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Focus on Quality of Life / Quality of Care

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 02.08.2005

Focus on Quality of Life / Quality of Care. Im Brennpunkt Lebensqualität / Pflegequalität. Demenz Support Stuttgart gGmbH (Stuttgart) 2005. 279 Seiten. ISBN 978-3-937605-04-3. 29,50 EUR.
North Sea Dementia Research Group 5th Annual Meeting, 22. - 24. April 2004.

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Zur Thematik des Buches

Die Demenz vom Alzheimer-Typ als eine klassische Alterskrankheit ist ein globales Phänomen, wie Epidemiologen durch mannigfaltige Untersuchungen immer wieder bestätigen. Je mehr eine Gesellschaft demografisch altert, umso mehr Demenzkranke sind zu verzeichnen. In der Versorgung, Behandlungen und Betreuung dieser Kranken unterscheiden sich jedoch die Nationen gravierend, wie Ländervergleiche zeigen. Während in den 80er Jahren in Deutschland in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe Demenzkranke als "psychisch veränderte" Heimbewohner galten, die möglichst mit geistig nicht beeinträchtigen Bewohnern gemeinsam betreut werden sollten (das so genannte "Integrationskonzept"), ging man in anderen Ländern bereits andere Wege. Besonders Schweden, die Niederlande, Großbritannien und auch die USA versuchten demenzspezifische Versorgungs- und Milieustrukturen in und auch außerhalb der Heime zu errichten. Die Erkenntnisse und Erfahrungen drangen dann in den 90er Jahren peu à peu auf dem Wege von Fachtagungen, Publikationen und auch Hospitationen nach Deutschland, wo sie eingehend rezipiert wurden.

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um die Dokumentation einer Tagung der so genannten "North Sea Dementia Reserach Group", die im April 2004 in Ostfildern-Ruit bei Stuttgart stattgefunden hat. Hierbei handelt es sich um den losen Verbund von Demenzberatungszentren verschiedener Länder (u. a. Schweden, Norwegen, Dänemark, England, Schottland, Frankreich, die Niederlande, Luxemburg und Deutschland), die sich seit dem Jahre 2000 einmal jährlich zu einem Erfahrungsaustausch treffen. Das erste Beratungszentrum dieser Art wurde bereits 1989 an der Universität Stirling in Schottland gegründet.

Inhalt

Vorab gilt es darauf hinzuweisen, dass die Dokumentation in Englisch und Deutsch (linksseitig der englische Text der Tagung und rechtsseitig die deutsche Übersetzung) abgefasst ist.

Die Dokumentation ist in zwei Abschnitte unterteilt. Abschnitt 1 (Ein Ziel, verschiedene Strategien: Zentren für die Entwicklung der Demenzpflege in Europa) besteht aus zwei Kapiteln.

  1. In Kapitel 1.1 (Unterschiedliche Länder, vielfältige Ansätze) werden Berichte aus Schottland, Schweden, den Niederlanden und Frankreich zu aktuellen Entwicklung in der Demenzforschung und Entwicklung der Versorgungsstrukturen gegeben: die Bibliothek der schottischen Beratungsstelle mitsamt ihrem Informationsservice, eine kurze Darstellung der schwedischen Institutionen an den Universitäten Linköping und Stockholm, die Strukturen und Aufgaben des Alzheimerzentrums in Limburg (NL) und Ausführungen über eine 1999 gegründete Stiftung (Fondation Médéric Alzheimer) in Frankreich mit dem Ziel der Gewinnung und Verbreitung von einschlägigen Erkenntnissen an die verschiedenen Berufsgruppen und pflegenden Angehörigen.
  2. Kapitel 1.2 (Besondere Kontexte - relevante Aspekte: Forschungsaktivitäten in verschiedenen Zentren) enthält Beiträge aus England, Norwegen und Litauen. Aus England wird kritisch über die Entlassungsmodalitäten aus dem Krankenhaus mit den damit verbundenen Geldbußen bei zeitlichen Verzögerungen berichtet. Es handelt sich hierbei um ein Konzept, das aus Schweden mit teils anderen Versorgungsstrukturen übernommen wurde mit dem Ziel, Fehlbelegungen und die damit verbundenen Mehrkosten im Krankenhaus zu vermeiden. Aus Norwegen und Litauen wird eine Studie über die Prävalenz klinischer Demenzsymptome in Pflegeheimen und Altenheimen beider Länder vorgestellt. Des Weiteren wird ein Forschungsvorhaben aus Norwegen über die verdeckte Arzneimittelgaben in Nahrung und Getränke erläutert mit dem Ziel, diesen Sachverhalt europaweit untersuchen zu wollen.

Abschnitt 2 (Zur Lebens- und Pflegequalität für Menschen mit Demenz) gliedert sich in fünf Kapitel.

