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Michael Volkmer, Karin Werner (Hrsg.): Die Corona-Gesellschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 14.09.2020

Cover Michael Volkmer, Karin Werner (Hrsg.): Die Corona-Gesellschaft ISBN 978-3-8376-5432-5

Michael Volkmer, Karin Werner (Hrsg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. transcript (Bielefeld) 2020. 429 Seiten. ISBN 978-3-8376-5432-5. D: 19,50 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 25,00 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.

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Thema

In dem Buch geht es um das Thema Corona aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht. Die Autorinnen und Autoren beschäftigen sich deutend, philosophierend, erklärend und analysierend mit einem Phänomen, welches das gegenwärtige Leben und damit die Gesellschaften weltweit maßgeblich beeinflusst hat.

Herausgeber*in

Michael Volkmer studierte Soziologie und Philosophie und arbeitet als stellvertretender Programmleiter und Lektor bei transcript.

Karin Werner (Dr. rer. soc.) ist eine der Verlegerinnen und Programmleiterin des transcript Verlags.

Entstehungshintergrund

Es war Do, der 12. März 2020, als die ersten Meldungen zu Schließungen vieler öffentlicher Einrichtungen herausgingen. In der Folge kam es zum sog. „Lockdown“, einer temporären staatlich verordneten und durchgesetzten Massenquarantäne. Weltweit wurden in der Folge der Covid-19-Pandemie viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Aktivitäten ausgesetzt. Massenversammlungen wurden verboten, die Bevölkerung wurde angeordnet, „zu Hause“ zu bleiben und Grenzen wurden geschlossen. Wirtschaftlich, kulturell und gesundheitlich hält die durch einen Virus ausgelöste Krise uns seither in ihrem Bann. Manche waren lange Zeit wie gelähmt, andere hingegen wach und agil und haben die Gelegenheit erkannt…

In ihrem Vorwort „Über Corona schreiben? – Das 'Making-of' dieses Buches“ berichten die Herausgeberin Karin Werner und der Herausgeber Michael Volkmer, wie ihnen Ende März 2020 klar wurde, das Corona „längst DAS hinterbühnige Thema im sozialwissenschaftlichen Milieu war“ (S. 11). Sie fragten gezielt bei ihnen bekannten Autorinnen und Autoren nach Beiträgen zum Thema an, mit dem Ergebnis, dass letztendlich 39 Artikel in dem vorliegenden Band veröffentlicht werden konnten. Zwar hatten die Verfasser*innen nur wenige Woche Zeit ihre Artikel zu schreiben, aber offenbar war die Motivation so hoch, dass diese knappe Zeit ausreichte.

Für den transcript-Verlag war dieses Buchprojekt ein Test. Es ging den Projektinitator*innen nicht nur um Hilfe zur Bewältigung bzw. zum Verständnis einer hochgradig ungewohnten Situation, sondern – aus wissenschaftlicher Sicht – um die Frage, was die Sozial- und Kulturwissenschaften spontan, gewissermaßen in „Echtzeit“, leisten können (S. 12): „Unser Ziel war es, das Feuilleton-Niveau deutlich zu überschreiten und die aktuelle Lage mit wissenschaftlicher Elle zu messen“ (S. 13). Dabei kam ihnen das enge Verhältnis zu vielen Autor*innen des transcript-Verlages zu Gute. Als Lektor, Verlegerin und Programmleiterin nutzten sie ihren „Verlagshabitus“ (S. 13), die etablierte partnerschaftliche Kommunikation mit vielen Mitgliedern der wissenschaftlichen Community, um das „Corona-Buch“ in so kurzer Zeit fertigstellen zu können. Dass dies alles nicht so gradlinig und geordnet sein kann wie bei einem „normalen“ Buch liegt auf der Hand…

