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Mark Schrödter: Bedingungslose Jugendhilfe

Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 26.01.2021

Cover Mark Schrödter: Bedingungslose Jugendhilfe ISBN 978-3-658-28535-7

Mark Schrödter: Bedingungslose Jugendhilfe. Von der selektiven Abhilfe defizitärer Elternschaft zur universalen Unterstützung von Erziehung. Springer VS (Wiesbaden) 2020. 111 Seiten. ISBN 978-3-658-28535-7. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 33,50 sFr.

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Thema

Bekanntermaßen kann wer am Ende ist, wenigstens von vorn anfangen. Aus diesem Grund soll hier die letzte Aussage des Buches zitiert sein, welche dessen zentrales Anliegen auf den Punkt bringt: Am Ende des Buches wird dafür plädiert, dass auch die erzieherischen Hilfen zum komplementären Unterstützungssystem von Familien gehören sollen, ohne diese an stigmatisierende Bedürftigkeitsprüfungen zu koppeln. Erzieherische Hilfen sollen also von ihren Barrieren der Inanspruchnahme befreit werden, sodass sie ohne Stigma genutzt werden können: „Es geht dabei darum, dass das Jugendhilfesystem seine Leistungen auf eine Weise bereitstellt, in der die Verwirklichung einer mit guten Gründen vertretbaren Vorstellung von Familie, Kindheit, Jugend und autonomer Elternschaft ohne Degradierung möglich ist“ (S. 95).

Autor

Prof. Dr. Mark Schrödter ist Professor für Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters an der Abteilung für „Sozialpädagogik und Soziologie der Lebensalter und -lagen“ des Instituts für Sozialwesen der Universität Kassel. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen „Theorie der Sozialpädagogik und Professionalisierung Sozialer Arbeit“, „Autonomisierungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen“, „Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung“ sowie „Interkulturelle/​Rassismuskritische Soziale Arbeit“. Mark Schrödter habilitierte zum Thema „Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession“ und promovierte zum Thema „Die Einheit Interkultureller Jugendhilfe: Strukturbestimmung und Rekonstruktion“.

Inhalt

Das erste Kapitel mit dem Titel „Erzieherische Hilfen: Stigmatisierung durch Bedürftigkeitsprüfung“ widmet sich der bekannten Strukturproblematik der Jugendhilfe, wonach sich erst durch die Prüfung der Bedürftigkeit ein Hilfsanspruch ergibt und diese Bedürftigkeitsprüfung mit Stigmatisierungsprozessen einhergeht. Es wird aufgezeigt, wie sich die Bedürftigkeitsprüfung im Jugendhilfereformdiskurs etablieren konnte und sich das Stigmatisierungsproblem in der Jugendhilfe im Spiegel der Forschung präsentiert. Als wichtigster Grund für diese Etablierung der Bedürftigkeitsprüfung wird die Defizitorientierung in der modernen Jugendhilfe genannt: Zwar wird das Defizit nicht ausdrücklich in einem individuellen Unvermögen oder Versagen der Eltern oder der Kinder gesucht, sondern durchaus auch in den sozialen Bedingungen. Der Autor weist aber darauf hin, dass es fraglich sei, ob „[…] gesellschaftlich und rechtlich letztlich nicht doch von Eltern erwartet und ihnen als „Kompetenz“ zugeschrieben wird, langfristig mit schwierigen Bedingungen wieder klarzukommen“ (S. 7) – schließlich haben die Hilfe zur Erziehung nach dem Willen des Gesetzgebers das erklärte Ziel, eine Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenz herbeizuführen.

Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Zur sozialen Konstruktion von Hilfsbedürftigkeit“ werden ausgehend von allgemeinen Ausführungen zu Soziale-Konstruktions-Analysen Fallrekonstruktionen zur Stigmatisierung durch Konstruktion eines erzieherischen Bedarfs anhand von drei Fällen nachgezeichnet: Fall «Gescheitertes Stigma-Management nach einem Handywurf», Fall «Erfolgreiches Stigma-Management auf dem Marmorboden» und Fall «Selbst-Stigmatisierung als entwürdigende Verhandlung um Fremdunterbringung». In diesen Fallrekonstruktionen zeigt sich, wie Fachkräfte Familien ungewollt mit einem Stigma konfrontieren und wie die Familien mit diesen Stigmatisierungsversuchen umgehen. Daraus resultieren unterschiedliche Stigmatisierungsdynamiken, die sich aus der Kreuzung der Perspektiven der Fachpersonen und der Eltern hinsichtlich einer gescheiterten respektive erfolgreichen Stigmatisierung beziehungsweise eines gescheiterten respektive erfolgreichen Stigma-Managements ergeben. Nach diesen fallgestützten Ausführungen zu Stigmatisierungsprozessen, wird das Kapitel mit der Frage abgeschlossen, ob ein Jugendhilfesystem denkbar wäre, das Eltern und ihre Kinder nicht systematisch degradiert und stigmatisiert.

Im dritten und letzten Kapitel mit dem Titel „Bedingungslose Jugendhilfe: Unterstützung ohne Stigmatisierung“ wird eingangs skizziert, was Bedingungslosigkeit aus rechtlicher Perspektive bedeuten könnte: Im Wesentlichen wird hier gefordert, dass die erzieherischen Hilfen in den Regelleistungen angesiedelt werden sollen, wodurch die Schwelle des „erzieherischen Bedarfs“ entfällt. Ausgehend von dem aus der Wohlfahrtsforschung bekannten Phänomen des Verteilungsparadoxes, wird zudem aufzuzeigen versucht, dass sich die universale Gewährung erzieherischer Hilfen als Regelleistungen – neben der Vermeidung der Stigmatisierungsproblematik – auch aus ökonomischer Hinsicht als effizienter erweisen könnte als deren selektivistische Form. Anschließend wird die Notwendigkeit einer sozialpädagogischen Neuorientierung der Hilfen zur Erziehung am Beispiel Heimerziehung zu begründen versucht, für die eine Orientierung an Internaten als (Bildungs-)Alternativen zur klassischen Heimerziehung als verheißungsvoll erachtet wird.

Diskussion

Es wird nachvollziehbar argumentiert und empirisch begründet, dass sowohl das Angebot als auch die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen stigmatisierend wirkt, da Eltern die eigene Erziehungsfähigkeit als eingeschränkt akzeptieren respektive darstellen müssen, weil sie nur so Zugang zu den Hilfen zur Erziehung erhalten. Folgerichtig wird dann geschlussfolgert, dass den betroffenen Eltern aufgrund der strukturellen Stigmatisierung und Degradierung die Chance genommen wird, ihre Elternschaft in Würde autonom zu gestalten. Völlig zurecht weist der Autor hier auf den irritierenden Umstand hin, dass diese Zusammenhänge zwar bekannt und belegt sind, aber daraus keine praktischen Konsequenzen gezogen werden. An dieser Stelle bringt der Autor seine Forderung nach einer Einreihung der Hilfen zur Erziehung in die Regelangebote der Jugendhilfe ein, wodurch die stigmatisierende Bedürftigkeitsprüfung überwunden werden könnte, die den Hilfebedarf gegenwärtig (noch) legitimiert.

Die Einladung, über eine konsequent bedingungslos ausgerichtete Jugendhilfe nachzudenken, erfolgt an verschiedenen Stellen und wird beispielsweise mit folgenden Fragen anzuregen versucht: „Wie wäre es, wenn die Hilfen zur Erziehung allen Eltern bzw. Kindern und Jugendlichen bedingungslos als Ressource zur Verfügung stünden? Wäre es sinnvoll, die Hilfen zur Erziehung zum regulären Bestandteil der sozialen Infrastruktur der Gesellschaft zu machen, ähnlich wie Kindertagesstätten, die ja allen Kindern bedingungslos offenstehen? Wäre es dann denkbar, dass die Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung nicht mehr länger ein stigmatisierendes Sinnbild ist für die Defizite elterlicher Fürsorge, sondern Ausdruck reflexiver Elternschaft?“ (S. 4). Der Autor bezieht bei der Beantwortung dieser Fragen eine erfrischend klare Position, indem er die gängige Praxis der stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung schlicht als „ungerecht und entwürdigend“ bezeichnet.

