Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 17.09.2020

Maryanne Wolf: Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (München) 2019. 300 Seiten. ISBN 978-3-328-60099-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,90 sFr.
Thema
Aus Perspektive der internationalen Leseforschung reflektiert die renommierte amerikanische Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf in einer essayistischen, auf Breitenkommunikation angelegten Darstellung die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Leseverhalten und die Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen. In neun Kapiteln entwirft sie eine Konzeption, um ein buchgestütztes, analoges Lesen mit Mediennutzungsgewohnheiten in einer digitalisierten Lebenswelt zu verbinden, wobei sie dezidiert den Eigenwert des Bücherlesens für die kognitive und soziale Entwicklung von jungen Menschen herausarbeitet.
Autorin
Maryanne Wolf, geboren 1950, studierte Pädagogik, Psychologie und Sprach- und Literaturwissenschaften an der Northwestern University und in Harvard. Sie war Professorin und Direktorin des Center for Reading and Language Research an der Tufts University in Massachusetts, ferner war sie als Neurowissenschaftlerin und Direktorin des Zentrums für Dyslexie, Diverse Learners und Social Justice an der University of California in Los Angeles tätig. Für ihre Forschungen wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Alice Ansara Award, dem Norman Geschwind Lecture Award, dem Samuel Orton Award und dem Dyslexia Foundation's Einstein Award.
Entstehungshintergrund
Das Buch entstand im Rahmen eines zweijährigen Forschungsaufenthalts 2016 und 2017 am Stanford University Center for Advanced Study in Behavioral Sciences und am Internationalen Zentrum der Tufts University in Talloires (Frankreich). Es erschien 2018 unter dem Titel „Reader, Come Home. The Reading Brain in a Digital World“ im Harper-Verlag (New York) und wurde von Susanne Kuhlmann-Krieg ins Deutsche übersetzt.
Aufbau
Das Buch ist in neun Kapitel – von der Autorin Maryanne Wolf jeweils mit „Brief“ überschrieben – und einen Anhang gegliedert.
Inhalt
Das in Briefform verfasste Buch der Lese- und Entwicklungsforscherin Maryanne Wolf lädt einen breiten Leserkreis dazu ein „sich Gedanken über die Fülle an schier unglaublichen Erkenntnissen über das Lesen und das lesende Gehirn zu machen und über die massiven kognitiven Veränderungen bei uns selbst, den Generationen nach uns und möglicherweise unserer Art insgesamt“ (S. 9) nachzudenken, wie dies die Einführung in den ersten Brief mit direkter Adressierung der Leserschaft formuliert.
Der zweite Brief gibt einen konzisen und selektiven Überblick über die Forschung zum lesenden Gehirn. Darin referiert die Autorin, welche Zusammenhänge zwischen der Plastizität des hirneigenen Leseschaltkreises – so der in diesem Buchkapitel verwendete Fachterminus – und der Komplexität des menschlichen Denkens bestehen, ferner, wie und warum dieser Schaltkreis im Begriff ist, sich durch das gewandelte Mediennutzungsverhalten zu verändern.
Im dritten Brief werden die zentralen Prozesse des intensiven, vertieften Lesens von gedruckten Texten – vom Einfluss auf die empathischen und logischen Kompetenzen des Lesenden bis hin zur Erweiterung seiner Fähigkeit zu kritischer Analyse und Erkenntnis – anschaulich erläutert und exemplifiziert. Insoweit bilden die ersten Briefe eine Ausgangsbasis, um zu ergründen, in welchem Maße es die jeweiligen Eigenheiten verschiedener Medien – vor allem im Vergleich des Lesens des gedruckten Wortes mit dem Bildschirmlesen – vermögen, „sich nicht nur in den plastischen Netzwerken der Schaltkreise in unserem Gehirn niederzuschlagen, sondern auch zu bestimmen, wie und was wir heute lesen“ (S. 4).
Der vierte Brief thematisiert die gesellschaftliche Relevanz des Lesens für die Sozialität und das empathische Verhalten von Menschen im Allgemeinen und von Kindern und Jugendlichen im Besonderen: Leitthese der Autorin ist dabei, dass die Verknüpfung zwischen dem, was und wie Menschen lesen, und dem, was geschrieben wird, gesellschaftsprägend ist. Umso kritischer betrachtet sie die Folgen der Digitalisierung, welche die Menschen mit einer Fülle an Informationen konfrontiere, welche zu einer Sehnsucht nach Vereinfachung und intellektuell weniger anspruchsvollen Informationen führen würde. Die Tendenz einer Favorisierung von sogenannten Informationshäppchen als Ersatz für multiperspektivische und dichte Informationen könne die kritische Auseinandersetzung mit komplexen Wirklichkeiten korrumpieren, da eine demokratische Gesellschaft nach Meinung Wolfs nur auf der Fähigkeit zur kritischen Betrachtung und Bewertung von Informationen basiere.
