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Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen

Rezensiert von Alexander Krahmer, 09.04.2021

Cover Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen ISBN 978-3-351-03811-3

Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen. Aufbau-Verlag (Berlin) 2020. 356 Seiten. ISBN 978-3-351-03811-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.

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Thema

Bei „Die Gesellschaft der Anderen“ handelt es sich eigentlich um ein Gespräch, das die Sozialwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Naika Foroutan gemeinsam mit der Schriftstellerin und bekannten Journalistin Jana Hensel führte. Der im Buch in acht Kapitel unterteilte Dialog führt die Autorinnen zu so verschiedenen Themen wie Rassismus und Revolution, zur deutschen Wiedervereinigung, dem politischen Rechtsruck der letzten Jahre und zu Parallelen in ihren Biographien. Stellvertretend und zugleich verbindend steht darüber der Titel des Bandes, der auf die Erfahrung des Andersseins und v.a. auf das „Zum-Anderen-gemacht-Werden“ verweist, das hier aus der Nähe, d.h. an den Lebensrealitäten zweier deutscher Minderheiten, von Ostdeutschen und Migrant*innen, betrachtet wird. Deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden dabei von einem analytischen wie engagierten Blick untersucht, der die ebenso zentrale Rolle der Mehrheitsgesellschaft nie aus den Augen lässt.

Autorinnen und Entstehungshintergrund

In der Forschung und öffentlichen Diskussion über Migration und Ostdeutschland sind die beiden Autorinnen längst keine Unbekannten mehr. Naika Foroutan, 1971 im Boppard (Rheinland-Pfalz) geboren, verbrachte große Teile ihrer Jugend im Iran, bevor die Familie 1983 in Deutschland Schutz suchen musste. Nach ihrem Studium der Romanistik, Politik- und Islamwissenschaften promovierte sie 2004 bei Bassam Tibi zur Frage der „Kulturdialoge“ zwischen „dem Westen und der islamischen Welt“. Im Jahr 2009 kam sie an die Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie später die Professur für „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“ übernehmen sollte. Im selben Jahr bereits sorgte sie als eine der ersten Wissenschaftler*innen für Aufsehen, die den migrationsfeindlichen Thesen des damaligen SPD-Politikers und Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin widersprach. Außer ihrer Professur (ab 2015) hat N. Foroutan seit 2018 die Leitung des BIM (Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung) inne und steht seit 2017 dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) vor. Zu ihren bekanntesten Veröffentlichungen zählen „Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie“ (Transcript 2019), sowie die mit KollegInnen des DeZIM gemeinsam veröffentlichte Studie „Ost-migrantische Analogien I“ [1].

Die mehrfache und preisgekrönte Buchautorin und Journalistin Jana Hensel, die u.a. für Die Welt, Den Spiegel, Die Zeit und Zeit-Online schrieb (und schreibt), wurde 1976 in einer sächsischen Kleinstadt geboren, verbrachte aber große Teile ihre Kindheit in Leipzig. Hier erlebte sie auch ihr im Buch geschildertes ostdeutsches Erwachen, das sich eng mit den unmittelbaren Erfahrungen der Friedlichen Revolution in der DDR verbindet. Im Jahr 2002 veröffentlichte sie den autobiographischen Band „Zonenkinder“ (Rowohlt 2002), der sich diesen und anderen Erfahrungen der Nachwendezeit aus der Sicht von Heranwachsenden mit DDR-Biographie widmet. Das Buch stand monatelang auf den Bestsellerlisten und erfuhr u.a. durch Angela Merkel eine lobende Rezension. Auch in ihren folgenden Büchern sowie unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln setzte sich J. Hensel immer wieder mit der Vergangenheit und dem Erlebten der DDR- und Nachwendezeit aus ost- wie westdeutscher Perspektive auseinander. Bekannt wurde u.a. der 2018 gemeinsam mit Wolfgang Engler herausgegebene Band „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ (Aufbau-Verlag 2018).

