Anne Röwer: Das entwertete Selbst
Rezensiert von Dr. des. Benedikt Hassler, 09.10.2020

Anne Röwer: Das entwertete Selbst. Über Arbeit und Anerkennung. Campus Verlag (Frankfurt) 2020. 531 Seiten. ISBN 978-3-593-51223-5. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 45,02 sFr.
Thema
Der Ausgangspunkt des Buchs ist die Feststellung, dass Menschen sowohl an Erwerbstätigkeit als auch an Erwerbslosigkeit leiden und dieser Umstand „etwas mit der Bedeutung von Erwerbsarbeit in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften zu tun hat“ (S. 8). Vor diesem Hintergrund untersucht Anne Röwer in einer qualitativen Interviewstudie das subjektive Belastungserleben von erwerbstätigen und erwerbslosen Menschen, wobei sie sich in theoretischer Hinsicht an den Konzepten „Identität“ und „Anerkennung“ orientiert. Röwer konzentriert sich in ihrer Analyse vornehmlich auf Belastungserfahrungen, welche die Subjekte „als Negation von Anerkennungserwartungen“ betrachten und untersucht außerdem die Folgen „diese[r] Negationserfahrungen für die Identität der Subjekte“ (S. 124).
Entstehungshintergrund
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertationsschrift, die im Jahr 2019 an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht wurde. Die Dissertation wurde von Hartmut Rosa und Stefanie Graefe betreut.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in fünf Teile, die mit römischen Nummern versehen sind und von einer Einleitung und einem Schlussteil gerahmt werden. In Teil I (Kapitel 1–2) führt Röwer in den Forschungsstand ein und definiert zentrale Begrifflichkeiten wie Gesundheit, Krankheit und Stress. Teil II (Kapitel 3–4) erläutert die theoretischen Grundlagen der Untersuchung, wobei sich die Autorin insbesondere auf die Konzepte Identität und Anerkennung stützt. Das methodische Vorgehen wird im darauffolgenden Teil III (Kapitel 5–7) dargelegt und in Teil IV (Kapitel 8–10) werden schließlich die Ergebnisse der empirischen Analyse präsentiert. Das abschließende Kapitel V (Kapitel 11–15) legt dar, wie die in Teil IV herausgearbeiteten subjektiven Deutungen mit dem Wandel von Arbeit und der Transformation des Sozialstaats zusammenhängen und damit sozial bedingt sind.
Inhalt
Nebst einiger Begriffsdefinitionen wird in Teil I des Buches insbesondere der Forschungsstand erörtert. Röwer verweist hierbei auf diverse Studien, die eine Zunahme an psychosozialen Belastungen für erwerbstätige und erwerbslose Personen konstatieren und sie gibt einen Überblick zu bekannten (bzw. oft benannten) Stressoren und Ressourcen in der Erwerbstätigkeit und in der Erwerbslosigkeit. Bilanzierend kritisiert die Autorin die mangelhafte „Theoretisierung der Befunde“ (S. 49) dieser – zumeist quantitativen – empirischen Studien. Daraufhin präsentiert Röwer einen Überblick zu theoretischen Ansätzen, die zu erklären versuchen, wie Stressoren auf die Gesundheit einwirken. Im Anschluss an diese Übersicht kommt sie zum Schluss, dass „Identität“ und „Anerkennung“ fruchtbare Konzepte sind, um das subjektive Belastungserleben zu untersuchen, ohne dabei dessen soziale Bedingtheit aus dem Blick zu verlieren.