Aufbau und Inhalt

Viele Texte – so die Herausgeberin und der Herausgeber – hätten zu unterschiedlichen Überschriften gepasst – von daher war die Gliederung eine „Herausforderung“ (S. 13). Letztlich herausgekommen sind die Übertitelungen „Kritik der öffentlichen (Un-) Vernunft“ (2 Beiträge), „Historische Einordnungen“ (2), „Körper“ (3), „Räume“ (6), „Zeitlichkeiten“ (2), „Solidaritäten“ (3), „Gesellschaftsordnung“ (3), „Staat und Demokratie“ (3), „Protest und Widerstand“ (2), „Internationale Politik“ (2), „Ökonomien“ (3), „Krisenbewältigung“ (3) und „Konkrete Utopien“ (5).

Die Verfasser*innen adressieren zentrale gesellschaftliche Themen jenseits von virologischen und medizinischen Erkenntnissen und Gefahrenabschätzungen. Sie verstehen die Corona-Krise als gesellschaftliche Krise, die tief in unsere alltäglichen Verhaltensroutinen eingreift. Dies' spiegelte sich „damals“, als die Krise ihren bisherigen Höhepunkt erreichte, in dem oft gehörten Satz wieder: „Nun wird es nie wieder so sein, wie es mal war“. Die Beiträge reichen von persönlichen Betroffenheitsschilderungen bis hin zu abstrakt-theoretischen Analysen. Die Verstärkung der sozialen Ungleichheit durch die Corona-Krise ist ebenso ein Thema wie der systematische Rassismus, der durch die Corona-Krise deutlich sichtbarer wurde. Die Impfgegner, die sich seit Corona mit den klassischen Verschwörungstheoretikern verbündet haben, werden ebenso beschrieben wie die Aktivist*innen der FfF-Bewegung, die sich in ihre virtuellen Räume zurückziehen mussten. Der Schmerz und die Angst vor den „Gegenbewegungen, die auf Abschottung und Verdrängung abzielen“ und schon „in den Startlöchern stehen“ (S. 149) kommt zum Ausdruck, das Krankheitssystem „als Intensivmedizin, die das Individuum in der Gesamtheit seiner Lebensvollzüge steuert“ (S. 199) oder die „verschiedenen Phasen der Humandifferenzierung“ (S. 221) und die „scharfe Polarisierung des politischen Diskurses“ (S. 239).

Damit die Leser*innen mehr über den Inhalt des Buches erfahren, sollen im Folgenden drei Artikel zusammengefasst werden.

Stephan Lessenich schreibt über das Neosoziale an der Pandemie. Er geht in seinem Artikel der Frage nach dem Geheimnis des Erfolgs der neoliberalen Auffassung nach. Lessenich analysiert ein „gesellschaftliches Gestaltungsregime“ (S. 177), „das systematisch die soziale Ungleichheitsproduktion befördert, breite Bevölkerungskreise sozialpolitisch entsichert und mittels inszenierten Wettbewerb tendenziell jede und jeden gegeneinander in Stellung bringt“ (ebd.). Neben den „üblichen Verdächtigen“ Macht und Geld bringt der Münchener Soziologie-Professor ein drittes Steuerungsmedium ins Spiel, mit dem er den Erfolg des neoliberalen Diskurses begründet: die Sozialmoral. Das neoliberale Hochloben der Eigenverantwortung wurde von einer moralischen Argumentation begleitet, die es quasi unbesiegbar machte. Denn wer sich selbst ernährt und nicht auf staatliche Hilfen angewiesen ist, erweist dem gesellschaftlichen Ganzen einen unschätzbaren Dienst; er/sie leistet einen „Beitrag zur sozialmoralischen Integration des Gemeinwesens“ (S. 178): „Eigenverantwortung in Sozialverantwortung“ (S. 179). Die damit verbundenen Verhaltensmaxime lassen sich ohne weiteres auf den Corona-bedingten Verhaltenscodex übertragen. Es vollzieht sich eine „Subjektivierung des Sozialen“, vor deren Hintergrund die strukturellen Ursachen der Krise ebenso aus dem Blick geraten wie die Vernachlässigung öffentlicher Verantwortlichkeit (S. 180). „Solidarität“ ist zu einem Begriff geworden, der den sorgenden Individuen persönliche Verhaltensvorschriften auferlegt. Die Verwandlung der Bedeutung dieses Begriffes gekoppelt mit der Ankündigung, dass die Corona-Krise „allein solidarisch“ bewältigt werden kann, bedeutet nach Stephan Lessenich keine emanzipatorische Verheißung mehr, sondern eine potenziell autoritäre Drohung (S. 182).

