Ludwig Haag, Doris Streber: Lehrerpersönlichkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.07.2020

Ludwig Haag, Doris Streber: Lehrerpersönlichkeit. Die Frage nach dem ´guten Lehrer´, nach der ´guten Lehrerin´. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2020. 189 Seiten. ISBN 978-3-7815-2381-4. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR.
„… Lehrer sein dagegen sehr“
Was gibt es nicht alles, was über Lehrerinnen und Lehrer gedacht, geschrieben, gespielt, gelobt, geschimpft … wird. Weil, jedenfalls in unseren Breitengraden und abendländischen Bildungstraditionen, jeder Mensch PädagogInnen positiv erlebt, erduldet oder negativ erfahren und erlitten hat. Das ergibt die scheinbare Gewissheit zu wissen, wie eine Lehrerin, ein Lehrer tickt, denkt und handelt. So kommt es, dass Lehrkräfte einerseits als Heilsbringer, Heroen, Wohltäter, Persönlichkeiten gelobt, wie auch als Egozentriker, Sadisten oder Käutze verschrien und verspottet werden. In Erzählungen, Autobiografien, Filmen, Karikaturen wird ein Lehrer oft als ein Mensch mit erhobenem Zeigefinger dargestellt. Das typische Wilhelm Busch-Porträt von „Lehrer Lämpel“ ist nach wie vor als allgegenwärtige Witzfigur parat. Das Bild vom „Schulmeisterlein Wutz“ (Jean Paul) wird immer noch gern herangezogen. Die Einstellungen schwanken, ob Lehrerinnen und Lehrer Vorbilder oder Abziehbilder, Zauberer, Besserwisser oder Gurus sind (vgl. dazu: Jos Schnurer, Lehrerbeschimpfung oder Lehrerlob?, www.socialnet.de/materialien/53.php, 3.9.2007; sowie ders.: Mensch Lehrer! In: Pädagogische Rundschau, 6/2019, S. 653ff). In den Sozialwissenschaften hat die Lehrerforschung eine herausgehobene Bedeutung. Der „Lehrerhabitus“, als Merkmal der Professionalisierung des Bildungs- und Erziehungsberufs, muss immer wieder neu befragt und verändert werden (Thorsten Kramer/Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26159.php). So ist es nur logisch, (auch) im Lehrerberuf die Sinnfrage zu stellen (Ralf Lutz, Sinnvergessenheit in der Professionalisierung?, www.socialnet.de/rezensionen/​26075.php), und die individuellen und kollektiven, rationalen und empathischen, fachlichen und interdisziplinären Anforderungen und Werkzeuge im Lehrerberuf zu reflektieren.
Autorenteam
Die Erziehungswissenschaftler und Schulpädagogen von der Universität Bayreuth, Ludwig Haag und Doris Streber, mischen sich mit ihrer Studie „Lehrerpersönlichkeit“ in den durchaus nach wie vor kontroversen Diskurs zum Lehrerberuf ein. Wie werden Lehrerinnen und Lehrer heute ausgebildet? Wie bilden sie sich weiter? Welche Bedeutungen messen sie der Theorie und der Praxis in ihrer beruflichen Tätigkeit bei? Mit welchen individuellen und gesellschaftlichen, sozialen und anthropologischen Herausforderungen müssen sie umgehen? Wie wirken sich die neuen psychologischen und neurobiologischen Kenntnisse auf den Umgang mit den Schülerinnen und Schülern aus? Welchen Stellenwert gewinnen die neuen Technologien? Welche curricularen, didaktischen und methodischen Veränderungen sind zu bewältigen? Der Fokus auf die Bedeutung der „Persönlichkeit“ im Bildungs- und Erziehungsprozess ist deshalb nicht schlecht gelegt. Denn der Blick in das Synonymwörterbuch verdeutlicht die vielfältigen Bezüge und differenzierten Zusammenhänge des Begriffs: Persönlichkeit = Charakter, Eigentümlichkeit, Natur, Wesensart, Naturell; = Erscheinung, Figur, Gestalt, Individualität; = Autorität, Prominenz, VIP.
