Die Gefahren mehr oder weniger freiwilliger Unterwerfung unter Systeme von Kontrolle und Überwachung werden herausgearbeitet. Signalisiert wird die Notwendigkeit eines kritischen Herangehens an die Nutzung digitaler Techniken, um zu verhindern, dass Internetkonzerne mehr und mehr die gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrem Interesse prägen.

Rezension von
Dr. Richard Schüler
Fachanwalt für Arbeitsrecht
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Es gibt 48 Rezensionen von Richard Schüler.

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Zitiervorschlag
Richard Schüler. Rezension vom 22.02.2021 zu: Adrian Lobe: Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis. Verlag C.H. Beck (München) 2019. ISBN 978-3-406-74179-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27024.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.


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