Jacob Schmidt: Achtsamkeit als kulturelle Praxis
Rezensiert von Dr. Helen Schneider, 01.10.2020
Jacob Schmidt: Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens.
transcript
(Bielefeld) 2020.
396 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5230-7.
D: 35,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Reihe: Achtsamkeit - Bildung - Medien - Band 2.
Thema
„Achtsamkeit hat in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche Popularität erlangt – getragen von blühenden Verheißungen und begleitet von pauschaler Kritik. Jacob Schmidts Analyse verschiedener Ansätze – etwa der von Jon Kabat-Zinn entwickelten Mindfullness-Based Stress Reduction (MBSR) – zeigt jedoch, dass Achtsamkeitspraktiken ganz unterschiedliche Selbst- und Weltverhältnisse modellieren. Diese gehen nicht nur auf buddhistische Meditationspraktiken zurück, sondern lassen sich als komplexe Verflechtung mit der Kultur der Moderne und der Beschleunigungsgesellschaft rekonstruieren. Hiermit liegt eine erste umfassende und systematische soziologische Studie zum populären Phänomen der Achtsamkeit vor.“ (Klappentext).
Autor
„Jacob Schmidt (B.SC. Psychologie, M.A. Gesellschaftstheorie), geb. 1988, lebt in Jena und promovierte an dem von der DFG geförderten Graduiertenkolleg ‚Modell Romantik‘“ (Seite 2).
Aufbau
Der Haupttext gliedert sich in vier Teile mit jeweils mehreren Kapiteln, die theoriegeleitet das Phänomen der Achtsamkeit beleuchten.
Inhalt
Das Vorwort des Buches beinhaltet eine einführende Einleitung und befasst sich mit der Achtsamkeit als Selbst-Welt-Modell gelingenden Lebens. Es geht dabei um die Frage, wie Achtsamkeit zu einem positiv erlebten Verhältnis des Menschen zu sich selbst und der Welt beitragen kann.
Der darauffolgende erste Teil „Grundlegungen“ fokussiert zunächst den Forschungsstand der Achtsamkeitsthematik und leitet anschließend zur sozialtheoretischen Verortung kultureller Selbst-Welt-Modelle über. Dabei geht Schmidt besonders auch auf kulturelle Praktiken als Träger von Selbst-Welt-Modellen ein. Abschließend fügt er als methodische Anmerkung an, dass zunächst eine Rekonstruktion der Selbst-Welt-Modelle folgt, die als Basis der im dritten und vierten Kapitel stattfindenden kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Einbettung dient.
Im zweiten Teil „Die Achtsamkeitsströmung“ verankert der Autor zunächst die Geschichte und verschiedene Kontexte der Achtsamkeitsströmung. Darauffolgend beschreibt er umfassend drei verschiedene Selbst-Welt-Modelle, in denen die Praktiken der Achtsamkeit aufeinander aufbauen. Im sezierend-distanzierten Selbst-Welt-Modell geht es um eine ebenso sezierend-distanzierte Achtsamkeit im Umgang mit einem leidend-verunreinigten Selbst in einer materialistischen Welt und einem sittlichen und überwundenen Selbst in einer unbeständigen Welt. Explizit verdeutlicht Schmidt diese Form der sezierend-distanzierten Achtsamkeit anhand der Sitzmeditation. Im interessiert-sorgenden Selbst-Welt-Modell fokussiert sich der Autor auf den Selbst- und Weltverlust in einer krisenhaften und gehetzten Welt, auf das lauschend-kreative Selbst und die Emphase der Lebendigkeit und abschließend auf informelle Praktiken der interessiert-sorgenden Achtsamkeit. Diese informellen Praktiken äußern sich eben nicht wie formelle Praktiken, wie z.B. die Sitzmeditation, darin, dass man bewusst Zeitpunkt und Material wählt und nutzt, sondern stattdessen die Praktiken der Achtsamkeit in alltägliche Abläufe, wie das bewusste Gehen, einfließen lässt. Im verfügend-funktionalistischen Selbst-Welt-Modell beschreibt der Autor das gestörte und zerstreute Selbst in einer hektischen Welt, bevor er auf nützliche Effekte für ein verfügendes Selbst und auf die Achtsamkeit on demand, also Achtsamkeit als integrierte Praktik des täglichen Lebens eingeht.
Der dritte Teil befasst sich mit dem Thema „Kulturelle Quellen“ Dabei liegt der Fokus zunächst auf einer Einführung zur Achtsamkeit im Kontext der Moderne. Der Autor setzt sich an dieser Stelle sowohl mit Pluralisierungstendenzen der Moderne auseinander als auch mit der Ent-, Ver- und Wiederverzauberung der Welt. Anschließend geht er in diesem Zusammenhang vertiefend auf die Achtsamkeit als radikalisierte Form des buddhistischen Modernismus, auf die Frage nach einer wissenschaftlichen Achtsamkeit und auf die Aktualisierung des Romantischen ein.
Im vierten Teil „Gegenwarts-Gesellschaft“ befasst sich der Autor zunächst mit einführenden Worten zur Obsession mit der Gegenwart. Dabei vertieft er insbesondere Beobachtungen zu Achtsamkeit, Beschleunigung und Zeitkrise, aber auch Gedanken zur Soziologie der Zeit. Daran anschließend befasst er sich ausführlich mit der sozialen Beschleunigung und der Transformation des Hier und Jetzt. Weiter geht er auf die Ambivalenz spätmoderner Gegenwartserfahrung ein und beleuchtet insbesondere den rasenden Stillstand als Krise des Fortschrittsglaubens sowie die drohende Langeweile und das unerschöpfliche Jetzt. Ebenso geht er vertiefend auf die Aktualisierung spätmoderner Zeitlichkeit ein, indem er medialen und leiblichen Präsentismus, die Selbst-Welt-Modelle des Spielens, Driftens und Flanierens und ebenso die Gelassenheiten der Achtsamkeit fokussiert.
Diskussion
Bei der Lektüre des Buches besticht zunächst die inhaltliche Tiefe, mit der das Phänomen der Achtsamkeit aufgebrochen und bis in den kleinsten Winkel hinein beleuchtet wird. Dem Autor ist eine umfassende Studie gelungen, die den Achtsamkeitsbegriff nicht nur auf buddhistische Meditationspraktiken reduziert. Vielmehr rekonstruiert er umfassend verschiedene Ansätze der Achtsamkeit und deren Selbst-Welt-Modelle, um diese anschließend kultur- und gesellschaftskritisch zu verflechten und zu analysieren. Weiterhin ist die rhetorische Leistung des Autors zu betonen, die die inhaltliche Tiefe des Buches unterstreicht. Das Buch eignet sich somit weniger als Einstieg in die Welt der Achtsamkeit, sondern kann und muss als Vertiefung für achtsamkeitsversierte Personen betrachtet werden.
Fazit
Das Buch richtet sich an Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, an forschende Personen in diesem Themenbereich und an andere an diesem Feld interessierte, aber bereits versierte Menschen.
Rezension von
Dr. Helen Schneider
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Es gibt 9 Rezensionen von Helen Schneider.
Zitiervorschlag
Helen Schneider. Rezension vom 01.10.2020 zu:
Jacob Schmidt: Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens. transcript
(Bielefeld) 2020.
ISBN 978-3-8376-5230-7.
Reihe: Achtsamkeit - Bildung - Medien - Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27135.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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