Heinz Wewer: Spuren des Terrors
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.10.2020
Heinz Wewer: Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager. Hentrich & Hentrich Verlag (Berlin) 2020. 318 Seiten. ISBN 978-3-95565-350-7. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
„Social Philately“
Lebensberichte, autobiographische Erzählungen und Dokumentationen fußen und beziehen sich immer auf persönliche und überlieferte Erfahrungen, die sich in Gegenständen, wie Bildern, Sachen und Dingen ausdrücken und als Erinnerungen lebendig gemacht werden. In der historischen Forschung sind es oft Briefe, Postkarten, Telegramme, Tagebuchaufzeichnungen und andere Dokumente der Alltagskultur, die von Sammlern und Archiven aufbewahrt und vorgezeigt werden. Die Quellenmaterialien insbesondere aus philatelistischen Kollektionen bilden dabei vielfältige Informationen und Interpretationsmöglichkeiten. Der Hildesheimer Historiker Michael Gehler und der Postkarten-Sammler Otto May haben z.B. in Ausstellungen in der Bibliothek der Universität und in zwei umfangreichen Dokumentationen auf die Möglichkeiten zur Geschichtsschreibung durch die Heranziehung von Briefen, Ansichtskarten und anderen postalischen Quellenmaterialien aufmerksam gemacht (Michael Gehler/Otto May, Motiv Europa. Postalische Dokumente zur Geschichte und Einigungsidee von 1789 bis 1945, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/26275.php). Zahlreiche andere Initiativen zur „Social Philately“ verweisen auf die Bedeutung der Quellenforschung im historischen Kontext.
Entstehungshintergrund und Autor
Der Kölner Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist Heinz Wewer (*1935) widmet sich seit Jahrzehnten der Aufdeckung und Dokumentation der nationalsozialistischen, faschistischen Verfolgung und Ermordung von Menschen in den Konzentrationslagern in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Immer bezieht er dabei auch postalische Dokumente und Hinterlassenschaften der Häftlinge ein. Damit, so die einhellige Meinung der RezensentInnen seiner Werke, gebe er den Menschen, die in den KZ nur als Nummern vegetierten, ihre Namen und Persönlichkeiten zurück. Mit dem Band „Spuren des Terrors“ benutzt er historisch orientierte, philatelistische Anschauungs- und Quellenmaterialien, um die grauenvollen Alltagsabläufe der Häftlinge in den Konzentrationslagern darzustellen; etwa mit Fragen wie: „Was bewegte die Häftlinge in den KZ?“ – „Welche Bedeutung hatten die Postverbindungen für sie?“ – „Welche Häftlinge hatten die Möglichkeiten dazu, welche nicht?“ -„Vermittelt die Analyse dieser Dokumente neue Erkenntnisse über Personen und Organisationen im Haft- und Verfolgungssystem der Nazis?“ -„Können die Dokumente Erinnern und Aufklärung bewirken?“.
Aufbau und Inhalt
Die Darstellung und Analyse von vorhandenen postalischen Dokumenten aus den Konzentrationslagern erfolgt anhand von menschlichen Schicksalen. Als KZ definiert der Autor die Einrichtungen, die der „Ausschaltung von politischen Gegnern und nach sozialen und rassistischen Kriterien unerwünschten Personen, (der) Disziplinierung der Bevölkerung der besetzten Gebiete durch Terror, (von) Zwangsarbeit der Häftlinge…“ dienten. Nicht dokumentiert sind dabei die „Mordstätten“ oder ‚Tötungsfabriken“, die ausschließlich der Massenvernichtung von Juden sowie Sinti und Roma dienten: Kulmhof (Chelmno), Belzec, Sobibor und Treblinka“ – weil in diesen Lagern Postverkehr ausgeschlossen war. Die Dokumentation der Zustände in Auschwitz und Majdanek ist deshalb möglich, weil diese sowohl Konzentrationslager als auch Totesorte waren. Wewer wählt in seinen Dokumentationen aus den mehr als 70 KZ und den mehr als 660 Außenlagern 21 Konzentrationslager aus. Er stellt mehr als 280 Dokumente in der Form von Postkarten, Briefen, Briefumschlägen, Paketkarten, Telegrammen vor, ordnet sie den Personen, den familiären und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu und vermittelt so ein exemplarisches Bild von den Abhängigkeiten und Drangsalen der Häftlinge in den KZ. Wenn z.B. in der als „Geheim“ eingestuften „Dienstvorschrift für Konzentrationslager“ (Lagerordnung) von 1941 im Kapitel XIII die Zensur für den Versand und Empfang von Briefen, Postkarten, Geldsendungen, Paketen und Päckchen geregelt wird, klingt es eher zynisch, wenn es dort heißt: „Der Empfang von Paketen und Päckchen ist den Häftlingen verboten, da für Kleidung und Leibwäsche und für die erforderliche Gesundheitspflege lagerseitig gesorgt wird“.
