Sonja Werner: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten
Rezensiert von Dr. Klemens Ketelhut, 09.10.2020
Sonja Werner: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten. Analyse der Aufdeckungsstrukturen und Handlungsbedarfe in der Schule : Befragung von Lehrkräften der weiterführenden Schulen in Berlin.
Hochschulverlag Merseburg
(Merseburg) 2020.
252 Seiten.
ISBN 978-3-948058-26-5.
Reihe: Sexualwissenschaftliche Schriften - Band 9.
Thema
Das Thema des Bandes ist die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt im schulischen Kontext. Ausgangspunkt der Arbeit ist dabei die Feststellung fehlender Auffang- und Schutzstrukturen für sexuelle Gewalt sowie die unzureichende Vorbereitung von Lehrkräften im Rahmen von Aus- und Weiterbildung. Die Studie legt ihren empirischen Schwerpunkt auf die Situation an Berliner Schulen und will daraus abgeleitet Handlungsempfehlungen geben.
Autorin
Sonja Werner studierte Soziologie sowie Prävention und Gesundheitsförderung und arbeitet als Sexualpädagogin in Berlin.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungskontext der Studie, die die Masterarbeit der Autorin darstellt, ist das vom BMBF geförderte Projekt „Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung“, das an der Hochschule Merseburg angesiedelt ist. Sexualisierte Gewalt soll hierbei aus einer intersektionalen Perspektive verstanden werden. Ein zentrales Ziel ist es, neben der Initiierung weitergehender Forschungszugänge, Bedarfe für Fort- und Weiterbildung und die Entwicklung entsprechender Angebote für die jeweiligen Angebotsstrukturen zu entwickeln.
Aufbau und Inhalt
Zentrales Anliegen der Arbeit ist es, Handlungsempfehlungen hinsichtlich sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten aus einer gesundheitspädagogischen Perspektive zu entwickeln. Dazu werden, neben theoretischen Zugängen, empirische Ergebnisse genutzt. Hierzu arbeitet Sonja Werner mit problemzentrierten, leitfadengestützten Interviews. Sechs dieser Interviews entstammen dem o.g. Projekt, sechs weitere hat sie selbst mit Lehrkräften Berliner Schulen (Unterrichtende ab der Klassenstufe sieben) durchgeführt. Ausgewertet wurden sie mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring.
Als Prämisse werden für den Kontext Schule Mangelstrukturen hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der Lehrkräfte im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt angenommen, die, unter Berücksichtigung aktueller Forschungsstände, zu vier Fragestellungen führt (S. 11). Gefragt werden soll danach,
- (i) welche Motivationsstrukturen Lehrkräfte haben, sich mit sexualisierter Gewalt und dem Umgang damit im Kontext Schule zu befassen,
- (ii) welche Rolle das Vertrauensverhältnis zwischen Schüler*innen und Lehrkräften dabei spielt,
- (iii) welche Aufdeckungssituationen und -strukturen sexualisierter Gewalt im schulischen Alltag identifiziert werden können und
- (iv) wie Verbesserungen implementiert werden können.
Als Ergebnisse aus der theoretischen und empirischen Arbeit werden folgende Punkte festgehalten:
- Lehrkräfte erleben sich und ihre Arbeit als hochgradig belastet. Situationen, in denen sexualisierte Gewalt vorlag, werden als überfordernd und in der Schüler*innen-Lehrer*innen-Beziehung nicht bearbeitbar wahrgenommen.
- Die befragten Lehrer*innen beschreiben, dass es ihnen an konkreten Handlungsempfehlungen und einer Auseinandersetzung mit der Thematik der sexuellen Gewalt im Kontext Schule mangelt.
- Es fehlen an allen in den Blick genommenen Schulen ein Schutzkonzept und niedrigschwellige Beschwerdesysteme. (S. 12)
Aus diesen Ergebnissen leitet die Autorin dann unter anderem folgende Handlungsempfehlungen ab:
- Entwicklung eines an der Stärkung der sexuellen Selbstbestimmung von Schüler*innen orientierten Konzeptes der sexuellen Bildung,
- Beseitigung der strukturellen Mängel und Defizite an Schulen,
- Reflexion der unterschiedlichen Rollen von Lehrkräften, hier mit einem Schwerpunkt auf den Konflikt zwischen der Rolle der Lehrperson und der Rolle der Vertrauensperson – inklusive einer Erarbeitung von entsprechenden Handlungsrichtlinien und
- Bereitstellung und Vermittlung eines Handlungstools, das für Situationen sexualisierter Gewalt Hilfestellungen anbietet.