  1. Kapitel 2.1 (Problemanalyse) enthält einen Beitrag von Christian Müller-Hergl über spezifische Aspekte der Demenzpflege ("Aus der Sicht des Subjektiven"), wobei er besonders auf die "Beziehungs- und Kontaktarbeit" als den entscheidenden "Problemkreis der Demenzpflege" (Seite 121) eingeht.
  2. In Kapitel 2.2 (Untersuchungsmethoden) werden Beiträge über das DCM (Dementia Care Mapping) aus England (DCM - die nächste Generation) und Dänemark (DCM in der ambulanten häuslichen Betreuung) nebst einem Beitrag aus der Schweiz über Erfassungsmodalitäten des Wohlbefindens Demenzkranker in Pflegeheimen vorgestellt.
  3. Kapitel 2.3 (Interventionen und Untersuchungen) besteht aus zwei Erhebungen aus Deutschland (Projekt "Einführung milieutherapeutisch orientierter Demenzwohngruppen im stationären Bereich" - MIDEMAS) mit den Schwerpunkten Verbesserung der Lebensqualität und Auswirkungen der Architektur (mit Farbfotos und Grundrissen zur Veranschaulichung), eine Studie über Belastungen von Pflegekräften in der Demenzpflege aus Schweden und ein Modell zur Verbesserung der Dienstleistungen für Demenzkranke ("Dementia Services Kollaborative") aus England.
  4. Kapitel 2.4 (Bildung und Fortbildung als Verbesserungsweg) enthält drei Beiträge aus Schottland (Bildung und Ausbildung im Kulturwandel), England (eLearning als Perspektive demenzspezifischer Bildung) und Luxemburg (kollektive Prägungsgeschichte in der Altenpflege).
  5. Im abschließenden Kapitel 2.5 (Zur Diskussion gestellt) werden aus den Niederlanden Fragen über die zukünftige Entwicklung der Demenzversorgung angesichts der wachsenden demografischen Alterung gestellt, wobei u. a. auch die so genannte "Euthanasiepille" (Seite 273) angeführt wird.

Kritische Würdigung

Der vorliegende Tagungsband hinterlässt aus folgenden Gründen einen äußerst zwiespältigen Eindruck beim Rezensenten:

  • Die Inhalte sind ideologisch auf den Ansatz von Tom Kitwood und Erwin Böhm (Luxemburg) ausgerichtet. Bereits in der Einführung wird auf die Modifizierung der "naturwissenschaftlich-technische(n) Sichtweise" durch das "soziale" Modell der Demenz verwiesen (Seite 15). Weiter hinten werden regelrecht "Strategien zur Verwirklichung des Kulturwandels" in Richtung auf die "neue Kultur" gemäß Kitwood entwickelt, die u. a. neben "öffentlichen Informationskampagnen" auch die "Bereitstellung einer gemeinsamen, alternativen Sprache für Praktiker und Experten" vorsieht (Seite 247). Hier geht es somit nicht um den fachlichen Austausch mit dem Ziel, möglichst von den Erfahrungen und Erkenntnissen anderer aus diesem Bereich zu lernen. Es geht nicht um die fachliche Erweiterung des eigenen Horizontes oder vielleicht die Revision des bisherigen Handelns, es geht hier um den "Kampf der Pflegekulturen" (Seite 187).
  • Die Inhalte und Themen einzelner Beiträge bieten für die Weiterentwicklung der Demenzpflege in Deutschland wenig neue Anregungen. Der Bücheretat einer schottischen Beratungsstelle, die Namen der Vorstandsmitglieder eines niederländischen Alzheimerzentrums und der Anteil der Demenzkranken in einem Altenheim in Litauen mögen lokal von Bedeutung sein, Impulse für die Demenzpflege allgemein enthalten sie recht wenig.
  • Thesen wie die Forderung nach der "Euthanasiepille" oder der Anwerbung von "eine(r) Million chinesischer Krankenschwestern" zur Lösung des wachsenden Pflegeaufwandes im Bereich der Demenzpflege (Seite 273) mögen provokant klingen, lassen jedoch eine ernsthafte und verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema Demenzversorgung vermissen.

Fazit

Die Veröffentlichung ist in ihrer Intention schwer einzuschätzen. Handelt es sich um bloße Erbauungsliteratur einer dogmatischen Sichtweise oder ist der Tagungsband Ausdruck neuer Entwicklungen jenseits von Wissenschaft und praktischer Erfahrung? Es kann nur konstatiert werden, dass von der "North Sea Dementia Research Group" keine neuen Perspektiven für die Demenzversorgung in Deutschland ausgehen.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Es gibt 224 Rezensionen von Sven Lind.

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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 02.08.2005 zu: Focus on Quality of Life / Quality of Care. Im Brennpunkt Lebensqualität / Pflegequalität. Demenz Support Stuttgart gGmbH (Stuttgart) 2005. ISBN 978-3-937605-04-3. North Sea Dementia Research Group 5th Annual Meeting, 22. - 24. April 2004. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2716.php, Datum des Zugriffs 05.10.2023.


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