Die Bielefelder Historikerin Prof.in Eleonora Rohland verknüpft in ihrem Beitrag drei anscheinend (zumindest in der öffentlichen Debatte) nicht zusammenhängende Ereignisse: Den Klimawandel, die Rassendiskriminierung und die Covid-19-Pandemie. Sie beschreibt die Verflechtung zwischen Umweltzerstörung (menschgemachte Erwärmung des Klimas, Ausbeutung seltener und nicht erneuerbarer Rohstoffe, landwirtschaftliche Monokulturen, Einsatz von Pestiziden, Verschmutzung der Ozeane mit Mikroplastik), also u.a. der Zerstörung von Tierhabitaten und der dadurch erleichterten Entwicklung von Pandemien (S. 49). Rohland benutzt den Begriff „Anthropozän“, um deutlich zu machen, dass wir uns am Beginn einer neuen geologischen Epoche befinden. Während im Holozän noch milde klimatische Verhältnisse herrschten, „katapultiert sich die Menschheit mittels der Nutzung fossiler Energieträger und ihren steigenden CO2 – Emissionen … derzeit unwiederbringlich heraus“ (ebd.). Sie betrachtet die Geschichte der Versklavung indigener amerikanischer und afrikanischer Bevölkerungsgruppen durch Europäer unter dem Gesichtspunkt der Energiegeschichte. Eine solche Perspektive hilft ihr, zu verstehen, „wie tief Ressourcenausbeutung, damit einhergehende Umweltzerstörung und die Ausbeutung bestimmter Menschengruppen unter dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitskraft als Energie miteinander verflochten sind“ (S. 51). Eine nachhaltige Infragestellung des „gegenwärtigen Energieregimes“ geht – so Rohland (S. 52) – mit einer grundlegenden Verwandlung gesellschaftlicher Gewohnheiten und mittlerweile global gewachsener wirtschaftlicher Strukturen einher. Die Energie- und Umweltpolitik von Donald Trump oder Jair Bolsonaro sind aktuelle Bekenntnisse einer rückwärtsgerichteten, als „great“ imaginierten Vergangenheit, die auf der Nutzung fossiler Energien und der Vernichtung natürlichen Habitats sowie einem „weißen“ Macht- und Männlichkeitsverständnis basiert (ebd.).

Der Aufsatz des Mainzer Soziologie-Professors Stephan Hirschauer ist gespickt mit kreativen Formulierungen und allein deshalb schon lesenswert. Da ist die Rede von Viren, die „weder Ding noch Lebewesen sind. Sie sind etwa so unlebendig, wie Untote tot sind“ (S. 218). Eine Seite weiter wird das Corona-Virus, welches kulturell als Feind animiert wird, von Hirschauer bedauert: „Armes Virus! Könnte SARS-CoV-19 etwas wünschen, würde es uns sicher alles Gute wünschen, da wir ihm tot nicht zum Leben verhelfen können“ (S. 219). Doch hat der Aufsatz Hirschauers' auch inhaltlich einiges zu bieten: Das Virus reißt soziale Gräben auf und verunklart die Zuordnung: „Gehöre ich zu den Vulnerablen, den schon infizierten Überträgern oder den bereits Immunen?“ (S. 222). Seinen Aufsatz abschließend erwägt der Verfasser die Möglichkeit, dass es sich bei SARS-CoV-19 um einen „vergleichsweise harmlosen Testfall für ein viel gefährlicheres Virus“ (S. 225) handeln könnte. Für diesen Fall prophezeit er eine „Gabelung“ für die ökonomische Globalisierung, aber auch für den „Wärmegrad alltäglicher Geselligkeit“ (ebd.).

