Robert Bering, Christiane Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 06.10.2020

Robert Bering, Christiane Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfe. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2020. 1. Auflage. 256 Seiten. ISBN 978-3-608-98411-8. 25,00 EUR.
Thema
Der Herausgeberband versammelt Beiträge unterschiedlicher AutorInnen, welche psychotherapeutische Interventionen in der gegenwärtigen Pandemiephase vorstellen. Neben allgemeinen psychotherapeutischen Maßnahmen werden spezielle Personengruppen, Präventionsmaßnahmen und die Einsatzmöglichkeiten von Online-Psychotherapie thematisiert.
HerausgeberInnen und AutorInnen
Die HerausgeberInnen arbeiten als Chefarzt am Zentrum für Psychotraumatologie/Klinik für psychosomatische Medizin in der Klinik Alexianer Krefeld/Universität zu Köln (Prof. Dr. Bering), bzw. an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien als Leiterin des Instituts für Psychosomatik (Prof. Dr. Eichenberg). Die Einzelbeiträge wurden neben den Herausgeberinnen von ausgewiesenen Expertinnen vorwiegend in Deutschland und Österreich ansässiger wissenschaftlicher Institute und Behandlungseinrichtungen verfasst.
Aufbau und Inhalt
Insgesamt 17 Beiträge sind in drei Kapitel zu(r)
- Psychosozialen Notfallversorgung in der COVID-19-Pandemie
- Therapeutischen Adaptionen in der COVID-19-Pandemie und
- Hilfen für vulnerable Zielgruppen
gegliedert. Daneben finden sich ein einleitendes Vorwort der HerausgeberInnen, sowie das AutorInnenverzeichnis.
Psychosoziale Notfallversorgung
In vier Beiträgen gibt das erste Kapitel eine allgemeine Situationsbeschreibung der gegenwärtigen Pandemiesituation mit Hinweisen zu Modellen der pandemischen Stressbelastung, liefert eine Analyse der psychischen Auswirkungen der Pandemie und strukturiert die stressbedingten Auswirkungen des Infektionsgeschehens vor dem Hintergrund des biopsychosozialen Modells. Einführend werden psychosoziale und psychotherapeutische Hilfen und Ansätze in der gegenwärtigen Pandemie vorgestellt. Darunter findet sich u.a. der Hinweise auf einen „Fragebogen zur Erfassung der pandemischen COVID-19-Stressbelastung (FACT-19)“, eines Fragebogens, der unterschiedliche Belastungsebenen der Pandemie (Vorbelastung, Ressourcen, letale Bedrohung, Existenzangst, Isolation, Befürchtungsdynamik etc.) erhebt und eine am ICF-Modell (Modell der Funktionsfähigkeit auf den Ebenen Körperfunktionen, Aktivitäten, Partizipation, Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren) orientierte Interventionsplanung ermöglicht. Die theoretischen Ausführungen werden anhand eines Fallbeispiels weiter ausgeführt und anhand unterschiedlicher sozialrechtlicher Leistungen/Regelungen (SGB V, SGB IX, BTHG) dargestellt. Ein weiterer Beitrag führt in die Pandemiefolge der sozialen Distanz, Einsamkeitserleben, weiteren psychischen Auswirkungen (die auch das Ausmaß traumatisierender Erfahrungen haben können) ein und beschreibt diese strukturell.
