Karina Kehlet Lins: Einführung in die systemische Sexualtherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 16.11.2020

Karina Kehlet Lins: Einführung in die systemische Sexualtherapie.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2020.
128 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0334-9.
D: 14,95 EUR,
A: 15,40 EUR.
Reihe: Carl-Auer Compact.
Thema
Die Autorin stellt Essentials systemischer Sexualtherapie vor, die sich seit knapp 20 Jahren im deutschsprachigen Raum entwickelt. Sie beschreibt das Neuartige dieser Therapieform in Abgrenzung zu anderen eher körperlich-funktional und tiefenpsychologisch orientierten Schulen: „Anders als die lern- und entspannungsorientierten Interventionen der klassischen Sexualtherapien zielen die Interventionen der systemischen Sexualtherapie darauf, das sexuelle Begehren zu entwickeln, zu profilieren und zu strukturieren.“ (110) „Aus systemischer Sicht wird der 'Ursache' von Symptomen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als den Mechanismen und Verhaltensmustern, die zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen.“ (ebd.) Der Anspruch des Buches ist es, eine (post)moderne dekonstruierenden Perspektive zu entwickeln, heteronormative gesellschaftliche Vorstellungen von Sexualität zu relativieren und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu akzentuieren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in neun Kapitel. Das umfangreiche Einleitungskapitel widmet sich der Dekonstruktion der „heteronormativen Erzählung“: der gesellschaftlich nach wie vor existierenden Narrative vom sexuell proaktiven Mann und der reaktiven Frau, resultierend aus einer essenziellen evolutionären Perspektive. Kritisiert wird sexuelles Leistungsdenken, wobei der Fokus der Autorin auf der sexuell benachteiligten Frau liegt. Die wenigen dargestellten empirischen Befunde betreffen die geschlechtsspezifisch nach wie vor disparate Orgasmushäufigkeit beim Geschlechtsverkehr, wobei der Eindruck erweckt wird, dass sich seit Kinseys Untersuchungen im Amerika der 1940er Jahre nichts verändert habe. Die defizitäre Sicht unter Ausblendung von 50 Jahren sexueller Liberalisierung wird erweitert um folgende Charakteristik vorgeblich vorherrschender Sexualwissenschaft: „Begriffe wie 'gesund' und 'normal' werden in der Sexualwissenschaft ständig benutzt und kommunizieren auf diese Art einen verengten Blick auf eine Sexualwissenschaft, in der die nicht biologischen Aspekte fast komplett ausgegrenzt werden“ (27).
Die Kapitel 2 bis 9 charakterisieren Denk- und Arbeitsweisen systemischer Sexualtherapie: den Perspektivenwechsel vom fremdbestimmten Nicht-Können zum selbstbestimmten Nicht-Wollen, die Entwicklung der erotischen Kompetenz und der sexuelle Interaktionsfähigkeit aus der Differenz partnerschaftlicher sexueller Profile, der Dialektik von Bindung und Differenzierung der Partner. Neben den systemischen Paradigmen werden handwerklich-methodische Aspekte behandelt, u.a. Auftragsklärung, Anamnese und Methoden wie das ideale sexuelle Szenario.
Diskussion
Dass sich eine sexualtherapeutische Perspektive historisch konkret verorten muss, steht außer Frage, da sich Erscheinungsformen, Bedeutungen und Ursachen sexueller Probleme ändern und nur im Kontext des sexualkulturellen Wandels verstehbar sind.
Leider bildet die Autorin diesen Wandel nicht adäquat ab, weder theoretisch (kein Wort zur sexualwissenschaftlichen Sicht auf neosexuelle Verhältnisse, wie sie Volkmar Sigusch entwickelt hat) noch empirisch. Der Rezensent vermisst z.B. Ausführungen zum seit Ende der 1990er Jahre beschriebenen allmählichen Symptomwechsel bei den sogenannten „sexuellen Funktionsstörungen“, von den Erregungs- und Orgasmusstörungen hin zur Lustlosigkeit, die ja Ausdruck sich wandelnder sexueller Verhältnisse sind, Folge beständiger weiblicher Emanzipation und sich durchsetzender Verhandlungsmoral: Wenn es immer seltener fremdbestimmten und immer häufiger selbstbestimmten Sex gibt, wird die beiderseitige Lust zum Kriterium und zum Problem. Unbefriedigende partnerschaftliche Sexualität wird seltener praktiziert, weil frau (und immer häufiger auch mann) darauf keine Lust hat.
Diese Entwicklungen sind sexualwissenschaftlich reflektiert und haben sich in sexualtherapeutischen Konzepten niedergeschlagen. Die Autorin schreibt jedoch: „Während sich in der Gegenwart viele Veränderungen in Beziehung auf Sex und Liebe vollziehen, stagnierte die sexualtherapeutische Entwicklung seit Mitte der 1980er-Jahre hingegen: Keine nennenswerten Neuigkeiten wurden gemeldet und damit ging eine Remedikalisierung der Behandlung von sexuellen Störungen einher (Clement 2004)“ (10). Das suggeriert eine aktuelle bzw. noch immer gültige Bestandsaufnahme. Aber es war der Erkenntnisstand von vor 20 Jahren, der zur Entwicklung und Etablierung der systemischen Sexualtherapie geführt hat.
Das Plädoyer der Autorin für eine diversitätssensible therapeutische Praxis ist zu unterstreichen. Die im Vorwort geweckte Erwartung auf Einblick in eine Arbeit mit Klient*innen „…die sich trauen, offen über eher ungewöhnliche sexuelle Praktiken und Präferenzen zu sprechen“ (7) wird jedoch nicht eingelöst. Ganz offen bleibt, ob angesichts neosexueller Vielfalt ggf. neue Therapieanlässe die Bühne betreten.
Fazit
Das Buch fasst Essentials systemischer Sexualtherapie gut, wenn auch etwas rhapsodisch zusammen; wünschenswert wäre ein konkreterer Einblick in praktisches systemisches Arbeiten und aktuelle Paarprobleme gewesen. Der sexualkulturellen und sexualwissenschaftlichen Rahmung des Themas fehlt es an Substanz und ausgewogener Recherche.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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