Neben der Einleitung und dem abschließenden Resümee gliedert der Autor sein Werk in sieben Kapitel. Im ersten informiert er über „Entstehung, Funktion und Lenkung des Systems der Konzentrationslager“; im zweiten werden mit dem Titel „Provisorien des Terrors“ die frühen KZ vorgestellt; im dritten geht es um die „Dauereinrichtungen des Terrors“; im vierten wird „Post der Häftlinge“ thematisiert; im fünften werden die „Geschäfte der SS“ dargestellt, „als Orte der Ausbeutung von Zwangsarbeitern für die Kriegswirtschaft“; sechstens geht es um „Konzentrationslager mit besonderen Funktionen“; und im siebten Kapitel werden „Orte der Vernichtung“ genannt. Im Anhang wird mit mehr als tausend Anmerkungen auf die Fülle der Quellen, Fundstellen und Literatur verwiesen. Im Glossar werden einige philatelistische Begriffe erläutert; und als Faksimile Verordnungen zur Organisation der KZ abgelichtet. In einem doppelseitigen Landkartenauszug werden die Standorte der Konzentrationslager, Tötungszentren und größeren Ghettos gezeigt.
In der Abbildung von 1938 werden die „Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konz. Lagern“ in Form und Farbe aufgelistet. Die von den Häftlingen zu tragenden Abzeichen vermitteln dem Wachpersonal auf einen Blick, ob es sich um einen politischen Gefangenen (rotes Dreieck), um einen Berufsverbrecher (grün), um einen Emigranten(blau), einen Bibelforscher (braun), einen Homosexuellen (gelb), oder um einen Asozialen(schwarz) handelt, mit Zusatzmarkierungen für Rückfälligkeit, Angehörigen der Strafkompanie, Judenstern, Häftlingsnummer, Nationenzugehörigkeit und sonstigen Hinweisen, wie z.B. „Wehrmachtsangehöriger“ und „Häftling Ia“. Heinz Wewer ordnet den jeweiligen Kapiteln postalische Dokumente zu und ergänzt die entsprechenden Sachinformationen mit persönlichen Dokumenten. In meist kurzen Worten kommen die Sorgen der Absender zu Hause um den Häftling zum Ausdruck, jedoch niemals als Anklage (wohl wissend, dass die Post von der Zensur gelesen wird), sondern immer mit der Hoffnung verbunden, der Häftling möge gesund sein und auf ein baldiges Wiedersehen. Auch die Nachrichten der Häftlinge an die Angehörigen sind bestimmt von Vorsicht und eher allgemeinen Aussagen: „Mir geht es gut! Ich denke an euch! Ich freue mich auf ein Wiedersehen!“. Dabei wird deutlich, dass weniger die postalisch übermittelten Nachrichten Wahrheiten und Wirklichkeiten der konkreten Situationen in den Konzentrationslagern vermitteln können, sondern eher das, was nicht geschrieben steht, sondern sich aus den Machtstrukturen der Lagerordnungen ergibt und ermittelt werden kann.
Als ein Exempel dafür, wie der Autor sachlich und methodisch bei der Dokumentation von postalischen Materialien aus den KZ vorgegangen ist, werden Situationen im KZ Sachsenhausen (S. 67ff) skizziert: Mit den 1936 in Berlin durchgeführten Olympischen Spielen sollte der Welt die Humanität und Rechtmäßigkeit des nationalsozialistischen Regimes präsentiert und davon abgelenkt werden, wie die Nazis mit ihren Kritikern und politischen Gegnern umgingen und ihre Rassenpolitik vollzogen. Mit der Errichtung des KZ Sachsenhausen, im Herbst 1936, sollte ein „neuer Typus eines ‚modernen‘ Konzentrationslagers“ entstehen. Im Lager Sachsenhausen wurden in den Anfangsjahren vor allem die „Politischen“ inhaftiert. Es waren die in Deutschland und in den besetzten polnischen und tschechischen Gebieten verhafteten Widerständler und „Rädelsführer“, wie z.B. Studenten, Wissenschaftler, Ärzte, Geistliche, Oppositionspolitiker und Gewerkschafter. So wurden zwischen 1943 und 1945 rund 26.400 Frauen und Männer aus Polen in das KZ Sachsenhausen gebracht. Einer davon war Marian Dudek, dessen Postkarte mit dem Poststempel Oranienburg 13. 12. 44 abgedruckt wird. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden etwa 6000 Juden in Sachsenhausen eingeliefert. Im Juni 1938 waren es ebenso rund 6000 Sinti und Roma, die im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ ins KZ Sachsenhausen verbracht wurden. Im September 1939 wurden im KZ 360 Zeugen Jehovas registriert. In der unteren rassistischen, nazistischen Hierarchie befanden sich, neben den Juden, die gefangenen Ukrainer und Russen; während die inhaftierten Dänen und Norweger, es waren rund 6.100 Dänen und 10.000 Norweger, im Sprachgebrauch als „arische Verwandte“ eingestuft und im Lager eher im „Innendienst“ eingesetzt wurden. Zum KZ Sachsenhausen gehörten fast 100 Außenlager, in die die Zwangsarbeiter gebracht, überwacht und zur Arbeit eingeteilt wurden. Einige dieser Arbeitslager wurden später als selbstständige KZ ausgebaut, wie etwa Ravensbrück (1938/39), Neuengamme (1938-1940), Wewelsbrück-Niederhagen (1939 – 1941), Groß-Rosen (1940/41), u.a..