Insbesondere auch die interessante Frage, ob die Forderung nach dieser bedingungslosen Jugendhilfe das in den Hilfen zur Erziehung scheinbar unbestrittene Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ aushebelt, wird an verschiedenen Stellen aufgeworfen. Diese Frage lässt sich am besten anhand des Beispiels der Betreuung von Kindern in Kindertagesstätten beantwortet: Das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ würde hier bedeuten, dass diese Betreuungsleistung Eltern vorbehalten ist, die ihre Kinder nicht selbst erziehen können und so angelegt sein sollte, dass nur solange ein Anspruch darauf besteht, bis die Eltern wieder selbst dazu in der Lage sind, die Betreuung ihrer Kinder zu übernehmen. Kindertagesstätte wären dann also als kompensatorische Hilfe für inkompetente Eltern zu betrachten und nicht als eine normale Unterstützung autonomer Elternschaft, die eben nicht an die Erziehungskompetenz der Eltern gebunden ist. Da diese Betreuungsleistung gegenwärtig als eine die Leistungen der Familie ergänzende, komplementäre Unterstützung von Elternschaft betrachtet wird, kommt das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ aber hier gar nicht um Tragen. Vielmehr hat die Umwandlung dieser gesellschaftlichen Leistung in eine Regelleistung der Jugendhilfe also dazu geführt, dass das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in der Tat ausgehebelt wurde.

Der Autor geht berechtigterweise davon aus, dass insbesondere Eltern mit geringen ökonomischen Ressourcen die Abschaffung der formalrechtlichen Bedingung des erzieherischen Bedarfs entgegenkommen würde, da diese im Gegensatz zu wohlhabenden Eltern Bildungs- und Betreuungsleistungen nicht privat erwerben können. Die Situation der Eltern mit geringen ökonomischen Ressourcen präsentiere sich gegenwärtig nämlich etwa wie folgt: „Das gegenwärtige Jugendhilfesystem lässt sich gedankenexperimentell mit einer Gesellschaft mit einem Bildungssystem vergleichen, in der alle Eltern das formale Recht haben, ihre Kinder auf eine allgemeinbildende Schule zu geben, für Eltern mit niedrigem Einkommen die Inanspruchnahme dieses Rechts jedoch an die Bedingung geknüpft ist, zuvor nackt durch die Stadt zu laufen und zu rufen: „Ich bin inkompetent! Ich bin unfähig, meine Kinder allein zu bilden!“. Ein solches Bildungssystem würden wir als ungerecht bezeichnen“ (S. 94). Wie wahr.

Fazit

Im Buch „Bedingungslose Jugendhilfe. Von der selektiven Abhilfe defizitärer Elternschaft zur universalen Unterstützung von Erziehung“ wird die fast schon gebetsmühlenartig vorgebrachte Forderung nach einer Einreihung der Hilfen zur Erziehung in die Regelangebote der Jugendhilfe immer wieder engagiert vertreten und bestens begründet. Diese Forderung ist dabei aber mehr als nur ein reines Gedankenexperiment. Neben dem guten Argumentarium für eine bedingungslose Jugendhilfe wird nämlich auch konkret aufgezeigt, was eine bedingungslose Jugendhilfe in rechtlicher Hinsicht bedeuten könnte. Entscheidender aber noch als diese formaljuristischen Überlegungen, sind die berechtigten Forderungen nach einer sozialpädagogischen Neuorientierung der Hilfen zur Erziehung als Ganzes.

Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Es gibt 17 Rezensionen von Marius Metzger.

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ISSN 2190-9245