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Jennifer Grünewald, Anja Trittelvitz (Hrsg.): Ernährung und Identität

Rezensiert von Prof. Dr. Gudrun Ehlert, 25.09.2020

Cover Jennifer Grünewald, Anja Trittelvitz (Hrsg.): Ernährung und Identität ISBN 978-3-8382-1325-5

Jennifer Grünewald, Anja Trittelvitz (Hrsg.): Ernährung und Identität. ibidem-Verlag (Hannover) 2020. 336 Seiten. ISBN 978-3-8382-1325-5. D: 29,90 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 35,10 sFr.

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Entstehungshintergrund

Die Beiträge der vorliegenden Veröffentlichung gehen auf die gleichnamige Tagung „Ernährung und Identität“ zurück, die am 25.Oktober 2018 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg/​Breisgau stattfand. Diese interdisziplinär angelegte Fachtagung richtete sich insbesondere an Nachwuchswissenschaftler*innen, die zum Thema Ernährung forschen. Dementsprechend versammelt der Band Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen, der Soziologie, den Gender Studies, der Philosophie, der Musikwissenschaft, verschiedene Literatur- und Sprachwissenschaften, die sich alle mit dem Zusammenhang von Ernährungsgewohnheiten, Essen und Trinken und Identitätsfragen auseinandersetzen.

Herausgeber_innen

Jennifer Grünewald, Jahrgang 1988, Studium der Skandinavistik und Philosophie in Göttingen, Bergen und Freiburg. Sie hat an der Universität Freiburg über die Russlanddarstellung im skandinavischen Kriminalroman promoviert und forscht zu Populärliteratur und zeitgenössischer norwegischer Literatur.

Anja Trittelvitz, Jahrgang 1981, Studium der Sozialen Arbeit, Philosophie und Geschlechterforschung in Hannover, Göttingen, Berlin und Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Gender Studies und den Food Studies. Sie promoviert zu Selbstoptimierung durch gezielte Nahrungsmittelauswahl an der Technischen Universität Braunschweig.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation enthält 2 einleitende Beiträge und gliedert sich daran anschließend in 4 Themenkomplexe:

  1. Ernährung und Fremdwahrnehmung
  2. Alternative Ernährungsrealitäten
  3. Ernährung in Bild und Ton
  4. Ernährung, Geschlechter- und Körpervorstellungen

Fragen nach dem Zusammenhang von Ernährung und Identität werden bislang wenig untersucht. So soll mit der Veröffentlichung mit Beiträgen von Christine Ott, Lisa Glänzer, Jennifer Grünewald, Steffen Röhrs, Hanna Rinderle, Alexandra Sept, Benedikt Jahnke, Haimo Stiemer, Michael Vauth, Judith Schreier, Anja Trittelvitz, Johannes Sturm, Sonja Erhardt, Clio Nicastro, Claudia Peppel, Roberta Colbertaldo (in der Reihenfolge der Beiträge der Publikation) ein Schritt zur Etablierung der Food Studies im deutschsprachigen Raum geleistet werden.

Die Herausgeber*innen, Jennifer Grünewald und Anja Trittelvitz führen in ihrer Einleitung „Ich esse, also bin ich“ in die Publikation ein. Sie skizzieren den Rahmen anhand der Konzepte von Identität und der Aktualität der Auseinandersetzung mit Ernährung, insbesondere in den sozialen Medien: „Ganze Szenen und Communities bilden sich um Essgewohnheiten und sind für das Individuum maßgeblich identitätsbildend und -bestimmend“ (S. 13). In dem zweiten einleitenden Beitrag „Ernährung und Identität – ein Forschungsüberblick“ gibt Christine Ott einen Einblick in die Esskulturforschung. Sie betont die diskursive Herstellung von „essenden Identitäten“ und fasst verschiedene klassische Arbeiten zu Ernährung und Identität zusammen, beginnend mit psychoanalytischen Texten, u.a. von Sigmund Freud, Melanie Klein und Hilde Bruch. In deren Folge beschäftigt sich Ott mit aktuellen psychologischen und psychoanalytischen Erklärungen von Essstörungen. Veröffentlichungen aus den Gender Studies, aus Soziologie, Anthropologie, Ethnologie, Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften werden von Ott im Kontext von Ernährung und Identität zusammengetragen und sie gibt Hinweise für weitere Forschungsperspektiven.