Darüber, wie sich die Autorinnen begegneten und kennenlernten geben sie gleichfalls im Buch Auskunft (bes. 99ff). Ursprünglich war der Anlass dafür die Ankündigung jener Studie, worin das DeZIM Analogien der Lebenserfahrungen von Migrant*innen und Ostdeutschen untersuchen sollte. Vor diesem Hintergrund entwickelten die Autorinnen erstmals ein tieferes Interesse für die Arbeiten der jeweils anderen. Darüber hinaus bildeten zwei politische Ereignisse im Februar 2020 den Ausgangspunkt des Gesprächs: Der rassistische Anschlag in Hanau (Hessen), worin neun Menschen mit Migrationsbiographie ermordet wurden, und die erste Wahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD (in Thüringen). Beides begreifen sie als „Weckruf“ für eine Gesellschaft, die sich zwar zunehmend diversifiziert und zu öffnen beginnt, aber gleichzeitig einen deutlichen Drift nach Rechts zu erkennen gibt. Vor diesem Hintergrund möchte „Die Gesellschaft der Anderen“ nicht nur die Situation beider Minderheiten vergleichen, sondern versteht sich ebenfalls als Plädoyer für mehr Offenheit, Gleichheit und für die nun notwendigen Schritte, damit Deutschland tatsächlich eine offene und gerechte Gesellschaft wird.

Aufbau und Inhalt

Wie erwähnt, handelt es sich bei dem Buch um ein Gespräch, das die Autorinnen vermutlich im Frühjahr 2020 begonnen haben. Schwerpunkte sind die jüngere deutsche Einwanderungsgeschichte, die Kontinuität von Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung sowie die anhaltenden Folgewirkungen der Wiedervereinigung für Ostdeutsche und auch Migrant*innen. Diverse Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Gruppen werden im Laufe des Bandes herausgearbeitet und gemeinsam diskutiert. Parallel dazu erhält man Einblicke in theoretische Konzepte sowie in verschiedene gesellschaftliche Debatten, z.B. um Identitätspolitik und aktuelle Verteilungskonflikte. Im Folgenden möchte ich anhand der Kapitelstruktur in die zentralen Gedanken der Autorinnen einführen, aber auch auf Differenzen aufmerksam machen.

1. Das Jahr 2020 – Über den Anschlag von Hanau und wie die AfD in Thüringen kurzzeitig einen Ministerpräsidenten ins Amt brachte

Das erste Kapitel setzt mit einer Zeitdiagnose ein. Dazu begeben sich die Autorinnen zunächst, anhand von Parallelen zwischen besagten rassistischen Anschlag in Hanau und der Wahl eines Thüringischen Ministerpräsidenten mithilfe der AFD, auf die Suche nach der allgemeinen Stimmungslage in der deutschen Gesellschaft. N. Foroutan weist allerdings gleich zu Anfang auf die lange Kontinuität rassistischer Anschläge und Anfeindungen in Deutschland hin. Dennoch betonen beide Autorinnen einstimmig, dass jene Ereignisse veritable Schockmomente darstellten – auch für Teile der Mehrheitsgesellschaft (27). Ereigneten sich schon zuvor rechtsextrem motivierte Attentate (z.B. 2019 in Halle) und war der Rechtsruck schon des Längeren sichtbar, bedeutete dieser rassistische Anschlag mit vielen Opfern mit Migrationsbiographie, begangen in einer westdeutschen Kleinstadt, durch einen westdeutschen Täter, dennoch eine gewisse Zäsur. Ähnliches muss für die Wahl Thomas Kemmerichs zum thüringischen Ministerpräsidenten gelten. Ein Ergebnis, das nicht zuletzt die Bundes-CDU erschütterte. Beide Male handelt es sich somit um Ereignisse von gesamtdeutscher Tragweite. Für N. Foroutan verbindet sich mit dieser Diagnose aber dennoch die Hoffnung auf einen deutlichen Wandel der Gesellschaft und eine zukünftig stärkere Berücksichtigung migrantischer Interessen. J. Hensel zeigt sich hier freilich deutlich pessimistischer und bezweifelt sogar, dass sich „der Erkenntnisprozess so tief und nachhaltig“ auswirken wird (37).

