Christine Wimbauer, Mona Motakef: Prekäre Arbeit, prekäre Liebe
Rezensiert von Laura Sturzeis, 10.09.2020
Christine Wimbauer, Mona Motakef: Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse. Campus Verlag (Frankfurt) 2020. 420 Seiten. ISBN 978-3-593-51240-2. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 33,75 sFr.
Thema
Das vorliegende Buch Prekäre Arbeit, prekäre Liebe ist das Resultat eines Forschungsprojektes, das die beiden Autorinnen zwischen 2014 und 2017 durchführten. Im Fokus ihres Forschungsinteresses stand dabei die Frage nach Erfahrungen der (Nicht-)Anerkennung von Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen und deren Folgen im Lebensverlauf – einerseits mit Blick auf die bisherige Erwerbsbiographie, andererseits mit Rekurs auf die artikulierten Zukunftserwartungen der interviewten Personen. Auch die Frage danach, ob eine Paarbeziehung es vermag, die in der Erwerbsarbeit verwehrte Anerkennung zu kompensieren, ist zentrales Forschungsinteresse dieses Buches.
HerausgeberInnen
- Christine Wimbauer ist Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin.
- Mona Motakef ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Inhalt
Ausgangspunkt der Studie von Wimbauer/Motakef ist die neue Normalität prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland. Menschen, die sich in der „Zone der Prekarität und Verwundbarkeit befinden“ (s. 18), bilden auch den Gegenstand ihrer qualitativen Studie, die danach frägt, welche Folgen die Prekarität nicht nur in der Erwerbssphäre hat, sondern ihre Folgen im gesamten Lebenszusammenhang prekär beschäftigter und lebender Menschen.
Kapitel 2 und 3 sind der Aufarbeitung des Forschungsstandes und der Erläuterung der Methodologie gewidmet. In Kapitel 2 spannen die Autorinnen dabei den – für sie relevanten – Bogen von der klassischen Studie über die Arbeitslosen von Marienthal über die Subjektivierung von Arbeit und das unternehmerische bzw. erschöpfte Selbst zur gegenwärtigen Prekarisierungsforschung. Diesen erweitern sie in der Folge um eine anerkennungstheoretische und eine geschlechtersoziologische Perspektive in der sie ihre Frage nach dem Wirken prekärer Beschäftigung für die (prekäre?) individuelle Lebenslage angemessen verorten können. Um die intersubjektive Dimension der (Nicht-)Anerkennung prekär Beschäftigter zu untersuchen, fokussieren die Autorinnen auf Paare und Einzelpersonen, was sich auch im Forschungsdesign niederschlägt. Hier wurden Einzel- und Paarinterviews geführt, wobei insgesamt acht Paare und acht Personen ohne romantischer Paarbeziehung befragt wurden.
Kapitel 4 behandelt die Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Befragten. Hier zeigt sich, dass die meisten Befragten Erfahrungen von Nichtanerkennung in der Erwerbssphäre erleb(t)en. Dessen ungeachtet nimmt bei Erwerbsarbeit bei fast allen Personen einen hohen Stellenwert ein. Damit verbunden wird auch eine meritokratische Norm zum Ausdruck gebracht, der gemäß sich Leistung lohnen muss – wobei darunter sowohl die Mühen der (Aus-)Bildung subsumiert werden als auch die Bemühungen im Job. Fast durchgängig wird von den Befragten aber die Verletzung des Versprechens auf Anerkennung erbrachter Leistungen – also die Nichteinlösung des meritokratischen Versprechens – zum Ausdruck gebracht, was bei einigen in eine ambivalente oder gar negative Umdeutung von Erwerbsarbeit mündete. Diese Folgen bezeichnen die Autorinnen als Pathologien einer Erwerbsgesellschaft, in der es zahlreiche Quellen der Nichtanerkennung gibt (vgl. S. 168).