In Teil II des Buches führt Röwer in die Begriffe Identität und Anerkennung ein und legt damit die theoretische Perspektive der nachfolgenden empirischen Analyse offen. Röwer orientiert sich insbesondere an den Identitätskonzepten von Hans-Peter Frey und Karl Haußer und versteht Identität als „reflexiv, relational und prozesshaft“ (S. 59). Zugleich unterscheidet sie analytisch verschiedene Komponenten von Identität (Selbstkonzept, Selbstwertgefühl, personale Kontrolle) und macht Identität so für die nachfolgende Analyse nutzbar. Bei der Bestimmung des Begriffs Anerkennung bezieht sich Röwer insbesondere auf die Arbeit von Axel Honneth, für den Anerkennung ein „menschliches Grundbedürfnis“ (S. 81) darstellt. Diese Orientierung ist aus Röwers Sicht ertragreich, „da Honneth subjektive Erfahrungen von Anerkennung und Missachtung in ihrer Relevanz für die Selbstbeziehung der Subjekte fokussiert, zugleich jedoch stets als in eine gesellschaftliche Ordnung eingebettet begreift, das heißt die strukturelle sowie kulturelle Eingebundenheit jener Erfahrungen mitdenkt“ (S. 79). Röwer übernimmt Honneths Unterscheidung dreier Modi von Anerkennung – Liebe Achtung, Wertschätzung – wobei sie den Begriff der Anerkennung im Rahmen der Analyse dann später noch verschiedentlich weitet.
In Teil III des Buches wird das methodische Vorgehen beschrieben, „[u]m die intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten“ (S. 123). Insgesamt führte Röwer zehn problemzentrierte Interview mit in Ostdeutschland wohnhaften Personen, „die ihren gesundheitlichen Zustand als beeinträchtigt erleben und den Ursprung des Befindens in belastenden Bedingungen und Umständen ihrer Erwerbssituation, das heißt Erwerbstätigkeit oder Erwerbslosigkeit, verorten“ (S. 126). Die Interviews fanden in den Jahren 2014 und 2015 statt. Das Ziel der Auswertung lag im Auffinden allfälliger Anerkennungsprobleme und deren Folgen für die Identität der betroffenen Personen. Die Auswertung erfolgte in drei Schritten. Erstens wurden die Fälle mit induktiv und deduktiv gebildeten Kodes kodiert. Anschließend wurden die Fälle verglichen und „typische mit dem Erwerbsstatus assoziierte Problemkonstellationen“ (S. 131) eruiert.
Röwer zeigt in Kapitel IV, wie sich Belastungen – abhängig von den Deutungslogiken der Individuen – unterschiedlich stark auf die Identität auswirken. In den empirischen Daten lassen sich bei allen interviewten Personen eine Verringerung der Kontrollüberzeugungen rekonstruieren, wohingegen das Selbstwertgefühl sich nicht bei allen negativ veränderte. Das Selbstwertgefühl wird insbesondere dann beschädigt, wenn die Negationserfahrungen nicht bewältig werden können, was der Fall ist, wenn die Ursache der Negation im eigenen Selbst verortet wird.
Darauf aufbauend unterscheidet Röwer insgesamt vier Typen der Veränderung von Identität als Folge von Negationserfahrungen: „Zweifel am Selbst“ und „Behauptung des Selbst“ bei erwerbstätigen Personen, „Verlust des Selbst“ und „Kampf um das Selbst“ bei der Gruppe der Erwerbslosen. Die den Typen „Behauptung des Selbst“ und „Kampf um das Selbst“ zugeordneten Personen sehen die Ursache der Negation als exogen, d.h. nicht in ihrer Person liegend, und reagieren deshalb mit Wut und Empörung auf die ausbleibende Anerkennung. Demgegenüber stehen die Typen „Verlust des Selbst“ und „Zweifel am Selbst“. Die diesen Typen angehörenden Personen sehen sich selbst als Ursache für die Negationserfahrungen und empfinden deshalb Scham und Schuld.
In Kapitel V untersucht Röwer die soziale Bedingtheit der in Kapitel IV herausgearbeiteten subjektiven Deutungen von Negationserfahrungen. Die Autorin beschreibt einerseits, wie der Stellenwert der Erwerbsarbeit tendenziell an Bedeutung gewonnen hat und von hoher (möglicherweise sogar zunehmender) Identitätsrelevanz für die Individuen ist. Auf Gabriele Wagner bezugnehmend hält Röwer außerdem fest, dass die internale Zurechnung von Ursachen für Ereignisse, die den Menschen passieren und die sich dann in den Typen „Zweifel am Selbst“ und „Verlust des Selbst“ niederschlagen den Menschen zunehmend „sozial nahegelegt“ werden (S. 386). Diesbezüglich skizziert Röwer für die Bereiche Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit je einen Prozess, in dem es zu einer „Manifestation einer individualisierten Ideologie“ (S. 458) kommt. Die von Röwer in diesem Zusammenhang untersuchten Prozesse sind die Subjektivierung von Arbeit und die aktivierende Arbeitsmarktpolitik.