2. Die Gesellschaft der Anderen – Warum sich unser Buch an die Mehrheitsgesellschaft richtet

Einen Grund für jenen Zweifel machen die Autorinnen im Anschluss v.a. an der Rolle der „Mehrheitsgesellschaft“ fest. Als „mächtigster Player“ (81) tritt sie den Minderheiten in der Regel in Form der „Dominanzkultur“ entgegen, welche über die wesentlichen Ressourcen, Positionen und damit auch die Deutungsmacht in der Gesellschaft verfügt. Minderheiten kann sie daher leicht die Rolle von „Anderen“ zuweisen, die durch Stigmata und Vorurteile (z.B. von faulen oder unbelehrbaren Ostdeutschen/​Migrant*innen) auf Distanz und also in Schach gehalten werden. Sie bestimmt weitgehend über die vorherrschenden Normen, Werte und die eigene Tradition (Stichwort: Leitkultur), während die „Anderen“ die Defizite („Demokratieunfähigkeit“) bzw. Devianz (islamistische Muslime, rechtsextreme Ostdeutsche), verkörpern. Es ist in diesem Zusammenhang, dass jenes „Zum-Anderen-gemacht-Werden“ (49, 55f) seine ganze Macht entfaltet. Gleichzeitig verfügt nur die Dominanzkultur über das Privileg kulturelle und strukturelle Benachteiligungen von Minderheiten ignorieren bzw. deren Eigenheiten oder Traditionen „missverstehen“ zu können (79).

Diskutieren die Autorinnen hier v.a. diese Mechanismen der Veranderung (Othering), fragen sie im Anschluss doch auch nach Chancen möglicher „Allianzen“, d.h. nach Zweckbündnissen zwischen den Minderheiten selbst bzw. zu Teilen der Mehrheitsgesellschaft. N. Foroutan schätzt Letzteres als „strategische Kombination“ (82) für sinnvoll ein, zumal die Grenzen zwischen Mehr- und Minderheitsgruppen in Wahrheit ohnehin nicht fix, sondern flexibel sind. Dagegen betont J. Hensel, dass derartige Allianzen stets auf Augenhöhe geschlossen werden sollten. In diesem Sinne plädiert sie für eine ostdeutsche Identitätspolitik und schlägt vor, im Umgang mit der westdeutsch-dominierten Politik und Kultur einen konfrontativeren Kurs zu fahren (vgl. 218).

3. Ost-migrantische Analogien – Warum man Migranten und Ostdeutsche miteinander vergleichen muss

Im Anschluss daran diskutiert und kontextualisiert das dritte Kapitel die erwähnte Untersuchung N. Foroutans und einiger Kolleg*innen am DeZIM. Die Studie wies 2018 auf verschiedene Parallelen in den Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung zwischen Ostdeutschen und Migrant*innen hin, wobei die Autorinnen hier v.a. auf Kritik an der Untersuchung eingehen. N. Foroutan gibt das die Gelegenheit, die Bedeutung der „Analogie“ zu unterstreichen, die eben keine Gleichsetzung der Minderheiten bedeutet (was eine häufige Kritik war). Außerdem führt sie aus, dass sie die Migrationsforschung und die Postcolonial-Studies zu jener Vergleichsperspektive angeregt haben (106): Beide Gruppen teilen Parallelen in ihren Aufstiegs- und Abwertungsdynamiken. Neben den erwähnten Stereotypen und „Defiziten“ betreffen sie auch die Erfahrung eines „verlorenen Landes“, was „bei Ostdeutschen ähnliche Prozesse in Gang setzt wie bei Migranten“ (99). Aufschlussreich ist an dieser Stelle auch, dass es in beiden Fällen im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft nicht nur um strukturelle, sondern gleichermaßen um gefühlte Ungleichheitengeht: Ostdeutsche wie Migrant*innen sehen sich normativ herabgesetzt und begreifen sich als kulturell abgewertet, etwa weil vergangene Leistungen wenig zählen oder soziale Benachteiligungen nicht anerkannt bzw. nicht entschlossen genug korrigiert werden (123). Das von N. Foroutan in „Die postmigrantische Gesellschaft“(Transcript 2019) ausführlich behandelte „Versprechen der Gleichheit“ führe somit auch bei Teilen der ostdeutschen Minderheit zum Aufbegehren und zur Forderung nach Gleichbehandlung und mehr Teilhabe. – Ein Protest, der im Osten freilich von Pegida und AfD in eine „regressive Revolte“ verwandelt werde (126f). Dabei nutzen diese Organisationen in durchaus perfider Weise den Demokratieverdruss, die Wut und Enttäuschung der Ostdeutschen und lenken sie gemeinsam mit vorhandenen Ressentiments auf Migrant*innen (ebd.).

