Dominik Mantey: Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung
Rezensiert von Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, 24.07.2020

Dominik Mantey: Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung. Jugendliche individuell begleiten.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
216 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6250-2.
D: 16,95 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 28,12 sFr.
Mit Online-Materialien .
Entstehungshintergrund
Die Pädagogik – in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe und (zögerlich noch) der Eingliederungshilfe behinderter Menschen – steht vor einem radikalen Umbruch. Die Grundsätze sind wissenschaftlich geprüft und veröffentlicht.
Die stärkste Avantgarde bildet augenblicklich die katholische Kirche. Teilweise sind die Fortschritte so mutig, dass deren Umsetzung unglaublich erscheint. Die Grundsätze haben das verbriefte Wort der Bischöfe. Aber ob sie auch deren Praxis bezogenen Segen bekommen? Erste Ansätze sind verblüffend ermutigend.
Dr. Dominik Mantey (Professor für Soziale Arbeit) hat an den Grundsätzen mitgeforscht und mitpubliziert. Er bemüht sich jetzt um deren Praxisinstallierung. Zielgruppe seiner neuesten Publikation sind die Pädagog*innen in den Einrichtungen. Mit dem Buch ist ein Anreger entstanden, kein Aufreger, aber ein gut lesbarer Ratgeber, der zu stiller persönlicher Reflexion verhilft aber auch zu mutiger Teamdiskussion.
Der Titel des 216seitigen Buches „Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung“ blieb unbestimmt, der Untertitel: „Jugendliche individuell begleiten“ kann als Versprechen aber auch als konkrete Forderung verstanden werden.
Inhaltlicher Aufbau
Auch das Inhaltsverzeichnis ist anschaulich und aussagekräftig. Nach der Einführung im und zum Buch folgen
2. Warum das heiße Eisen anfassen?
- Sexualität ist alltäglich präsent
- Sexualität ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters
- Sexualität fordert heraus
- Fachkräfte sind selbst betroffen – Selbstreflexion ist notwendig
- Sexualpädagogik wirkt gewaltpräventiv
- Aus der Vergangenheit lernen
- Risiken der Reinszenierung und Reviktimisierung
- Rechte der Jugendlichen
3. Grundlegende Orientierung und Ziele
- Sexualpädagogische Orientierung
- Ziele
4. Rechte der Jugendlichen
Recht auf Schutz vor Diskriminierung – auf Beteiligung, Meinungsäußerung und Information – auf sexuelle Selbstbestimmung – auf Privatsphäre – auf Zugang zu Medien und Information – auf Bildung – auf Schutz vor sexualisierter Gewalt – auf Gesundheit – auf eine individuelle Sexualerziehung und das Recht auf Bekanntmachung der Rechte.
5. Strafrechtliche Grundlagen
- Strafrechtlicher Schutz von Kindern
- Strafrechtlicher Schutz von Jugendlichen unter 16/18 Jahren
- Die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger – Vorschubleistungen
- Prostitution
- Strafbarkeit von Sexualität von Kindern und Jugendlichen unter sich
6. Sexualität im Jugendalter
- Pubertät
- Weitere Daten von Jugendsexualität
- Sexualität von Jugendlichen im Heim
7. Geschlechtssensibilität und Vielfalt
- Geschlechtssensible Sexualpädagogik
- Sexuelle Vielfalt
Ich bedauere, die Eingängigkeit des Inhaltsverzeichnisses nicht weiter nutzen zu können. Das würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Bedauerlich, weil nun das Buch öfter auf die spezielle Situation in Heimen eingeht. Es folgen noch zwei große Themenbereiche, der zur „Praxis der Sexualerziehung“ und der zu „Organisationale(n) Rahmenbedingungen“
Besonders praktisch sind ausführliche Reflexionsbogen als Arbeitshilfen. Aber das Herzstück des ganzen Buches ist die Abhandlung zum Thema „Vertrauen“. Vertrauen müssen sich alle Ratgebenden in einer pädagogischen Beziehung verdienen. Sie müssen vertrauenswürdig sein, würdig Vertrauen zu erhalten. Verleihende sind die Ratsuchenden.
8. Die Begleitung einzelner Jugendlicher
9. Sexualpädagogische Medien und Materialien
10. Sexualpädagogische Gruppenveranstaltungen
11. Regeln
Besonders bemerkenswert sind hier alle Hinweise dazu, dass Verbote und Strafen kontraproduktive Maßnahmen sind. Sie sind aber pädagogischer Alltag, weil sie schnell wirken, wenn es nur darum geht, den Laden am Laufen zu halten.