Diskussion

Der Band liefert viele spannende Eindrücke. Da sind beispielsweise die Arbeitsweisen der (20 weiblichen und 23 männlichen) Autor*innen: Manche zitieren vor allem aus dem Internet, andere zitieren gar nicht, die nächsten hängen eine lange Liste mit wichtigen soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Hauptwerken an ihren Artikel an. Interessant wird es auch bei den Herangehensweisen und theoretischen Perspektiven. Hier wird historisch, vergleichend, systemtheoretisch oder sprachsoziologisch argumentiert (eine genauere Untersuchung der Häufigkeiten dieser Herangehensweisen wäre spannend, liefert sie doch einen Hinweis auf deren jeweilige Attraktivität/Nichtattraktivität in der heutigen Zeit). In Bezug auf die Inhalte des Bandes ist hier von einer Art „Kiosk“ mit einem immensen Angebot auszugehen, bei dem sich der geneigte Leser/die geneigte Leserin das heraussuchen kann, was ihm/ihr am besten gefällt bzw. was auf das meiste Interesse stößt. 

Diese große Vielfalt ist gleichzeitig auch eine Schwäche, denn es gibt nicht die eine „Botschaft“ oder „Konsequenz“ in dem Buch. Wer z.B. davon ausgeht, dass der Klimawandel und um einiges gefährlichere Viren die Welt zukünftig unbewohnbarer machen werden (für solch' eine Position gibt es viele Anhaltspunkte), kann diese Auffassung in einigen der Artikel nachlesen oder zumindest erahnen. Daneben gibt es auch viele Artikel, die diese Annahme nicht teilen würden oder sich mit einer solchen Vision gar nicht beschäftigen. Dem Leser/der Leserin bleibt also nichts weiter, als aus der Vielzahl der vorhandenen Artikel eine Auswahl zu treffen. Dies mag manchen gelingen, andere werden sich durch die Vielfalt des Angebots schlicht „erschlagen“ oder zumindest überfordert fühlen.

Fazit

Für Studierende der Kultur- und Sozialwissenschaften ist das Buch eine Kaufempfehlung, liefert es doch einen guten Einblick in die „Werkzeugkiste“ (vorwiegend junger) Wissenschaftler*innen. Wer also ein Verständnis davon gewinnen möchte, wie ein Thema heute wissenschaftlich verstanden, dargestellt und bearbeitet wird, findet in dem Band „Die Corona-Gesellschaft“ einen informativen Überblick. Wissenschaftlich betrachtet ermöglicht der Band einen Austausch zwischen Wissenschaftler*innen und bietet eine hervorragende Diskussionsgrundlage. Inhaltlich sind die Beiträge überaus vielfältig, was man/frau mögen sollte.

Und wie steht es nun um die anfangs angeschnittene Frage nach dem „Output“ der Sozial- und Kulturwissenschaften in einer spontanen Angelegenheit? Betrachtet aus heutiger Sicht, haben die Virologen nach wie vor die Oberhand behalten. Sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse können sich vergleichsweise nur schlecht durchsetzen. Das liegt u.a. an ihrer Komplexität. Wer sich mit dieser komplexen Realität auseinandersetzen möchte, findet in dem vorliegenden Band viele gute Möglichkeiten dazu.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Es gibt 56 Rezensionen von Joachim Thönnessen.

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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 14.09.2020 zu: Michael Volkmer, Karin Werner (Hrsg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. transcript (Bielefeld) 2020. ISBN 978-3-8376-5432-5. Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27151.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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