Wurde gegen die DeZIM-Studie auch der Vorwurf der Verharmlosung des ostdeutschen Rassismusproblems erhoben, zeigt sich hier, dass sich die Autorinnen durchaus der Konflikte zwischen den Minderheiten bewusst sind (128). Ohne sie beschönigen zu wollen, heben sie hier dennoch stärker auf die Wirksamkeit einer westdeutsch dominierten „Diskurslogik“ (109) ab, welche „den Osten“ allzu gern als „Sonderfall“ behandelt. Ihr entgegen laden sie deshalb zu einem „Perspektivwechsel“ ein, der auf die oft übersehenen Machtmechanismen im Mehrheitsdiskurs aufmerksam machen will (115f).

4. Die Neunziger – Über den langen Weg ins Jahr 2015

Für Ostdeutschland, so J. Hensel, markiert dieses Jahr den „entscheidenden Einschnitt“ (137) und führte die 1990 beginnende Nachwendezeit „überraschend an ihr Ende“ (139). Doch auch für Migrant*innen stellte jenes Jahr einen Rückschritt, ja eine „Bremse“ dar (171). Grund dafür waren v.a. die besagten Mobilisierungserfolge der Rechten, die schon vor der sogenannten Flüchtlingskrise begannen. Für Ostdeutschland verbinden sich damit unmittelbar Erinnerungen an die Antimigrationsdemonstrationen der Nachwendezeit, etwa an die gewaltsamen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen. Fand darin „die sprichwörtliche Entwertung von DDR-Biographien“ ihren symbolischen Ausdruck, so handelte es sich bei den rechtspopulistischen und rechtsextremen Protesten von 2015 für J. Hensel um eine vergleichbare „Entwertung der ostdeutschen Biographien“ (143). Entgegen dieser Darstellung erinnert N. Foroutan jedoch an die auch im Westen stattfindenden Übergriffe, z.B. in Solingen und Mölln. Während die Bilder aus Rostock oder Hoyerswerda das Stereotyp des devianten Ostens zu bestätigen scheinen (141), machen jene Beispiele vielmehr auf die gesamtdeutsche Kontinuität von Rassismus und Diskriminierung aufmerksam (148). Vor allem darin und nicht so sehr in Folgen der „Wende“, so N. Foroutan, seien auch die Ursachen dafür zu suchen, dass Migrant*innen in Deutschland lange Zeit Anerkennung und Teilhabe verwehrt wurde. So weigerten sich westdeutsche Politiker vor wie nach der „Wende“ die Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen (147f). In diesem Zusammenhang ist auch nicht uninteressant, dass die Zustimmung zu rassistischen Einstellungen im Osten bis 1998 deutlich hinter jener in Westdeutschland lag (144).

Ein „Paradigmenwandel“ deutete sich hier erst ab Mitte der 2000er Jahre an, als Migrant*innen zunehmend mehr Anerkennung erfuhren (z.B. durch das deutsche Zuwanderungsgesetz von 2005 sowie den Integrationsgipfel bzw. die Islamkonferenz 2006), aber auch zusätzliche Rechte erhielten (vgl. 166ff). Aus jener Zeit stammt auch das Wort der „Willkommenskultur“, das damals v.a. Zeichen gegen die verbreitete „Abwehrkultur“ sein wollte. Spätestens 2010 begann sich das jedoch schon wieder zu verändern, als nicht zuletzt „rechte Eliten“ wie T. Sarrazin begannen mit „antimuslimischen Narrativen“ (159) Ängste zu schüren, aber auch das Gefühl einer angeblichen Bedrohung durch Zuwanderung (160).

An dieser Stelle wird auch eine weitere Meinungsverschiedenheit zwischen den Autorinnen deutlich, die sich an der Frage nach den Ursachen für die rechtsextremen Ausschreitungen in den 1990er Jahren entzündet. Sieht N. Foroutan auch in Rostock-Lichtenhagen v.a. die Wirksamkeit offen-rassistischer, entmenschlichender Einstellungen und Ideologien am Werk, macht J. Hensel hierfür stärker das Bedingungsgeflecht einer strukturellen Ausnahmesituation in Ostdeutschland verantwortlich (mit hoher Arbeits- und Perspektivlosigkeit, mit Armut und bleibender sozialer Unsicherheit; 139, vgl. auch 240ff).