Die folgenden Kapitel widmen sich dem Umgang mit Nichtanerkennung und fragen nach den Möglichkeiten ihrer Kompensation in romantischen Paarbeziehungen bzw. anderen sozialen Nahbeziehungen. Hier zeigt sich, dass ein starker Paarzusammenhalt Anerkennungsdefizite erträglicher machen kann, insbesondere dann, wenn die Paarverwirklichung einen hohen Stellenwert besitzt (vgl. S. 183). Daneben identifizierten die Autorinnen aber auch Paare mit ambivalenten Paarzusammenhalt, in dem die Kompensation von Nichtanerkennung in der Erwerbssphäre zwar teilweise kompensiert werden konnte, die Paarbeziehung allerdings neuartige Anerkennungsdefizite mit sich brachte – sei es, durch die Fragilität des hochgehaltenen männlichen Alleinernährermodells aufgrund einer (drohenden) Erkrankung, sei es durch sonstige ungleiche Machtverhältnisse innerhalb der romantischen Beziehung. Bei Paaren mit schwachem Paarzusammenhalt kommen zu den bereits bestehenden Anerkennungsdefiziten aus der Erwerbsarbeitssphäre noch jene aus der Paarbeziehung hinzu – die zudem oftmals Frauen stärker treffen aufgrund bestehender gesellschaftlicher Norm weiblicher Sorgearbeits-Verantwortung. Diese Konstellationen führten auch dazu, dass die gemeinsame Zukunft explizit in Frage gestellt wird und damit auch die Paarbeziehung einen prekären Status hat. Auch bei Menschen ohne Paarbeziehung lassen sich ähnliche Konstellationen rekonstruieren, wobei hier andere soziale Nahbeziehungen und alternative Sinnorientierungen anstelle des/der Partner/s/in treten.
Kapitel 8 widmet sich den Folgen, die die wiederholten Enttäuschungen durch Nichtanerkennung in der Erwerbssphäre für die Vorstellung von Männlichkeit haben – und zwar vor dem Hintergrund dessen, dass unsere Arbeitsgesellschaft nach wie vor stark vom männlichen Ernährermodell geprägt ist. Auch hier zeichnen Wimbauer/Motakef ein differenziertes Bild: neben dem Festhalten an traditionellen Rollenvorstellungen, was in der Folge zu weiteren Enttäuschungen führt, kann Prekarität auch zur Ausbildung einer „beruflichen Nichtanerkennungsresistenz“ (S. 264) führen, die diese Männer resistent gegen Enttäuschungserfahrungen aus der Erwerbsarbeitssphäre macht. In romantischen Paarbeziehungen kann diese Irrelevanz, mit der der Erwerbsarbeitssphäre entgegengetreten wird aber auch zur Abgabe jeglicher Verantwortung – für Sorgearbeit und sonstige Verpflichtungen – an die Partnerin führen und in der Vorstellung eines „für-/sorgelosen, selbstzentrierten Monadendasein gipfel[n].“ (S. 264)
Den Erfahrungen mit dem Sozialstaat, Vereinbarkeitskonflikten und Anerkennungsdefiziten in der Sorge (Care) sind ebenfalls Kapitel gewidmet. Hier zeigen sich fast alle Befragten generell positiv eingestellt gegenüber dem Sozialstaat und „schätzen dessen dekommodifizierende Wirkung.“ (S. 285) Menschen, die bereits länger sozialstaatliche Leistungen beziehen (ALG II) klagen jedoch mehr über Nichtanerkennung seitens des Sozialstaates als Menschen, die nur kurzzeitig sozialstaatliche Leistungen nach ALG I beziehen. Auch die fehlende Anerkennung erbrachter Sorgearbeit (für Kinder oder andere pflegebedürftige Menschen) wird häufig zum Ausdruck gebracht. Insgesamt stellt Sorgearbeit für Menschen in prekären Lebenslagen ein wichtiges Thema dar. Sorgearbeit kann einerseits als Quelle von Anerkennung dienen und ist insofern von großer Bedeutung für Menschen, denen diese Anerkennung aus der Erwerbsarbeit verwehrt bleibt. Zugleich sorgt sie für Vereinbarkeitskonflikte mit Erwerbsarbeit, da Sorgearbeit viel Zeit vereinnahmt, die für Erwerbsarbeit folglich nicht mehr zur Verfügung steht. Fast immer zu kurz kommt bei den Befragten die Sorgen für sich selbst, für die meist wenig Zeit bleibt oder schlichtweg keine Kraft mehr vorhanden ist.