Entstehungshintergrund
Mit der Schrift stellt das Autorenteam die anspruchsvolle, notwendige Frage nach der „idealen Lehrerbildung“. Das ist in den Zeiten des Momentanismus, des scheinbar Machbaren und des allgegenwärtigen Funktionierens, was sich in den Einstellungen deutlich macht: „Ich will (kann) alles, und das sofort!“ – „Das haben wir schon immer (noch nie) so gemacht!“, wichtig. Es ist deshalb sinnvoll, danach zu fragen, wie der Mensch wird, was er ist. Dabei lohnt es, sich darüber klar zu werden, wie Bildung und Erziehung funktionieren. Der anthrôpos, so lernen wir es schon von Aristoteles, ist ein mit Vernunft ausgestattetes, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes und zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähiges Individuum und Gemeinschaftswesen. Der Mensch wird unfertig geboren und bedarf der Bildung und Erziehung (Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25043.php). Der Mensch als „Weltwesen“ braucht deshalb für die Entwicklung seiner individuellen und globalen Identität Mitmenschen und Mittel zur Erziehung. Lehrerinnen und Lehrer sind dabei wichtige Agenten. Es lohnt, einen Blick auf die von der UNESC0, der Kultur- und Bildungsorganisation der Vereinten Nationen 1974 vorgelegten „Empfehlung über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Frieden in der Welt sowie die Erziehung zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zu richten. Dort wird Erziehung definiert als „Gesamtprozess des sozialen Lebens, innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und ihr Wissen bewusst und bestmöglich zu entfalten“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung und dem Schlusswort gliedern Haag und Streber die Studie „Lehrerpersönlichkeit“ in sieben Kapitel:
- Im ersten wird der Begriff „Persönlichkeit“ thematisiert;
- im zweiten „Lehrervariable als zentrale Instanz für guten Unterricht“ herausgearbeitet;
- im dritten die Frage gestellt: „Wer wird Lehrer?“;
- im vierten werden „Ansätze der Lehrerpersönlichkeit“ diskutiert;
- im fünften geht es um den „Professionsansatz“;
- im sechsten stellt das Autorenteam die heutigen Begriffsverwendungen und den Diskurs zur Lehrerpersönlichkeit vor; und
- im siebten Kapitel werden an zwei Theoriekonzepten Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten beim pädagogischen Handeln verdeutlicht.
Lehrerinnen und Lehrer, egal in welchen Funktionszusammenhängen sie wirken, in der Schule, der Berufsausbildung oder Erwachsenenbildung, sind angewiesen – wie natürlich auch in anderen Berufssparten und Tätigkeiten – dass ihre persönliche, stabile, gefestigte Ich-Identität im Einklang steht mit ihrer Berufsausübung. Das ist erst einmal eine tautologische Feststellung; doch sie wirkt sich in den pädagogischen Berufen in besonderer Weise aus. Es kommt also darauf an, die spezifischen An- und Herausforderungen deutlich zu machen, die zur Entwicklung einer „Lehrerpersönlichkeit“ besonders bedeutsam sind (vgl. z.B. dazu: Margret Dörr, Hrsg., Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26070.php). Auch wenn es fragwürdig ist, ob es Sinn macht und Antworten bietet, bei der Suche und Identifizierung besondere, spezifische Eigenschaften zu skalieren, wird in der Lehrerforschung doch von den „Big Five“ gesprochen: Gewissenhaftigkeit – Verträglichkeit – Extraversion – Offenheit/Veränderungsfähigkeit – Neurotizismus. Weil aber in den Erkenntnisprozessen, den individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen, den Zeitläuften und den kognitiven, aufgeklärten Verläufen beim menschlichen Dasein die „kreativen Aufstiege“ (Hans Lenk) des Menschen wirksamer geworden sind, damit sich auch das Bewusstsein der Wissensvermittlung sich verändert hat – weg vom „Nürnberger Trichter“, hin zur ganzheitlichen, lebenslangen Bildung – hat sich auch die Gewichtung der Verhältnisse vom Educador zum Educandus geändert; so z.B. bei den Fragen nach der „Führung“ und der „Autorität“ im Bildungs- und Erziehungsprozess.