5. In der neuen Hauptstadt – Warum wir in Berlin ostdeutsch und migrantisch wurden

Anhand verschiedener Selbstbesinnungs- und Bewusstwerdungsprozesse der ostdeutschen und der migrantischen Minderheit (z.B. in Film und Fernsehen) vertiefen die Autorinnen im Folgenden ihre Beobachtung, dass die Mehrheitsgesellschaft stets die gleichzeitige Emanzipation beider Gruppen verhinderte (230). Ende der Neunziger etwa setzte im Osten eine Rückbesinnung auf das DDR-Erbe ein, welche sich auch gegen die eigene Abwertung aus westdeutscher Perspektive richtete. Die „Dominanzkultur“ (s.o.) beharrte aber dennoch auf dem Bild vom devianten Osten (180), was später auch an Kritiken gegen die (besonders im Osten starken) Hartz IV-Demonstrationen deutlich wurde (183f). Unterdessen hatte sich aber auch die Einsicht der politischen Wichtigkeit von Wahlentscheidungen der Ostdeutschen durchgesetzt. Eine Erkenntnis, von der jedoch lange Zeit nur die PDS (bzw. Die Linke) und später die AfD (unter anderen politischen Vorzeichen) profitieren sollten.

Währenddessen gab es bei den Migrant*innen im Westen Deutschlands Ende der 1990er Jahre stärker den Wunsch nach Assimilation und „De-Kategorisierung“ (192), d.h. gerade nicht als Migrant*innen gelesen zu werden, so N. Foroutan. Die Bedingungen dafür änderten sich freilich schlagartig mit 9/11, wonach Muslime und Muslima überall „zu einer identitären Positionierung getrieben [wurden]“ (193). Ergriff die Identitätspolitik zeitlich versetzt beide Minderheiten, gehört zur Wahrheit freilich auch dazu, dass Ausgrenzungsprozesse gegen Migrant*innen eine Weile lang als „gemeinsamer Kitt“ zwischen Ost- und Westdeutschen wirken konnten (195).

Selbst als „Anerkennungs- und Respektpolitik“ verstanden (198) verbindet sich freilich mit Identitätspolitik ein gewisses Dilemma: So verstärkt die Betonung des „Eigenen“ (Ostdeutsch-Sein, Migrantisch-Sein) natürlich unweigerlich die Wahrnehmung von Differenz, statt nur Gleichheit oder den Wunsch nach Gleichbehandlung zu stützen. An dieser Stelle zeigt sich ein zentraler Konflikt zwischen den Autorinnen. Er resultiert daraus, dass sie die ableitbaren Konsequenzen unterschiedlich gewichten. So betont N. Foroutan sicher zu Recht, dass die ostdeutsche Geschichte natürlich nicht nur von Ostdeutschen (z.B. in Film und Literatur) berichtet werden kann (205). Dagegen hält J. Hensel jedoch mit Bestimmtheit daran fest, dass hier „das Verhältnis“ nach wie vor nicht stimmte(212): Jene Geschichte werde eben v.a. von Westdeutschen erzählt.