Therapeutische Adaptionen
Das zweite Kapitel bietet sieben Ansätze für spezifische, auf die Pandemiesituation bezogene Interventionen. Es handelt sich um Beiträge zur Psychoedukation und -information, Online-Psychotherapie für Erwachsene, Kinder und Jugendliche und zur Behandlung von Albträumen und zur Psychohygiene, sowie anwendungsbezogene Beiträge zur Myoreflextherapie und zur Lichttherapie. Die Hinweise in den einzelnen Aufsätzen beziehen sich auf das Spektrum möglicher Interventionsformen im Bereich E-Mental-Health (mit praktischen Beispielen wie Onlineprogrammen zu Depression, Angst oder Burnout auf Grundlage kognitiv-behavioraler und systemischer Methoden, oder achtsamkeitsbasierten Ansätzen), Anwendungserfahrungen zur videogestützten Psychotherapie mit Ressourcenhinweisen zu verfügbarem Infomaterial in diesem Bereich, oder den Einsatz von Computerspielen und Online-Gaming als Interventionstechnik in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Mit Bezugnahme auf das Verlaufsmodell der psychischen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen von Fischer und Riedesser erfolgt eine Verortung der Pandemieerfahrung im Kontext der Traumabearbeitung und Resilienzförderung, wobei die COVID-19-Pandemie als kollektives Trauma aufgefasst wird, dessen Verarbeitung in spezifischen Phasen stattfindet und durch psychotherapeutische Angebote im Sinn der Prävention (bezogen auf die Entwicklung tiefergehender Störungen oder Chronifizierung) beeinflusst werden kann. Die beschriebenen Ansätze zur Psychoedukation betonen die Notwendigkeit eines differenzierten Zielgruppenzuschnitts (wer soll erreicht werden?), Anpassung des Informationsmaterials (z.B. an Lebensalter, kognitiver Leistungsstand, akute Betroffenheit) und führen in tabellarischer Form konkrete Informationsangebote der WHO, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, des Berufsverbandes der PsychologInnen, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde u.a. auf.
Vulnerable Zielgruppen
Im dritten Abschnitt finden sich Beiträge zu spezifisch vulnerablen Zielgruppen im Kontext der COVID-19-Pandemie, wie Opfer häuslicher Gewalt, Alleinerziehende, arbeitslose Menschen, Einsatzkräfte und medizinisches Personal und ältere Menschen. Die Beiträge beschreiben die besondere psychosoziale Situation der erfassten Personengruppen, stellen Präventions- und Interventionsansätze vor und sensibilisieren insgesamt für die spezifischen Bedürfnislagen. Der letzte Beitrag des Kapitels (und des gesamten Buches) geht auf „psychotraumatologische Abwehrmechanismen in der medialen Berichterstattung am Beispiel der COVID-19-Pandemie“ ein, der vorwiegend die Berufsgruppe der JorunalistInnen adressiert und u.a. einen Leitfaden für Berichterstattung über Pandemien beinhaltet.
Zielgruppe des Buches sind die Fachkräfte im Bereich Psychotherapie, psychosoziale Beratung, Angehörige und JournalistInnen.
Diskussion
Nur fünf Monate nach Beginn der COVID-19-Pandemie im deutschsprachigen Raum reagieren der Klett-Cotta-Verlag und die HerausgeberInnen mit einem Fachbuch zu psychotherapeutischen Interventionen und psychosozialen Beratungsansätzen im Zusammenhang mit dem Infektionsgeschehen. TherapeutInnen und BeraterInnen erhalten eine gründliche Analyse des Pandemiegeschehens und dessen Auswirkungen auf die menschliche Psyche, psychosoziale Phänomene und soziale Problemlagen. Auf dieser Grundlage werden Interventions- und Präventionsansätze vorgeschlagen, wobei es sich zum Großteil um bewährte Behandlungsstrategien handelt, die in den einzelnen Kapiteln explizit in Bezug zum Pandemiegeschehen gesetzt werden. Daneben sensibilisiert ein eigenes Kapitel für besonders vulnerable Personengruppen, deren generelle Belastungssituation und Bedürfnislage, die im Zusammenhang mit der Pandemie eine zusätzliche Belastung erfahren und entsprechend differenzierte Interventionsstrategien benötigen. Damit erweist sich „Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise“ nicht als publizistischer Schnellschuss, sondern als klug strukturierte, differenzierte und praxisbezogene Publikation, die der anvisierten Zielgruppe umfassende auf wissenschaftlicher Expertise beruhende Informationen, Handlungsvorschläge und Anwendungsbeispiele zur Verfügung stellt, teilweise auch Hinweise zu externen Internetressourcen beinhaltet. COVID-19 stellt eine Bedrohung für die gesamte Weltbevölkerung dar, betrifft gesunde, bereits erkrankte, widerstandsfähige und vulnerable Personengruppen. COVID-19 ist dabei nicht das erste globale Krankheitsgeschehen, das derart umfassend auf die psychische Reaktion der breiten Bevölkerung einwirkt. Zur Einordnung des aktuellen Pandemiegeschehens wäre, z.B. für eine spätere Neuauflage, eine historische Bezugnahme auf global auftretende Infektionswellen, sowie Bedrohungslagen und deren psychosoziale bzw. psychotherapeutische Bearbeitung wünschenswert. Im Kapitel zu vulnerablen Zielgruppen fällt auf, dass hier eine enge Auswahl getroffen wurde. Sicher erscheinen die ausgewählten Personengruppen äußerst relevant, allerdings wirkt der Verzicht auf die Gruppe psychisch erkrankter Menschen angesichts der ansonsten sehr differenzierten Auswahl der Einzelbeiträge irritierend. Entsprechend könnte auch hier in einer Zweitauflage ein Kapitel „Psychiatrie und COVID-19“ aufgenommen werden. Ähnliches gilt für vulnerable Personengruppen die meist kaum Zugang zum psychotherapeutischen (Online-)Versorgungssektor hat: Angehörige der offenen Drogenszene (mit z.B. pandemiebedingten Versorgungsproblemen und Zunahme medizinischer, sozialer, psychischer und auch strafrechtlichen Problemlagen), Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund, obdachlose Menschen, Untergebrachte in geschlossenen Einrichtungen und Zwangskontext (Strafvollzug, geschlossene Psychiatrie), welche unter Einschränkungen der Besuchsregelungen, Zunahme von Ausgrenzung und Einsamkeit, Bedrohungsgefühlen etc. besonders belastet sind und von „pandemie-sensiblen“ psychosozialen Beratungsangeboten profitieren können.
Formal besticht das Buch durch seine klare und durchweg leicht verständliche Sprache, die den angesprochenen Zielgruppen einen leichten Zugang ermöglicht. Dies findet seine Fortsetzung in einer übersichtlichen Struktur und im erfreulichen Praxisbezug, der -wissenschaftlich fundiert- hohe Handlungsrelevanz aufweist. Das Kapitel zur allgegenwärtigen Corona-Berichterstattung, der Verarbeitung der Informationsflut und der damit in Verbindung stehenden Bedeutung von Abwehrmechanismen weitet den fachlichen Blick auf gesellschaftliche Vorgänge und den medialen Sektor. Der im letzten Beitrag befindliche Leitfaden für die mediale Berichterstattung der COVID-19-Pandemie erscheint in diesem Zusammenhang besonders wertvoll (und beispielhaft für jede journalistische Bearbeitung gesellschaftlich relevanter Themen).
Fazit
Das nur wenige Monate nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie publizierte Fachbuch greift umfassend die relevanten Auswirkungen der Pandemie auf das psychische Geschehen auf, bietet unterschiedliche Interventions- und Präventionsansätze für Psychotherapie und psychosoziale Beratung und erlaubt durch konsequenten Praxisbezug der Einzelbeiträge eine umfassende fachliche Orientierung und konkretes Handlungswissen zur Interventionsplanung. Äußerst hilfreich für alle Fachkräfte in den Bereichen Psychotherapie, psychosoziale Beratung und Soziale Arbeit.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 06.10.2020 zu:
Robert Bering, Christiane Eichenberg: Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise. Herausforderungen und Lösungsansätze für Psychotherapeuten und soziale Helfe. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2020. 1. Auflage.
ISBN 978-3-608-98411-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27041.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
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