Diskussion
Röwers Monographie ist eine theoretisch fundierte, methodisch sauber erarbeitete Analyse eines hochaktuellen Themas. Positiv zu werten ist insbesondere der Versuch, verschiedene im Forschungsbereich „Arbeit und Gesundheit“ existierende Gräben zu überwinden. So werden – im Unterschied zu den meisten anderen Studien in diesem Themenbereich – Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit als Ausprägungen der gesellschaftlichen Institution Erwerbsarbeit betrachtet und demzufolge einer integrierten Betrachtung unterzogen. Weitere Brückenschläge sind die Verbindung von psychologischen, medizinischen und soziologischen Ansätzen sowie das fruchtbare Verweben von Überlegungen zu Gesundheit, Stress und Identität.
An einigen Stellen hat das Buch jedoch seine Längen. So dauert es beinahe 250 Seiten bis die ersten empirischen Ergebnisse präsentiert werden. Der Anfang (Kapitel 1–4) ist zwar durchaus spannend und informativ, der Text weist jedoch einige Redundanzen auf und die Debatten werden bisweilen etwas gar ausführlich verhandelt. Außerdem werden schon in den Methodenteil erste Ergebnisse eingeflochten, was diesen zwar abwechslungsreich macht, zugleich jedoch etwas aufbläht. Auch in Teil V des Buches stellt sich die Frage, ob die bekannten und schon etwas älteren Debatten zu Subjektivierung von Arbeit, Individualisierung und aktivierender Arbeitsmarktpolitik in dieser Ausführlichkeit dargelegt werden müssen.
Besonders gelungen und überzeugend ist die Herausarbeitung der sozialen Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit, was in vielen anderen Untersuchungen in diesem Themenbereich sträflich vernachlässigt wird. Diese soziologische Einbettung schlägt sich letztlich auch in den interessanten und gelungenen Schlussfolgerungen nieder, in denen Röwer eine Abkehr von einer primär auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Anerkennungsordnung einfordert und unter Bezugnahme auf Honneth dazu aufruft, den Subjekten „eine Sprache zurückzugeben, die es erlaubt, Belastungs- und insbesondere Missachtungserfahrungen als kollektive, sozial geteilte Erfahrung auszuweisen, auf die sie sich in einem Kampf um Anerkennung berufen können“ (S. 501). Damit bekommt Röwers Arbeit eine politische Dimension, die in vielen anderen Arbeiten zum Thema fehlt und insbesondere für die Soziale Arbeit von großer Bedeutung ist.
Fazit
Röwer legt in ihrem Buch „Das entwertete Selbst“ theoretisch begründet und empirisch fundiert dar, weshalb Menschen in Erwerbsarbeitsgesellschaften sowohl unter der Erwerbsarbeit als auch unter dem Fehlen ebendieser leiden. Sie zeigt auf, wie nicht bewältigte/zu bewältigende Negationserfahrungen die Identität (d.h. hier insbesondere Selbstwert und Kontrollüberzeugung) schädigen können. Diese Tendenz verstärkt sich Röwer zufolge durch Prozesse wie die Subjektivierung von Arbeit sowie die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die den kulturell-ideologischen Wert der Arbeit noch zusätzlich befördern, die Menschen belasten, zu Missachtungen führen und zudem noch implizieren, „dass sich die Subjekte ihr Leiden an diesen selbst zuzuschreiben haben“ (S. 458).
Rezension von
Dr. des. Benedikt Hassler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz
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Zitiervorschlag
Benedikt Hassler. Rezension vom 09.10.2020 zu:
Anne Röwer: Das entwertete Selbst. Über Arbeit und Anerkennung. Campus Verlag
(Frankfurt) 2020.
ISBN 978-3-593-51223-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27090.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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