6. 20 Jahre Wiedervereinigung – Über die Frage, wann Emanzipation beginnen kann

Dort, wo im vorherigem Kapitel die Ungleichzeitigkeit emanzipativer Entwicklungen herausgearbeitet wurde, nimmt dieses Kapitel den Faden nun wieder auf und führt ihn mit der Beobachtung fort, dass auf emanzipative Fortschritte häufig eine Reaktion der Mehrheitsgesellschaft folgt, die sich dagegen zur Wehr setzt. Für J. Hensel stellt hier auch der NSU-Prozess (2013-2018) ein Beispiel dar (221ff): Statt einen Prozess der ostdeutschen Selbstverständigung anzustoßen, fand jener in München (in einer westdeutschen Metropole) statt und es schien geradezu so, als würde dort, unter Ausschluss der ostdeutschen Perspektive (bei Jurist*innen und unter den Berichterstatter*innen) über „den Osten“ geurteilt. Dabei ging es doch eigentlich auch um das Versagen westdeutscher Institutionen. N. Foroutan stößt auf die „Parallelität von Entwicklung und Widerstand“ (232f) zu Beginn der 2000er Jahre. Nachdem damals die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts quasi auf den Weg geschickt war, setzte eine Debatte um die deutsche „Leitkultur“ ein und deutliche „Abwehrprozesse“ vonseiten der Mehrheitsgesellschaft. An diesem „dialektischen Kontinuum“ (254) wird freilich einmal mehr die Asymmetrie beider Minderheiten deutlich: Nicht nur „1989/1990 war für die migrantische Frage eine harte Bremse“ (237), sondern auch die Proteste im Osten ab 2014, bei denen sich Wut, Verdrossenheit und „Transformationsfrust“ der Ostdeutschen auch gegen die Migrationsfrage – als „falsches Ventil“ (139, 246f) – richteten.

7. Mütter, Väter, Revolutionen – Über unsere überraschend ähnlichen Biographien

Wie teils schon zuvor, reflektieren die Autorinnen in diesem Kapitel ihre eigenen Biographien und stoßen auf einige Parallelen. So waren beide in ihrer Kindheit bei entscheidenden Straßenprotesten während der Revolution im Iran (1979f) bzw. in der DDR (1989) dabei und erlebten hautnah jene kurzen Momente revolutionär-euphorischer Gestimmtheit. Für die Familie von N. Foroutan führte die Revolution mittelfristig zur Flucht ins Ausland, da ihre Eltern (beide in der kommunistischen Tudeh-Partei aktiv) immer deutlicher in Opposition zu den Klerikalen gerieten, die im Land nach der Macht griffen. J. Hensel beschreibt den „monatelangen Glückstaumel“ der Friedlichen Revolution in der DDR als einen Moment „unglaublicher Würde“, worin sich kurze Zeit eine „neue Elite“ (282f) anstelle der alten Nomenklatura etablierte. Ihre schriftstellerische Tätigkeit zog daraus eine „auslösende Kraft“, wohl auch weil diesem Moment bald schon die bittere „kollektive Erfahrung [folgte]: in einem Moment Im-Zentrum-des Geschehen-Stehen und im nächsten bereits An-die-Peripherie-geschoben-Werden.“ Gerade „die 90er Jahre“ waren für sie „davon geprägt, innerhalb einer Gesellschaft zu leben, die sich in einer großen inneren und äußeren Krise befand.“ (282) Parallel dazu lässt sich der Einschnitt von N. Foroutans Familie verstehen, der sie beinahe plötzlich vom Hotspot der politischen Ereignisse in Teheran in das kleinstädtische Boppard im Rheinland versetzte, wo die politische Spannung fast vollständig fehlte. Auch das Schicksal der Väter bietet Parallelen (295ff), wofür sich Gründe im „Anpassungsdruck“ (287) der neuen Gesellschaft finden lassen oder auch im spiegelbildlichem Gefühl, anders zu sein. Da die Autorinnen die Adaption an das veränderte Umfeld noch als Jugendliche erlernten, fiel ihnen diese Einpassung in die neue Gesellschaft leichter, bewahrte sie aber dennoch nicht vor der Anrufung als Andere „durch die Dominanzgesellschaft“ (291).

8. Einigkeit, Freiheit und das Recht auf Gleichheit – Über unsere Zukunftsvisionen

Den letzten Teil des Gesprächs nutzen die Autorinnen um Bilanz zu ziehen, aber auch, um über die zu erwartende Entwicklung der „Gesellschaft der Anderen“ nachzudenken. Zu Beginn stellen sie fest, dass schon unter den heutigen Bedingungen das alte Verständnis des „Wir“ nicht mehr trägt (304). Die allenthalben und immer selbstbewusster vorgebrachten Forderungen von Migrant*innen – teils in dritter Generation – ließen sich ebenso wenig ignorieren wie die im Osten ab 2015 sichtbar gewordene soziale Spaltung der Gesellschaft. Seitdem, so die Autorinnen, wird verstärkt um die „Versprechen auf Gleichheit, Teilhabe und Gerechtigkeit“ gerungen und zwar so heftig „wie nie zuvor.“ (316) Zur Beruhigung jener Polarisierung, so zeigen sie sich überzeugt, bedarf es eines neuen „Wir“, das die komplexe und pluralistische Ausgangssituation als „neue Normalität“ (336) akzeptiert. Erneut wird dabei die Differenz der Autorinnen hinsichtlich der Ursachen des im Osten verstärkt sichtbaren Rassismus deutlich.