12. Elternarbeit
13. Teamarbeit, Kommunikation und Netzwerkarbeit
Eine systemverändernde Herausforderung schlägt Dominik Mantay hier für die bestehende Beratungspraxis vor, wenn er beschreibt, dass bei dem risikoreichen Thema Sexualität Fehler passieren und auch passieren dürfen. Ratgebende dürfen keine Angst vor sich selbst und vor der Leitungsebene haben.
14. Organisationsentwicklung
15. Prävention sexualisierter Gewalt
16. Literaturverzeichnis
Diskussion
Soziale Arbeit steht zwischen staatlicher Kontrolle und staatlicher Förderung. Das ist bekannt und als Realität notgedrungen anerkannt. Realität ist aber auch, dass Pädagogik nur helfen kann, wenn die Adressatin oder der Adressat das Angebot annimmt. Die Adressat*innen haben die Macht. Schlau sind sie, wenn sie sie nutzen, soweit sie schon können, zumindest heutzutage. Der Rezensent möchte laut anschlagen: „Seid vorsichtig, öffnet euch nicht ohne absolute Prüfung. Auch wenn die weiße Pfote im Fenster liegt, öffnet die Tür nicht. Sonst bleibt euch nur der letzte Rückzug in den Uhrenkasten“.
Dominik Mantey will dazu beitragen, dass Pädagog*innen ins Vertrauen gezogen werden, weil sie vertrauenswürdig geworden sind. Dazu reicht er eine Fülle von Vorschlägen, nicht gut begründet, begründet sind sie schon – von ihm und von anderen Wissenschaftler*innen. Diesmal publiziert er eingängig, nutzbar auch beim Sonnenbaden im Garten. Das kann man doch mal versuchen! Oft sind Reflexionsanregungen in die Texte eingestreut oder Anregungen für die Praxis oder Praxisbeispiele, es gibt sogar Online-Materialien.
Leider braucht nachdenkliches Innehalten Arbeitszeit und die wird Pädagog*innen vom System nicht gegeben. So und aus anderen Gründen wird in der bestehenden Praxis viel zu oft tabuisiert und dann behauptet, in der eigenen Heimeinrichtung gäbe es das Problem Sexualität nicht. Nach 100 Jahren Freud’scher Analyse!
Billiger ist es, scheint es.
Kritik
Dominik Mantey beschreibt zu wenig die Notwendigkeit, Sexualität als begehrenswerten Lebensinhalt zu achten. Selbst einem Menschen nach dem verheerenden Erlebnis von sexueller Gewalt kann noch versucht werden, gelungene Sexualität als erstrebenswert und bereichernd zu beschreiben. Das ist sie doch, oder? Es bleibt in jedem Alter die Hoffnung auf Selbstbestimmung sexueller Entfaltung.
Zu der Identifizierung von Themen (Seite 147), die eine große Bedeutung für das Kindeswohl der Jugendlichen haben führt Dominik Mantey aus:
„Fruchtbarkeit und Verhütung – sexuell übertragbare Krankheiten – sexualisierte Gewalt – Chancen und Risiken der neuen Medien – sexuelle Vielfalt“ – also alles „Problem belastete Themen“. Fehlt noch, weil Sexualität wunderbar sein kann: Individuell seelische Ansätze für Heilungen.
Sonst noch was zum Werk? Nix zu meckern.
Fazit
Ein eingängiger Ratgeber ohne Rat-Schläge, der hilft, für Kinder und Jugendliche, ob behindert oder nicht, vertrauenswürdig zu sein. Das Ziel ist Vertrauens-Würdigkeit. Dabei muss man weder Sozialarbeiter*in noch Pädagog*in sein.
Rezension von
Dipl.-Psych. Lothar Sandfort
Psychologischer Leiter des „Institutes zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ (Trebel), seit 1971 querschnittgelähmt und so seit vielen Jahren als Peer-Counselor in Beratung und Psychotherapie tätig. Unter anderem Supervisor und Coach für Teams in Einrichtungen der Behindertenarbeit von körperlich, geistig bzw. psychisch behinderten Menschen.
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Es gibt 24 Rezensionen von Lothar Sandfort.
Zitiervorschlag
Lothar Sandfort. Rezension vom 24.07.2020 zu:
Dominik Mantey: Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung. Jugendliche individuell begleiten. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-6250-2.
Mit Online-Materialien .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27099.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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