In den Briefen fünf bis acht werden verschiedene Studien und Forschungsansätze zur Wichtigkeit der verschiedenen Funktionen des Lesens für die intellektuelle, sozial-emotionale und ethische Prägung von Jugendlichen sowie zum Verschwinden ganzer Aspekte des Kindseins durch die Digitalisierung ausführlich vorgestellt und erläutert. Aus subjektiver, erfahrungsgestützter Sicht plädiert Wolf für ein gestuftes Umgehen mit digitalen Medien: „Ich hätte gern, dass Kinder das physische und zeitliche Jetzt-und-hier-Sein von Büchern erfahren, bevor sie mit dem immer ein wenig auf Distanz bleibenden Surrogat namens Bildschirm in Kontakt kommen.“ (S. 171) Vor allem in den Briefen sechs bis acht entwirft die Forscherin einen praxisnahen Vorschlag für einen Entwicklungsfahrplan, der für die explizite Schulung und Förderung eines „zweigleisigen“, zwiefach kompetenten Lesergehirns votiert: Die Kinder und Jugendlichen sollen nach der Darstellung von Wolf „versierte, flexible Code-Switcher werden“ (S. 217), die umfangreiche Kompetenzen in den speziellen Eigenheiten der analogen wie der digitalen Welt besitzen. Insofern verzichtet die Darstellung auf Entweder-oder-Lösungen: „In den ersten Schuljahren wären als Hauptmedium zum Lesenlernen für mich gedruckte Bücher zum Anfassen das Mittel der Wahl (…) Zu lernen, wie wichtig es ist, Zeit für eigene Reflexionen und Gedanken zu reservieren, fällt Kindern, die in einer Kultur voller Zerstreuung aufwachsen, alles andere als leicht.“ (S. 218) Erst sekundär sollen sie in diesem Entwicklungsschritt dann mit dem digitalen Lernen vertraut werden: „Zur selben Zeit, da Kinder im zeitaufwendigen Printmedium denken und lesen lernen, werden sie vermittels der sehr viel schnelleren Bildschirmmedien auch auf ganz andere Art denken lernen. Digitalgeräte stünden als Medium zum Codieren und Programmieren zur Verfügung“ (S. 220).
Im abschließenden neunten Brief resümiert die Autorin ihre Haltung zur digitalen Revolution. Es sei für sie von großer Bedeutung, dass Lehrkräfte und Eltern im Speziellen, aber auch die Gesellschaft im Allgemeinen, über den Einfluss verschiedener Medien auf Psyche und Kognition genauestens informiert sind. Daher widmet sie sich im letzten Brief intensiv der Frage nach der „Zukunft des Lesens und des guten Lesers“ (S. 256): Es bleibe bei aller Euphorie für die Möglichkeiten der Technik die Sorge, dass die „Plastizität des menschlichen Gehirns (…) in unerwünschter Weise“ (S. 257) verändert werde mit verheerenden Folgen für das Aufmerksamkeits- und Denkvermögen, das Sozialverhalten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Diskussion
Wissenschaftsbasiertes Schreiben in Briefform mit persönlicher Leserinnen- und Leseransprache ist sicherlich im Sachbuchbereich eher selten anzutreffen: „Liebe Leserin, lieber Leser“ steht am Beginn jedes Briefes. Ebenso ungewöhnlich ist die Vermischung von wissenschaftlichen Quellen und Studienverweisen (kondensiert in einem über 30-seitigen Anmerkungsteil am Ende des Buchs) mit allgemeinen Kanon-Zitaten der Weltliteratur, der Philosophie und der Ethik, die im weitesten Sinne Aussagen zum Lesen und zum kulturellen bzw. individuellen Mehrwert von Büchern, Medien und Denken tangieren. Insofern macht es diese essayistisch-populärwissenschaftliche Darbietungsweise nicht leicht, eine eindeutige Adressatengruppe zu bestimmen. Der Band ist konsequenterweise mehrfachadressiert, was Stärke wie Schwäche zugleich ist: Als Stärke kann sicherlich der persönliche Gestus und die metaphorische, um Anschaulichkeit bzw. Allgemeinverständlichkeit bemühte Darbietungsweise gelten. Wolf strebt eine Breitenwirkung an und intendiert, insbesondere Eltern und Unterrichtende im Schulbereich zur Reflexion über das Verhältnis von traditionellen Druckerzeugnissen wie Büchern und Zeitungen einerseits sowie digitalen Medien anderseits zu inspirieren. In der Verknüpfung von expressiv-wertenden, bisweilen warnend-appellativen Aussagen höchst subjektiver Provenienz mit informativ-deskriptiver Wissensvermittlung zentraler kognitionswissenschaftlich-psychologischer, pädagogisch-empirischer und medien-kulturwissenschaftlicher Wirkungsforschung liegt die Schwäche der Darstellung, da die Autorin immer wieder Prognosen und subjektive Befürchtungen vorstellt, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten spekulativ sind. So liest man etwa über die Auswirkungen der digitalen Medien auf die Lesekompetenz der jungen Generation: „Es gibt herzlich wenig Untersuchungen, in denen der Einfluss unterschiedlicher Medien auf die Lesekompetenz von unterschiedlichen Lernpersönlichkeiten betrachtet wird – Tausende scheitern. Gegenwärtig ist die Situation derart ernst, dass man, wenn sich nichts ändert, davon ausgehen muss, dass in ein paar Jahren die Mehrzahl der Achtklässler als funktionale Analphabeten einzuordnen sein wird.“ (S. 226) Man kann darin einen wohlmeinenden Appell zur Umsteuerung im Bildungswesen sehen, man kann darin aber auch einen Kassandra-Ruf einer Vertreterin der älteren Generation sehen, die am Primat der Printmedien gegen alle digitale Innovationen festhalten möchte.
Fazit
In neun Kapiteln betrachtet die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf in einer populärwissenschaftlichen Diktion und Aufbereitung die Einflüsse unterschiedlicher analoger und digitaler Medien auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns, die Auswirkungen auf die kognitive Aufmerksamkeit und den Spracherwerb. Das Buch plädiert für einen reflektierten und bewussten Umgang mit Büchern respektive Gedrucktem, um langsames, konzentriertes und Denken trainierendes Lesen zu erwerben bzw. beizubehalten. Zugleich liefert der Band einen sogenannten Entwicklungsfahrplan für den Leseerwerb, der Vorteile klassischer Printmedien und digitaler Innovationen zu versöhnen trachtet, um Folgeproblematiken wie Analphabetismus, Dyslexie sowie Aufmerksamkeitsdefizitstörungen zu verhindern.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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