Einig sind sie sich aber darüber, dass es nicht reicht, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Es bedarf vielmehr konkreter Schritte, um den längst in Gang gesetzten Wandel der Gesellschaft mitzugestalten, Impulse, die sie jedoch weniger aus der etablierten Parteienlandschaft erwarten. Zielführender scheint es, die Zivilgesellschaft (Verbände, Vereine, migrantischen Communities) zu stärken, auch um neue Allianzen zu ermöglichen. Werde der Druck dort ausreichend groß, ist auch mit Maßnahmen der etablierten Politik zu rechnen, wobei sich die Autorinnen für eine Art Identitätspolitik auf Zeit aussprechen (331f). So soll die Minderheiten anfangs über Quotenreglungen gestärkt werden (die auch Frauen und LGBTQ berücksichtigen) und empfohlen wird auch die Schaffung eines Ministeriums für Gleichstellung bzw. eines „Ostkabinetts“ und äquivalente Strukturen für Klimafragen, Rassismus etc. (334). Ebenfalls bedarf es eines integrativen Leitbilds, das „für die gesamte Gesellschaft“ gedacht ist (336), wenngleich J. Hensel hier nochmals hervorhebt, dass es im Falle Ostdeutschlands struktureller Veränderungen bedarf, z.B. mit Blick auf die Vermögensverteilung und die Repräsentation in Spitzenpositionen, aber auch was die infrastrukturelle Ausstattung des ländlichen Raumes betrifft (332f). Erst die Überwindung der „sozialen Ungleichheit aller“, so schließlich auch N. Foroutan, kann die Vision von Freiheit und Gleichheit für alle Wirklichkeit werden lassen (336).

Diskussion

Das für das Buch gewählte Format eines durchlaufenden Gesprächs, das einzig von den Kapitelüberschriften unterbrochen und strukturiert wird, mag nicht jedermanns Sache sein. Abhängig von den eigenen thematischen Interessen kann die Orientierung dabei u.U. schwer fallen und ein Sach- oder zumindest Stichwortregister wäre wohl ratsam gewesen. Auf der anderen Seite ist der Dialog zwischen den Autorinnen an nahezu jeder Stelle leicht zugänglich und die Überschriften geben einen guten Eindruck davon, welche Themen jeweils zu erwarten sind. Der inhaltliche Bezug zu tagespolitischen Ereignissen, zur jüngeren deutschen Einwanderungsgeschichte, aber auch die Einführungen theoretischer Konzepte und die eingeflochtenen Anekdoten machen das Buch insgesamt sehr gut lesbar und die Lektüre kurzweilig. Man merkt, dass man es mit sachkundigen Spezialistinnen zu tun hat, deren Wissen und Engagement über die jeweiligen professionellen Interessen hinausreicht. Entsprechend informativ und unterhaltsam liest sich die Verknüpfung ihrer unterschiedlichen Wissensreservoirs.

Hierzu trägt auch die persönliche und wohlwollende Gesprächsatmosphäre bei, welche nicht daran hindert, konzentriert am Thema zu bleiben (weshalb sich trotz der langen Unterhaltung auch nur wenige Redundanzen ergeben). Dass sie sich für dieses Format entschieden haben, lässt sich außer mit den verschiedenen Methoden ihrer eigentlichen Arbeitsfelder wohl auch damit begründen, dass das Buch nicht nur an Minderheiten, sondern auch an die deutsche Mehrheitsgesellschaft gerichtet ist, deren dominierende Perspektive und „rituelle Diskurslogik“ (109) durchbrochen werden sollen.