In den abschließenden Kapiteln halten die Autorinnen zusammenfassend fest, dass fast alle Befragten mit Anerkennungsdefiziten konfrontiert sind, sie aber nichtsdestotrotz um Anerkennung kämpfen. Viele wollen Teil der Erwerbsarbeitsgesellschaft sein, „können dies aber nicht in der von ihnen gewünschten Form oder gar nicht.“ (S. 326). Die Enttäuschungen aufgrund verwehrter Anerkennung kann durch einen starken Paarzusammenhalt in romantischen Beziehungen teilweise kompensiert werden, muss aber nicht. Daneben dienen auch andere soziale Nahbeziehungen, Sorgearbeit, soziales Engagement, das Streben nach Selbstverwirklichung und Spiritualität als Quellen, die Enttäuschungen teilweise zu kompensieren vermögen – wenngleich auch hier: nicht muss. Alle Sphären sind gewissermaßen ambivalent und können ebenfalls Enttäuschungen analog zur Sphäre der Erwerbsarbeit mit sich bringen.
Die Autorinnen führen mögliche Lösungswege an, die sowohl eine politische Dimension als auch eine individuelle Dimension beinhalten. Während es gesellschaftlich einer stärkeren Sensibilisierung für Menschen in prekären Lebenslagen bedarf, womit insbesondere auch eine stärkere – überspitzt formuliert – Entfetischisierung der Erwerbsarbeit bedarf, sowie eine Verbreiterung dessen, was alles als anerkannte Arbeit gilt (mit entsprechend monetär bemessenem Gegenwert), gilt es auf individueller Ebene eine stärkere „Nichtanerkennungsresistenz“ zu entwickeln. Nicht zuletzt könnte das auf individueller Ebene dazu führen, sich dem „falschen Erwerbsarbeits-Anerkennungs-Versprechen zu entziehen“ (S. 395) und damit den toxischen Kreislauf der Nichtanerkennung und Enttäuschungen zu entkommen.
„Ein autonomes, anerkennungs-abstinentes Subjekt ist mit unseren Grundannahmen nicht vorstellbar, auch lassen sich Krankheit, Alter und Tod nicht einfach wegdenken. Berufliche Nichtanerkennungsresistenz lässt sich hingegen wohl anstreben – als ein Schritt zu einer Transzendierung der potentiell destruktiven Erwerbsarbeitsmatrix und dem entsprechenden Dystopia. Doch erst im Zusammenspiel mit Politiken der Ent_Prekarisierung, kollektiven Handlungen, individuellen Handlungen und Haltungen lassen sich gesellschaftlich die Bedingungen der Anerkennbarkeit selbst so verschieben (Butler zitiert in Wimbauer/Motakef 2020, S. 396), dass nicht mehr gleichsam automatisch Anerkennungsdefizite der Preis sind, wenn Menschen Sorge erbringen, nicht 'erwerbsarbeitsleistungsfähig' sind oder sich um sich selbst kümmern.“ (S. 396).
Fazit
Wimbauer/Motakef leisten mit dem vorliegenden Buch einen wichtigen und dringend notwendigen Beitrag zur empirisch fundierten Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit unserer Arbeitsgesellschaft. Wir sollten uns nicht länger damit abfinden, dass Arbeit viele Menschen krankmacht, an den Rand der Gesellschaft drängt und aus anderen Gründen ausschließt, obwohl diese Menschen arbeiten wollen und – in dem ihnen möglichen Ausmaß – arbeiten könnten. Gerade der empirische Zugang reichert die oftmals theoretisch geführten Debatten der Arbeitssoziologie und Prekaritätsforschung an. Die Utopie eines guten Lebens für Alle lässt sich auch paraphrasieren als Plädoyer für eine Gesellschaft, die niemandem strukturell Anerkennung verwehrt, sondern – im Gegenteil – die Möglichkeiten Anerkennung zu erfahren möglichst für alle Menschen vergrößert. Das Buch stellt einen lesenswerten Beitrag zur Prekaritätsforschung dar, der insbesondere für erwerbsarbeitskritische eingestellte aber auch für soziologisch interessierte Leser*innen zu empfehlen ist.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
Es gibt 22 Rezensionen von Laura Sturzeis.
Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 10.09.2020 zu:
Christine Wimbauer, Mona Motakef: Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse. Campus Verlag
(Frankfurt) 2020.
ISBN 978-3-593-51240-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27091.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.