Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann (Hrsg.): Handbuch Bildungsarmut
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 30.12.2020

Gudrun Quenzel, Klaus Hurrelmann (Hrsg.): Handbuch Bildungsarmut. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2019. ISBN 978-3-658-19573-1.
Thema
Neben einem systematischen Überblick über Umfang, Ursachen und Folgen von Bildungsarmut offeriert das Handbuch Strategien, wie Bildungsarmut schrittweise abgebaut werden könnte. Es werden aus unterschiedlichen Disziplinen Forschungsergebnisse aus groß angelegten internationalen und nationalen Erhebungen ebenso wie aus kleineren, explorativen Studien präsentiert, die zeigen, dass Menschen ohne einen Mindestgrad an Bildung zunehmend von der Exklusion aus zentralen gesellschaftlichen Bereichen bedroht sind. Damit steigt auch das Risiko dieser Menschen, den eigenen Lebensunterhalt nicht bestreiten zu können und im Zuge dessen soziale Anerkennung und Teilhabe zu verlieren. Das betrifft etwa 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung.
HerausgeberInnen
Dr. Gudrun Quenzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld und ist im Bereich Bildung und Alphabetisierung tätig. Sie gehört dem Leitungsteam der Shell Jugendstudie 2010 an.
Dr. Klaus Hurrelmann ist Professor an der Hertie School of Governance, Berlin. Er gehört dem Leitungsteam der Shell Jugendstudie, der World Vision Kinderstudie und der vergleichenden Studie Health Behavior in School Aged Children an (Verlagsangaben).
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Sammelband baut auf der im Jahr 2010 erstmals erschienen Publikation „Bildungsverlierer – neue Ungleichheiten“ auf. Deren Anliegen es war, erste Einblicke in die aktuelle Forschung über die Ursachen und die Folgen der neuen Ungleichheiten in der Bildungsgesellschaft zu geben und die Frage zu beantworten, wer zu den „Bildungsverlier-*innen“ gehört, auf welche individuellen und gesellschaftlichen Ursachen Bildungsarmut zurückzuführen ist, welche Konsequenzen sich daraus für Individuen ergeben und was dies für eine Gesellschaft für Folgen zeitigt. Das Handbuch Bildungsarmut setzt hier an und zeigt die Determinanten, die Ausprägungen und die Folgen von Bildungsarmut auf. Dabei bleibt die Publikation aber nicht stehen, denn es werden auch Strategien zur Reduzierung von Bildungsungleichheit und der Vermeidung von Bildungsarmut vorgetragen (V-VI).
Aufbau
Neben einer Einführung setzt das Handbuch vier Schwerpunkte mit 35 Einzelbeiträgen:
- Determinanten der Bildungsarmut
- Ausprägung von Bildungsarmut
- Folgen von Bildungsarmut
- Strategien gegen Bildungsarmut.
Inhalt
Gleich in ihrer Einführung machen die Herausgeber*innen deutlich, was sie unter Bildungsarmut verstehen: „Bildung ist das heute vorherrschende Medium, über das soziale Ungleichheit produziert und reproduziert wird. Als Folge des ständig steigenden Bedarfs des Arbeitsmarkts nach höherer Qualifikation ist auch das Mindestmaß an Kompetenzen angestiegen, die für ökonomische und soziale Teilhabe an der Gesellschaft unbedingt notwendig sind. Wer dieses Mindestmaß an Kompetenzen nicht besitzt, kann als 'bildungsarm' bezeichnet werden. Er ist von Exklusion aus zentralen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe bedroht und erlebt das Risiko, den eigenen Lebensunterhalt im Rahmen einer Erwerbsarbeit nicht dauerhaft bestreiten und soziale Anerkennung und Teilhabe verlieren zu können“ (3). Ihr Bildungsbegriff umfasst dabei den „Erwerb und Besitz von Wissen“ (4), den Menschen einerseits benötigen, um alltägliche Anforderungen zu bewältigen, andererseits ist damit die Fähigkeit gemeint, „ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst und der eigenen Lebenswelt einschließlich anderer Menschen in dieser Lebenswelt aufzubauen“ (4). Insofern ist Bildung aus Sicht der Herausgeber*innen gleichermaßen Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenständigen und unverwechselbaren Persönlichkeit als auch für die Partizipation am gesellschaftlichen Leben (4).