Wirkt der Dialog aufgrund jener Gesprächsatmosphäre, der biographischen Parallelen und durch das geteilte Interesse an einem Vergleich von Minderheiten zuweilen harmonisch, werden kontroverse Punkte – wie ich versucht habe anzudeuten – dennoch nicht ausgespart. Dort, wo sie das Verhältnis der Minderheiten betreffen, werden sie ebenso ausführlich besprochen und so kommen auch Konflikte zu Wort, die aus der öffentlichen Debatte und der Forschung bekannt sind (z.B. zur Rolle einer stärkeren Identitätspolitik für Ostdeutschland oder die Interpretationen des gestiegenen Rassismus nach der Wiedervereinigung). Gerade die wohlwollende Atmosphäre erlaubt es dabei, die Komplexität in bzw. hinter jenen Konflikten herauszuarbeiten und dadurch deren Konturen zu schärfen.

Welches Problembewusstsein die Autorinnen dabei voraussetzen und dass sie methodisch behutsam vorgehen, wird nicht nur an der Mehrdeutigkeit des Buchtitels deutlich – der die Logik des Otherings aufgreift und kritisiert sowie zum Perspektivwechsel einlädt, worin nun auch einmal die machtvollen Akteure als „Andere“ erscheinen (vgl. 57ff) –, sondern ist auch in den vielen kritischen Fragen präsent, die u.a. die Dauer des „Migrationshintergrunds“ im öffentlichen Diskurs betreffen oder die statistische Schwierigkeit „Ostdeutsche“ richtig zu zählen. Auch die Fallstricke der Kritik an Identitätspolitiken werden benannt, welche ja zumeist aus privilegierter Position (zuletzt von Wolfgang Thierse) vorgebracht wird. Und schließlich wird die ebenso unsichtbare Macht etablierter Begriffe sprachkritisch reflektiert, z.B. anhand der „Mehrheitsgesellschaft“, der „Willkommenskultur“, an „Ausländerfeindlichkeit“ und „Gastarbeitern“ sowie am seit 2015 häufig apostrophierten „Wir“ (91, 284). Deutlich wird einmal mehr, dass sich der Band „dezidiert an alle“ (ebd.) richtet und gleichzeitig die „Mehrheitsgesellschaft“ dazu auffordert, die eigenen, oft subtilen Praktiken der Machtausübung stärker zu reflektieren.

Das womöglich (wissenschaftlich wie politisch) interessanteste Potenzial des Buches bietet vielleicht jene Frage nach neuen oder unerwarteten Allianzen, welche die Autorinnen an verschiedener Stellen aufgreifen (vgl. auch N. Foroutan, „Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie“, Transcript 2019, III. Kapitel). Auf deren Klärung bzw. weitere Diskussion verständigen sie sich auch am Ende des Bandes (337). Erst die zukünftige Entwicklung des Verhältnisses jener und anderer Minderheiten untereinander bzw. zur deutschen Mehrheitsgesellschaft wird freilich zeigen, ob solche „strategischen Allianzen“ ein ernst zu nehmendes Potenzial besitzen oder doch ein „Elitengedanke“ (127) bleiben.

Fazit

Die Autorinnen des Buches versammeln und diskutieren sehr unterschiedliche, historische wie aktuelle, theoretische und empirische Befunde zur Situation jener beider Minderheiten neben der Mehrheitsgesellschaft. Ihr Dialog führt sie in die Geschichte und Gegenwart von Deutschland als Einwanderungsland, v.a. seit den Jahren der Wiedervereinigung. Reflektiert werden die seitdem beobachtbaren sozialen und politischen Veränderungsprozesse, v.a. soweit sie Migrant*innen und Ostdeutsche betreffen. Ausgangspunkt bildet, wie erwähnt, „Die Gesellschaft der Anderen“, hier verstanden als eine ebenso kritische Perspektive auf die Erfahrung des „Zum-Anderen-gemacht-Werdens“. Der Buchdialog endet mit einem Blick auf die Zukunft sowie mit unterschiedlichen Empfehlungen, die helfen sollen, eine sich diversifizierende und heterogenisierende Gesellschaft stärker für die Interessen von Minderheiten zu sensibilisieren.


[1] Foroutan, N.; Kalter, F.; Canan, Coşkun; Simon, Mara (2019): Ost-migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. Unter Mitarbeit von Daniel Kubiak und Sabrina Kajak.

Rezension von
Alexander Krahmer
M.A., Stadtsoziologe am Department für Stadt- und Umweltsoziologie des Helmholtz Zentrums für Umweltforschung Leipzig
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ISSN 2190-9245