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Dieter Bürgin, Angelika Staehle u.a.: Psychoanalytische Grundannahmen

Rezensiert von Prof. Dr. Lutz Finkeldey, 21.09.2020

Cover Dieter Bürgin, Angelika Staehle u.a.: Psychoanalytische Grundannahmen ISBN 978-3-95558-280-7

Dieter Bürgin, Angelika Staehle, Kerstin Westhoff, Anna Wyler von Ballmoos: Psychoanalytische Grundannahmen. Vom analytischen Hören im klinischen Dialog. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2020. 132 Seiten. ISBN 978-3-95558-280-7. D: 17,90 EUR, A: 18,40 EUR.

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Thema

‚Ein Buch muss man gelesen haben‘, dieses hier vorzustellende gehört dazu, denn sonst könnten die medizinisch und sozio-kulturell angehauchten Nicht-Leser*innen etwas übersehen. Selbst wenn das Psychoanalytische im klinischen Dialog nicht primäres Interesse hervorruft – wie auch der Junge, der als exemplarischer Fall von vier Psychiater*innen analysiert wird, zunächst Abwehr zeigt –, bleibt am Horizont das Verpasste. Allein Work in Progress, hier das Gestalten eines offenen reflexiven Prozesses mit dem Mut, sich irren zu dürfen, weil Grundannahmen als Prozess gesehen werden, steht dafür. Irren stellt kein Problem dar, wenn es aus nicht-linearem Nicht-Wissen erfolgt. Menschen – so eine Aussage – beziehen sich im Fühlen und Denken immer wieder auf ihre eigene Geschichte, ihre unbewussten und bewussten Grundannahmen. Das verifiziert oder verwirft für sie Neues. Nur die Geschichte, die Gegenwart, erst recht nicht die Zukunft gibt es genau so wenig wie die Grundannahmen in der Psychoanalyse. Wir meinen es subjektiv, doch es ist anders. Das Individuum deutet die eigene Geschichte immer wieder anders, der jeweilige Zeitgeist gibt eine andere Folie für das Verstehen. Ein professioneller Prozess der Verobjektivierung geschieht nur über Selbst- und Fremdreflexion. Der Begriff „anders“ mit seiner Wortfamilie findet in dem Buch eine sehr zentrale Stellung, denn er wertet zunächst nicht und verhindert damit eine „Verurteilung“, „Diskriminierung“ oder „Fehleinschätzung“ der Gegenüber.

Diese Zeilen geben neben einem kognitiven Akt primär den basalen psychischen Prozess wieder. Der schränkt das Geschriebene über Psychoanalyse und Soziologie ein: „Die Psyche entzieht sich jeder befriedigenden Objektivierung“ (Bürgin et al, S. 11). „Ein Selbes bietet sich in äußerster Verschiedenheit dar, Realität ist nicht durch eine allen Menschen gemeinsame <Natur> garantiert“ (Bürgin et al, S. 11 – n. Arendt). Die beliebige Sprachlosigkeit, die für Wissenschaften daraus folgen könnte, wenden die Autor*innen mit dem Aspekt der Vielfalt, indem sie erneut Hannah Arendt heranziehen: „Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ (ebd. – n. Arendt).

Individuelle Grundannahmen basieren mit ihrer projektiven Identität auf irrationalen basalen Überzeugungen, die mit Gruppenphänomenen korrespondieren, wenn ihnen nicht – wie mit der Kontingenz von Grundannahmen in der Psychoanalyse – auf den Grund gegangen wird. Psychoanalyse und Gesellschaft gehören zusammen, denn Individuum und Gemeinschaft sind wie auch in der Soziologie dialektisch verwoben. Nur der Blickwinkel und damit auch das Resultat des Prozesses fallen wegen des spezifischen Erkenntnisinteresses anders aus.

Aufbau

Der Aufbau des Buches fällt korrespondierend zum Inhalt klassisch aus. Nach dem Vorwort findet eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Begriff und inhaltlicher Füllung von psychoanalytischer Grundannahme statt, der um die Attributierungen Individuum, behandlungstechnische Fragen, Gesellschaftsordnungen und Gruppe erweitert wird, um ein theoretisches Instrumentarium für den folgenden klinischen Fall des Jungen Simone vorzubereiten bzw. anschließend getrennt und gemeinsam zu analysieren. Der Prozess der angewandten Wissenschaft mündet in einer Diskussion über Erfahrungen und Arbeitsweisen der Vierergruppe. Eine Zusammenfassung schließt den Textteil, der um Literatur, Kritzel (Strichzeichnungen, Skizzen) und Stichwortverzeichnis ergänzt ist.