Diese Handlungsempfehlungen werden am Ende der Arbeit ausführlich und exemplarisch vorgestellt, sodass das Buch neben der Forschungsarbeit und der Interpretation der Ergebnisse der Interviews auch den Charakter einer Praxishilfe aufweist.
Diskussion
Das vorliegende Buch ist die Publikation einer Masterarbeit, etwas, das dem Text anzumerken ist. Insgesamt ist es sehr wünschenswert, dass Abschlussarbeiten, wenn sie wie im vorliegenden Fall neue Erkenntnisse zeitigen, publiziert werden. Allerdings wäre es in diesem Fall zumindest bedenkenswert, bestimmte Teile redaktionell dem potentiell avisierten Zielpublikum anzupassen. Eine grundsätzliche Diskussion der Reichweite qualitativer Forschung ist für ein Examen bedeutsam, in der hier vorliegenden Publikation wirkt sie eher additiv und leistet keinen nennenswerten Beitrag zum eigentlichen Argument und den – sehr hilfreichen – Praxisempfehlungen. Ähnliches gilt für die Länge der Interviewauswertungen, hier wäre eine komprimierte und fokussierte Version vollkommend ausreichend gewesen.
Ein systematisches Problem erscheint in der Perspektive von Schule, die als „Raum, in dem ihre Klientel in einem geschützten Umfeld lernen und sich entfalten können soll“ (S. 21) angenommen wird. Dieser Zugang ist zweifelsohne einleuchtend, blendet aber in seiner Engführung die gesellschaftliche Verfasstheit von Schule durch die im Text vorgenommene Perspektivierung als Schutzraum aus. Hier wäre es – gerade hinsichtlich der Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt – sinnvoller, auch gesellschaftliche Funktionen von Schule wie Qualifikation und die limitierte Vergabe von Bildungspatenten und daraus resultierende konkurrenzielle Strukturen in die Analyse einzubeziehen. So gewonnene Erkenntnisse verwiesen auf die erheblichen Machstrukturen, die in der Schule vorhanden sind und könnten einen wichtigen Beitrag für die entwickelten Praxiszugänge leisten, beispielsweise in der vorgestellten Forderung nach einer Rollenreflexion von Lehrkräften, die als Teil einer Lehrer*innenprofessionalität eine weiterreichende Debatte hinsichtlich der notwendigen Veränderungen im Kontext der Aus- und Weiterbildung ermöglichen würde.
Die Stärke des Buches liegt in seiner detaillierten Vorstellung von Handlungsoptionen und der Strukturierung möglicher Weiterbildungsangeboten. Das Thema der sexuellen Gewalt wird sichtbar und besprechbar gemacht und es werden mögliche Zugänge zum Umgang damit beschrieben, was einen ausgesprochen wichtigen Beitrag – auch zum Themenfeld der sexuellen Bildung allgemein – darstellt.
Fazit
Sonja Werners Arbeit entwickelt einen Zugang zum Umgang mit sexueller Gewalt im Kontext von Schule. Dazu entwickelt sie Vorschläge für die praktische pädagogische Arbeit, deren Grundlage empirisch durch Interviews mit Lehrkräften entwickelt wird. Auch wenn der gewählte systematische bzw. schultheoretische Zugang bisweilen etwas zu pragmatisch angelegt und damit enggeführt wird, erlaubt die Studie zum einen wichtige Einblicke in das Erleben von Lehrkräften, zum anderen vermittelt sie detaillierte und durchdachte Handlungsoptionen.
Rezension von
Dr. Klemens Ketelhut
Geschäftsführer des Annelie-Wellensiek-Zentrums für Inklusive Bildung, Pädagogische Hochschule Heidelberg
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Zitiervorschlag
Klemens Ketelhut. Rezension vom 09.10.2020 zu:
Sonja Werner: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten. Analyse der Aufdeckungsstrukturen und Handlungsbedarfe in der Schule : Befragung von Lehrkräften der weiterführenden Schulen in Berlin. Hochschulverlag Merseburg
(Merseburg) 2020.
ISBN 978-3-948058-26-5.
Reihe: Sexualwissenschaftliche Schriften - Band 9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27163.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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