Es ist den Herausgeber*innen wichtig, einen geringen Bildungsstatus von Bildungsarmut abzugrenzen und in den Kontext der sog. Wissensgesellschaft einzuordnen. Auch Internationalisierung, Digitalisierung und Automatisierung scheinen neben der Individualisierung der Lebensführung wichtige Einflußfakturen für Bildungsarmut zu sein. Sie betonen zudem in Anlehnung an Jutta Allmendinger die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Bildungsarmut. Während absolute Bildungsarmut das Nicht-Erreichen eines Mindeststandards von Wissen und Können definiert, der in der jeweiligen Gesellschaft als Voraussetzung für die berufliche und soziale Teilhabe angesehen wird, also etwa, dass alle z.B. die lateinische Schriftsprache lesen und schreiben können sollen, ergibt sich die relative Bildungsarmut aus ihrem Verhältnis zur gesamtgesellschaftlichen Verteilung von Bildung und wird nach einer bestimmten Formel in ihrer Relation zum durchschnittlichen Bildungsniveau einer Bevölkerung berechnet. Die Höhe des Anteils an relativer Bildungsarmut einer Gesellschaft sagt also vor allem etwas über Bildungsungleichheiten in Bezug auf soziale Gruppen aus. Wichtige Kriterien sind in diesem Zusammenhang z.B. sog. Zertifikatsarmut, Kompetenzarmut. Ein weiterer Schwerpunkt der Einführung ist die Frage danach, was es für einen Menschen bedeutet, bildungsarm zu sein, also die in der Gesellschaft als normal angeniommennen Bildungsanforderungen nicht zu erfüllen. Hier beziehen sich die Autor*innen insbesondere auf Studien mit Jugendlichen und benennen potentielle Folgen:
- Geringes Selbstwertgefühl
- Psychische Belastung
- Demonstrativer Konsum und deviantes Verhalten
- Fehlende Netzwerke
- Geringe Erwerbschancen
- Gesundheitliche Folgen.
Jedoch hat Bildungsarmut nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene weitreichende Folgen, beispielsweise:
- Ökonomische Folgen
- Folgen für die politische Integration
- Folgen für den sozialen Zusammenhalt.
Am Ende ihrer Einführung benennen die Herausgeber*innen noch einige wesentliche pädagogischen Strategien zum Abbau von Bildungsarmut, z.B. „die Ausweitung der frühkindlichen Bildung, insbesondere die systematische Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien, ein längeres gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler durch eine möglichst späte Aufteilung in leistungshomogene Lerngruppen, die Erhöhung der Autonomie von Schulen bei gleichzeitiger externer Evaluation der erreichten Leistungen, ein Wettbewerb zwischen Schulen und die Erhöhung der fachlichen und pädagogischen Qualifikation der Lehrkräfte“ (21).
Als weiteres Kapitel soll neben der Einführung exemplarisch das Kapitel „Soziale Folgen von Bildungsarmut“ detaillierter vorgestellt werden. Die Autor*innen sind allesamt an der Universität Rostock tätig: Sylvia Keim (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock), Andreas Klärner (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Thünen-Institut für Ländliche Räume in Braunschweig und Privatdozent an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock), André Knabe (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock) und Peter A. Berger (Professor für Allgemeine Soziologie – Makrosoziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock).
Der Beitrag untersucht die Frage, ob und inwiefern Bildungsarmut die gesellschaftliche Teilhabe bedroht. Dabei fokussiert der Beitrag auf Schulabgänger*innen mit geringer Bildung und untersucht, wie sich für sie der Übergang ins Erwerbsleben gestaltet. Dazu definieren die Autor*innen zunächst noch einmal Bildungsarmut und grenzen relative und absolute Bildungsarmut voneinander ab und gehen auf Zertifikats- und Kompetenzarmut ein, auch im historischen Rückblick.
Die Autor*innen wenden sich auch der Frage zu, inwiefern die soziale Herkunft dazu führt, dass Schulabgänger*innen als absolut oder relativ bildungsarm gelten können. Sie weisen darauf hin, dass unterschieden werden muss zwischen primären und sekundären Herkunftseffekten, wobei mit primären Effekten herkunftsspezifische Unterschiede in den (Schul-) Leistungen von Kindern, die Ursache für Bildungsungleichheiten im späteren Lebensverlauf beschrieben werden. Sekundäre Herkunftseffekte beschreiben hingegen das Phänomen, wenn es bei Kindern mit gleichen Schulleistungen, aber unterschiedlicher sozialer Herkunft zu abweichenden Bildungsentscheidungen kommt (590). Entscheidende Faktoren sind dabei neben der Herkunftsfamile, Bildungsungleichheiten, die über Zertifikats- und Chancenungleichheiten vermittelt werden und die frühe Aufteilung der Schüler*innen bestimmte Schultypen sowie die peer group.