Inhalt

„Die Bildung von Grundannahmen entspricht einer basalen, protomentalen, eventuell sogar pränatal angelegten Aktivität.“ (ebd.) Wie im Alltag spielt auch in der Profession die Existenz von Grundannahmen eine bedeutende Rolle. Ein Teil der Grundannahmen bleibt bei egal welcher Tiefe der Analyse verdeckt, ein anderer ist dem Ich emotional-kognitiv zugänglich bzw. verfügbar. Wenn die Psyche sich jedweder Objektivierung entzieht (s.o.), entsteht ein Konflikt, selbst wenn sich Psychoanalytiker*innen in Frage stellen, sich verunsichern lassen. Über die geistige Übung der kollegialen Supervision können „heilige Kälber“ entkleidet werden, die nicht nur theoretischer Natur betreffen, sondern vor allem persönliche Exploration befördern.

Implizite und explizite Grundannahmen können bei Psychoanalytiker*innen den Schlendrian einziehen lassen, wenn sie symbolisch eindimensional wirken und eine Alternative vernebeln.

Der Raum in physisch präsenter wie auch abstrakter Form als psychisches Erleben spielt in der Beziehung zur Klientel eine große Rolle. [1] Die partiell bewussten Grundannahmen gegenüber der Klientel, die Grundvoraussetzung für Zuhören und in der Folge Fragen sind, lassen genauso wie die Anlage des Spiels ein gemeinsames Drittes als Verständnis entstehen. Das „einfache Verbale“ findet in der Körperlichkeit eine zusätzliche Ebene, die noch eher über das eigene Verschüttete in der Analyse „irritiert“ werden kann.

Gesellschaftsordnungen werden im nächsten Abschnitt über geschichtliche Beispiele an den Rand gedrängt, weil sie nicht im Vordergrund stehen (s. S. 17). Gruppen stehen als Thema, um sich über die eigene differenzierte Zusammenarbeit als Arbeitsgruppe zu bilden. Das Interview (Videoaufnahme vor Einwegspiegel) mit dem etwa 7 1/2-jährigen Simone nimmt etwa 25 Seiten ein.

Die Darlegung des Interviews wie auch die Einzelauswertungen der vier Analysand*innen bleibt an dieser Stelle ausgespart, weil eine Kürzung Verzerrungen bedeutete, die den Interviews nicht gerecht würden. Das Lesen des Buches hilft das potenzielle Defizit zu füllen.

So viel sei gesagt: Unterschiede zwischen den Interpret*innen treten zutage, dies schon allein aufgrund ihrer Schulen und den dort gelehrten Vorgehensweisen und ihrer divergierenden Abstraktionen. [2]

„Eine Grundannahme über die Grundannahmen besteht darin, dass wir uns nur in reflektierenden Prozessen über die vielfältig-komplexe Zusammensetzung unserer zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Mosaike von Grundnannahmen und der flexiblen Gestaltung dieser gewahr werden. Dieses Mosaik verändert sich im Verlaufe des Lebens bei jedem Analytiker.“ (ebd., 107).

Begriffe, Definitionen, Annahmen, Antizipationen wandeln sich nicht nur (im Verborgenen), sondern Fachlichkeit verschiebt sich ebenso. Vor allem: Der infantile Wunsch der Klientel nach Omnipotenz ist wie meist rückwärtsgewandt. Ob damit die Zukunft Anderer entblättert werden kann, die aufgrund ihres Lebensalters weniger eigene Geschichte kennen, muss im Zentrum stehen, denn Analyse ist immer zeitgebunden (LF). Kriterien – wie richtig oder falsch – basieren ganz oft auf unterschiedlichen Grundannahmen. ‚Das Territorium des Nicht-Wissens breitet sich ohnehin aus‘ und bildet Übertragungsdiffusität bei Gedächtniseinheiten.

„Der Trieb (unsere bewusste Grundannahme) ist eine ganzheitlich aus dem Somatischen hervorgehende Kraft, welche vom Intrapsychischen, Leiblichen als Quelle in der Außenwelt gerichtet ist. Er ist lebens- und überlebensnotwendig. (…) Magische Veränderung ist leichter zu erreichen als Integration und reale Veränderung.“ (ebd., 115f).

Frühe Symbolik, Figuration, Konstruktion als Averbales (Nicht-Wissen-Können, LF) enthält, auf welche das Verbal-Symbolischen folgt (was gleichsam zu einem komplexen Missverständnis beitragen kann), grundsätzlich zu entschlüsselnde Bilder zwischen Nebulösem, Abstrakten naiv vereinfachender Darstellung, Sprach- und körperlicher (Nicht-) Expression. 

Die Zusammenfassung macht Lesenden deutlich, was in der Praxis oft nicht deutlich in das Auge sticht, doch von außen deutlich wird: „(…) man {kann} nicht ohne Grundannahmen denken (…), selbst wenn sich diese in Veränderung befinden mögen, d.h., dass man Grundannahmen nicht los wird.“ (ebd., S. 117).