Bei den Reformbestrebungen, bei denen Erziehung und Wissensvermittlung nicht mehr mit dem Rohrstock (vgl. dazu z.B.: „Liebevolle Züchtigung“, Peter Dudek, 2017), sondern mit der Kraft der Motivation und Einsichtskraft vermittelt wird, verschieben sich auch die pädagogischen Begrifflichkeiten, wie etwa „pädagogischer Bezug“ und „pädagogischer Eros“. Es sind die Erkenntnisse, dass pädagogisches Denken und Handeln professionell grundgelegt werden müsse, wie dies z.B. im Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2014 als Standards für die Lehrerbildung formuliert wurde, u.a.: Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen – Die Erziehungsaufgabe in der Schule ist eingebunden in Unterricht und (Schul-)Leben. Die daraus sich entwickelten Herausforderungen stellen sich in Begriffe dar, wie: Pädagogische Beziehung – Ethos – Haltung – Achtsamkeit. Diese neuen (alten) Anforderungen an die Lehrerpersönlichkeit müssen sich in der Lehreraus- und -fortbildung wieder finden. Es sind die Marker, die institutionell gesetzt und individuell und gesellschaftlich verstanden und akzeptiert werden müssen. So lassen sich, in Anlehnung an W. Sachers Frage (1980): „Muss der Lehrer eine Persönlichkeit sein?“, nun doch Hier und Heute einige Forderungen an einen „guten Lehrer“ und eine „gute Lehrerin“ stellen:
- Ein Lehrer, eine Lehrerin muss sich selbst bewegen und verändern; denn nur so ist es möglich, andere zu motivieren zu lernen und aufgeklärt zu sein!
- Ein Lehrer, eine Lehrerin muss autonom, also eigenständig, verantwortlich, emanzipiert und kooperativ sein!
- Ein Lehrer, eine Lehrerin muss die eigene Identität mit der der anderen Menschen, der (Um-)Welt und dem Kosmos in Einklang bringen können!
Fazit
In der institutionalisierten, universitären LehrerInnen-Ausbildung klaffen immer noch Lücken, und es werden Einbahnstraßen planiert; nicht nur dadurch, dass es, entsprechend der bisher nach wie vor ungeklärten und weitgehend unangetasteten Systemfrage des dreigegliederten Schulsystems, verschiedene Lehrämter und damit auch Ausbildungssysteme gibt; sondern auch, dass die pädagogische „realistische Wende“ (Heinrich Roth) nicht konsequent vollzogen und möglicherweise auch missverstanden wird. Es kann nicht darum gehen, die geisteswissenschaftlichen Paradigmen zu entsorgen und an deren Stelle natur- und neurowissenschaftliche Prototypen zu setzen. So könnten die durchaus von Ludwig Haag und Doris Streber überwiegend formulierten geisteswissenschaftlichen Prinzipien zur „Lehrerpersönlichkeit“ eine Brücke sein hin zu einer ganzheitlichen, wissenschaftlichen Pädagogik, in der anthropologische, soziologische, philosophische, psychologische, neurobiologische… Anforderungen an den Lehrerberuf Platz, Aufmerksamkeit haben und vermittelt werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.07.2020 zu:
Ludwig Haag, Doris Streber: Lehrerpersönlichkeit. Die Frage nach dem ´guten Lehrer´, nach der ´guten Lehrerin´. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2020.
ISBN 978-3-7815-2381-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27158.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.
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