Im „Klinkerwerk Oranienburg“ arbeitete auch der französische Sachsenhausen-Häftling Fernand Humbert-Droz, dessen Kriegsgefangenenpost an seine Frau aufgewiesen wird; ebenfalls wurde die Produktion im Oranienburger „Heinkel-Werk“, das Kampfflugzeuge herstellte, überwiegend mit Sachsenhausen-Gefangenen aufrechterhalten. 1944 wurden 6.966 Häftlinge im Zwei- und Dreischichtensystem dort beschäftigt, auch der polnische Zwangsarbeiter Gera Onufer. Seine Frau schrieb ihm auf einem Faltbrief im Juli 1943: „Mein lieber Mann! Wir leben und sind gesund. Immer denken wir an Dich und erwarten Dich“. In der nordwestlich von Berlin gelegenen Kleinstadt Falkensee wurden von der DEMAG Panzerfahrzeuge gebaut. Auch hier wurden sowjetische, polnische, französische, norwegische, belgische, dänische, griechische, holländische, luxemburgische, tschechische, slowakische, spanische und Sinti-Roma-Häftlinge eingesetzt, eingesperrt hinter einem doppelten, elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun und auf Wachtürmen mit MG-Schützen bewachtem Betriebsgelände. Im Außenlager „Schwarzheide“ stellte die BRABAG synthetische Treibstoffe aus Braunkohle her. Hier wurden überwiegend Juden eingesetzt. Die postalischen Belege jedoch sind äußerst selten, weil Brief- und Päckchenkontakte verboten waren.
Fazit
Die Zeitzeugen, die das Grauen und die Unmenschlichkeiten erlebt, erlitten haben und darüber persönlich berichten können, werden immer weniger. Auch deshalb ist es wichtig, alle Möglichkeiten der Erinnerung und Dokumentation auszuschöpfen und als Mahnung zu bewahren und weiter zu geben: „Nie wieder!“. Dabei muss den Tendenzen widerstanden werden, „endlich zu vergessen“ und die mörderische, nazistische, faschistische, rechtsradikale Politik zu relativieren und sogar populistisch aufzuwerten. Denn eine Lehre aus Unmenschlichkeit kann gezogen werden: Sie fällt nicht vom Himmel und entwickelt sich nicht zufällig, sondern schleicht sich nicht selten im Alltag ein (vgl. z.B.: Andrew Stuart Bergerson, Nationalsozialismus in alltäglichen Interaktionen. Freundschaft und Nachbarschaft in Hildesheim zwischen den Kriegen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25952.php). Die vom Autor vorgelegten, kommentierten postalischen Dokumente „erlauben einen neuen Blick auf den Alltag nationalsozialistischer Konzentrationslager“. Das ist auch deshalb notwendig, weil „mit wachsendem Zeitabstand und dem Schwinden der Generation der Zeitzeugen die Erinnerung an die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus zu verblassen droht, da sich zugleich in Deutschland wie auch in anderen Teilen der Welt die Angriffe auf Humanität und Demokratie häufen“.
Die Dokumentation „Spuren des Terrors“ sollte deshalb in allen pädagogischen und öffentlichen Bibliotheken zur Verfügung stehen. Sie bildet ohne Zweifel auch Material für die schulische und außerschulische politische Bildung an; denn darauf kommt es an: Die Menschen aufzuklären und zu bilden, dass Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie Garantien dafür sind, human und menschenwürdig zu leben, individuell, lokal und global (siehe dazu auch: Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363ff).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 13.10.2020 zu:
Heinz Wewer: Spuren des Terrors. Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager. Hentrich & Hentrich Verlag
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-95565-350-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27209.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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