Diskussion

Mit dem Buch „Psychoanalytische Grundannahmen. Vom analytischen Hören im klinischen Dialog“ von Bürgin, Staehle, Westhoff, von Ballmoos liegt ein sehr beachtliches Werk vor. Die Psychoanalyse steht in zweifacher Hinsicht im Zentrum: 1. als wissenschaftliche Disziplin in Theorie und Praxis der Psychoanalyse an sich, 2. aus der praktischen Sicht Agierender. Vor allem aber – das zählt nicht zum primären Anspruch des Buches – zwischen den Zeilen kann es als Beitrag zu den Humanwissenschaften herhalten, denn es gibt reichlich Anknüpfungspunkte, die verfolgt werden sollten. „Grundannahme“ korrespondiert (nicht deckungsgleich) mit Vorurteil (s. Adorno, Horkheimer, Ahlheim) und Kategorien, Idealtyoen, Hypothesen (Weber), Subjekt-Objekt-Relation (Negt, Keupp), Nicht-Wissen-Können (Beck), Ethnosoziologie, Biographie (Levy-Strauss, Finkeldey) … die Kette ließe sich aspektbezogen lange fortsetzen. In allen Disziplinen gibt es Übertragungen, Grundannahmen und den Kampf um Objektivität. In der Phototheorie von Roland Barthes verdeutlicht das „Punctum“ sozial unterschiedlich getragenen Interpretationen den subjektiven Part. Ein Bild entsteht im Kopf und existiert nicht unabhängig davon. Der Kunsthistoriker Panofsky entwickelt drei Ebenen der (sozial-kulturellen) Interpretation. Schließlich baut der französische Soziologe Bourdieu darauf sein Habituskonzept auf. Jahoda hat in den 1940er Jahren Menschen in einem Dorf beobachtet, die nahezu alle arbeitslos wurden. Sie vollzogen einen deutlichen Gestalt-, Denk- und Verhaltenswandel aufgrund der neuen Situation. Überall geht es um das Verschüttete, das Überformte. Haubl/Schülein haben mit ihrem 2016 erschienenen Buch „Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften – Wegweiser und Meilensteine eines Dialogs“ (Stuttgart {Kohlhammer}) einen Versuch unternommen, indem sie andere Wissenschaften (wieder) mit der Psychoanalyse vereinen (wollen).

Also, das vorliegende Buch bildet eine Chance, Wissenschaften gedanklich zu vereinen, weil es sehr selbstreflexiv angelegt ist und mit den Grundpfeilern der Disziplin arbeitet. Es bietet Anknüpfungspunkte für Menschen in allen Wissenschaften, die mit der Subjekt-Objekt-Relation zu tun haben. Das dürften alle sein. Zumindest kulturwissenschaftliche, medizinische, sozialwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Disziplinen sollten sich diese Arbeit am und mit dem Subjekt vergegenwärtigen, damit sie reflektieren, was richtig und falsch ist und nicht intuitiv entscheiden. Sicherlich, auch Intuition kann zum Ziel führen – recht selten, im Laufe des Lebens trügerischerweise immer öfter. Irgendwann sind 1+1=3. Die klinische Seite der Psychoanalyse bleibt von den eben dargelegten Gedanken unberührt. Teile des Konzepts – zu die der Grundannahmen – lassen sich für andere Zusammenhänge öffnen. Angelegt ist es – und darin liegt auch die eigentliche Ausrichtung – als Lehrbeispiel für theoriefundiertes, methodisches und komparatives psychoanalytisches Vorgehen mit Grundannnahmen. Das Buch gibt viele Antworten und bleibt dabei „grundehrlich“, denn die zunehmende Gegenwartsschrumpfung lässt Antworten flüchtiger werden.


[1] Über die ästhetische Differenz zwischen Klientel und Analysanden, die durchaus als symbolische Differenz oder Gewalt für die Klientel störend wirken kann, findet sich kein Hinweis im Buch. Habitus der Analysierenden, Größe der Räume, Farbgestaltung, Bilder, Fußboden, Ausblick können erschlagen, ablenken, zumindest irritieren, zu einem Raum zwischen Ort oder Nicht-Ort werden lassen.

[2] In einem kleineren internen Forschungsprojekt an der HAWK stellten der Kollege Jürgen Ebert und ich fest, dass nicht nur die „Schule“, sondern auch der Zeitgeist während des Studiums späteres Wirken extrem beeinflusst (Befragung nach Dekaden).

Rezension von
Prof. Dr. Lutz Finkeldey
Professor für „Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit - Jugendhilfe“, Verstehenssoziologe, Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit an der „Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst“ (HAWK) - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen, Standort Hildesheim
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Es gibt 21 Rezensionen von Lutz Finkeldey.

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Zitiervorschlag
Lutz Finkeldey. Rezension vom 21.09.2020 zu: Dieter Bürgin, Angelika Staehle, Kerstin Westhoff, Anna Wyler von Ballmoos: Psychoanalytische Grundannahmen. Vom analytischen Hören im klinischen Dialog. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2020. ISBN 978-3-95558-280-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27219.php, Datum des Zugriffs 26.09.2023.


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