Im ersten Teil „Ernährung und Fremdwahrnehmung“ versammeln sich vier Beiträge, in denen es um vergleichende Abgrenzungen von Eigenem und Fremden im Kontext von Ernährungsweisen geht. Lisa Glänzer analysiert unter der Überschrift: „schoff flaisch ist ir best essen“ Ernährungsgewohnheiten in Reiseberichten der Frühen Neuzeit. Grundlage für diese Forschungsarbeit in der germanistischen Mediävistik sind schriftliche Aufzeichnungen über Pilgerfahrten, Handelsreisen und Kreuzzüge durch die die Konstruktion des „Orients“ im Vergleich mit der Konstruktion von „Europa“ geprägt wurde. Glänzer bezieht sich vorrangig auf die Reiseaufzeichnungen des Kaufmanns Hans Dernschwam (1494-1567) über dessen Reise nach Konstantinopel und Kleinasien 1553–1555. Die historischen Darstellungen der kulinarischen Beobachtungen und der Tischsitten werden in dem Beitrag anschaulich rekonstruiert. Im Beitrag von Jennifer Grünwald geht es am Beispiel des „Wodkakonsums als Alteritätskonstruktion“ um die Darstellung des Russischen im skandinavischen Kriminalroman. Steffen Röhrs untersucht Zusammenhänge von Essen, Trinken und Identität in Romanen von Christian Kracht: “Von labberigen Bratwürsten und glibberigen Gottesfrüchten: Ernährung, Körper und koloniale Identität in Christian Krachts Imperium (2012)“. Hanna Rinderle beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Essen als Heimat“ mit Ernährung und Identität in der Erzählung Karen Blixens „Den afrikanske Farm“ (1937). Blixen schrieb die Geschichte über ihr Leben in Kenia in der ersten Version in Englisch „Out of Afrika“, erst danach über setzte sie ihren eigenen Text ins Dänische. Die Texte unterscheiden sich nach Rinderle im Hinblick auf das „dänische Selbstbild“ der Protagonistin. Rinderle skizziert die postkoloniale literaturwissenschaftliche Kritik an Blixens Reproduktion kolonialer Klischees und der rassistischen Darstellung des Kochs. Nach Rinderle suggerieren die Küche, die Kochregeln, die Ernährung und das Einnehmen der Mahlzeiten in weißen Ess-Gemeinschaften eine Form der Zivilisation auf der Farm, im Kontrast der Darstellung des ungeordneten, wilden afrikanischen Außen. Die für Heimat stehende „europäisch-dänische Ess-Identität“ (S. 145) wird durch diese binäre Opposition immer wieder stabilisiert.

Der zweite Abschnitt der Publikation „Alternative Ernährungsrealitäten“ besteht aus zwei sozialwissenschaftlichen und einem literaturwissenschaftlichen Beitrag. Auf der empirischen Grundlage von sechs Fokusgruppendiskussionen und 19 biografischen Einzelinterviews untersucht Alexandra Sept „Die Bedeutung der persönlichen Biografie für das Ernährungsverhalten“. Dabei werden zentrale Einflussfaktoren deutlich: Neben Geschlecht und Alter haben die sozioökonomische Situation, die Sozialisation, die Peergroup, die Familien- und Beziehungssituation eine hohe Bedeutung für die Ernährungsgestaltung. Benedikt Jahnke forscht zum Containern, dem Herausholen von noch essbaren Lebensmitteln aus Mülltonnen und Containern von Supermärkten. Er fasst den bisherigen, internationalen Forschungsstand zusammen und stellt seine eigene Mixed-Methods-Studie zum Containern in Deutschland vor, die er in diesem Beitrag auf die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion des Containerns zuspitzt. „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht – Die Ernährung in der dystopischen Gegenwartsliteratur“, so lautet der Titel des Beitrags von Haimo Stiemer und Michael Vauth, in dem sie sich auf eine Studie beziehen, in der sie 30 Romane, die zwischen 1990 und 2018 erschienen, auf der Grundlage einer Wortfeldanalyse untersuchen. In den ausgewählten, als Dystopien etikettierten Texten wird eine zukünftige Welt entworfen, mit einer Kontinuität zu unseren gegenwärtigen Diskursen. In ihrem Beitrag zeigen Stiemer und Vauth am Beispiel von drei Romanen wie aktuelle Entwicklungstrends der Ernährungskultur und – gewohnheiten dystopisch aufgegriffen und ihnen ein totalitäres Potenzial zugeschrieben werden.