Es werden materielle, psychosoziale und gesundheitliche Folgen von Bildungsarmut erörtert. Hier wäre eine Einschränkung oder der Ausschluss von Teilhabe in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu erwähnen, z.B. am Erwerbssystem, kulturelle, demokratische oder soziale Teilhabe. In ihren weiteren Ausführungen konzentrieren sich die Autor*innen auf die Teilhabe am Erwerbssystem und betonen dabei vor allem zwei Aspekte: Beim Übergang vom Bildungs- ins Erwerbssystem gilt es, zwei Schwellen zu überwinden: den Übergang vom Schul- ins Berufsausbildungssystem und die zweite Hürde von der beruflichen Ausbildung zur Position im Erwerbssystem. Die Autor*innen kommen hier zum Schluß, dass nicht nur von absoluter Bildungsarmut Betroffene (ohne Schulabschluss) Schwierigkeiten beim Übergang in eine stabile Erwerbstätigkeit haben, sondern auch relativ „bildungsarme“ Hauptschüler*innen, und zunehmend sogar Realschulabsolvent*innen. Sie betonen, dass fehlende Ressourcen in unterschiedlichen Lebensbereichen darauf verweisen, dass viele Bildungsarme nur bedingt am gesellschaftlichen Leben partizipieren und daher auch als „Randgruppe“ bezeichnet werden können.
Abschließend beleuchten die Autor*innen noch die materiellen, psychosozialen und gesundheitlichen Folgen von Bildungsarmut. Dies kann wegen des Mangels an materiellen Ressourcen zu massiven Einschränkungen hinsichtlich der Wohnsituation, in Bezug auf Güter des täglichen Bedarfs oder technische Geräten, der Bekleidung, bei Freizeitaktivitäten und sozialen Aktivitäten bis hin zur Ernährung mit ausreichend und gesunden Nahrungsmitteln führen. Bildungsarmut kann Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung fördern und bei den Betroffenen im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ein geringes Selbstwertgefühl und sehr beschränkte Zukunftserwartungen bedingen. Resignation kann sich einstellen oder eine „beschädigte Identität“. Bildungsarmut kann negative Auswirkungen auf soziale Beziehungen haben und oin vielfältiger Weise Gesundheitsparameter beeinflussen. Diese Einflussfaktoren können sich auch generationsübergreifend auswirken.
Diskussion
Die vorliegende Publikation greift in sehr fundierter und systematischer Weise eine Thematik auf, über die in Deutschland immer noch zu wenig gesprochen und in Bezug auf die vor allem zu wenig gehandelt wird: Bildungsarmut. Renommierte Fachwissenschaftler*innen beleuchten die vielfältigen komplexen Facetten des Themas auf solide Weise, stellen dabei interdisziplinäre Bezüge her und geben strategische Empfehlungen für weitere Forschungen, aber auch für Veränderungen auf gesellschaftlicher- oder bildungspolitischer Ebene.
Fazit
Das Handbuch bietet einen systematischen und kritischen Überblick über Ausmaß, Ursachen und Folgen von Bildungsarmut und legt darüber hinaus Strategien vor, wie Bildungsarmut reduziert werden könnte. Forschungsergebnisse aus verschiedenen Disziplinen aus dem deutschsprachigen und internationalen Kontext werden dabei berücksichtigt. Die Ergebnisse machen deutlich, dass in der Gesamtheit betrachtet, die Gesellschaft zwar immer „gebildeter“ wird, zugleich aber Menschen ohne einen Mindestgrad an Bildung zunehmend exkludiert werden. Um so wichtiger und auch hervorhebenswert ist es, dass das Handbuch auch Orientierungshilfen dahingehend anbietet, an welchen Stellen gesellschaftspolitischer Handlungsbedarf besteht oder weitere Forschung nötig ist. Eine unverzichtbare Lektüre für alle Verantwortlichen für Bildung, ob sie sich nun in der Politik, in Verwaltungen, in Institutionen oder NGOs engagieren!
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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