Der dritte Teil „Ernährung in Bild und Ton“ beginnt mit dem Beitrag von Judith Schreier über die US-amerikanische Familienserie This is Us, einer der wenigen Serien, die Dicksein als Phänomen von Stigmatisierung und Diskriminierung thematisiert. Schreier zeigt, wie die Serie, trotz ihres nicht diskriminierenden Anspruchs, die Stigmatisierung der Protagonistin Kate selbst visualisiert und reproduziert. In dem Artikel „Wer is(s)t das Fleisch? Über die Inszenierung nicht-menschlicher Tiere und Frauen als verzehrbare Sexualware“ dekonstruiert Anja Trittelvitz vorherrschende, machtvolle Diskurse zum Essen von Fleisch und sexueller Gewalt mit Bezug auf die Gender Studies, Human-Animal-Studies und Food Studies. In dem musikwissenschaftlichen Beitrag „Kulinarik und Musik“ zeigen Johannes Sturm und Sonja Erhardt an zahlreichen Beispielen drei Varianten in denen Musik, Identität und Nahrungsmittel ineinandergreifen: Musik über Essen und Trinken (Topos), Musik beim Essen (Zeremonielle Handlung, Tafelmusik) und personifiziertes Essen in der Musik. 

Der vierte Schwerpunkt „Ernährung, Geschlechter- und Körpervorstellungen“ beginnt mit dem Beitrag „Essen beiläufig – Anmerkungen zu Sean Bakers The Florida Project“ von Clio Nicastro und Claudia Peppel. The Florida Project ist ein Film, der 2017 in Cannes Weltpremiere hatte und aus der Perspektive von Kindern erzählt wird, die mit ihren Müttern in prekären Verhältnissen im Motel Magic Castle am Rande des Walt Disney Freizeitparks leben. Die Erzählung des Films und die Bedeutung des Essens für die ‚hidden homeless‘ wird von Nicastro und Peppel anschaulich wiedergegeben. „Karneval und Fastenzeit in der Vormoderne: literarische Motive oder Ernährungsmodelle?“, so lautet der Titel des letzten Beitrags von Roberta Colbertaldo. Die allegorischen, komplementären Werte der beiden Begriffe Karneval und Fastenzeit werden von Colbertaldo herausgearbeitet, ebenso wie die unterschiedlichen Rekonstruktionen von Quellentexten sowie weitere Forschungsperspektiven.

Fazit

Die Veröffentlichung leistet einen spannenden, aktuellen und interdisziplinären Beitrag zu den Zusammenhängen von Ernährung und Identitätskonzepten. Die Texte laden dazu ein, sich mit den jeweiligen Quellen und Medien zu beschäftigen, die ihnen zugrunde liegen und sie eigenen sich hervorragend als Diskussionsgrundlage für die Hochschullehre.

Rezension von
Prof. Dr. Gudrun Ehlert
Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida
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Zitiervorschlag
Gudrun Ehlert. Rezension vom 25.09.2020 zu: Jennifer Grünewald, Anja Trittelvitz (Hrsg.): Ernährung und Identität. ibidem-Verlag (Hannover) 2020. ISBN 978-3-8382-1325-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27045.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.


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