Mira Kaszta, Simon Reutlinger: Intergeschlechtlichkeit
Rezensiert von Prof´in Dr´in (em.) Monika Barz, 22.03.2021

Mira Kaszta, Simon Reutlinger: Intergeschlechtlichkeit. Eine qualitative Fallstudie zur psychosexuellen Entwicklung. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2020. 152 Seiten. ISBN 978-3-95558-282-1. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Thema
Im Mittelpunkt der Publikation steht die psychosexuelle Entwicklung intergeschlechtlicher Menschen. Kaszta und Reutlinger gehen der Frage nach, was es bedeutet, mit einem körperlich nicht eindeutigen Geschlechts aufzuwachsen. Sie lassen Ihre Interviewpartner*innen selbst zu Wort kommen. Diese berichten von ihrem mühevollen Weg sich im Leben in und mit ihrem Körper zurecht zu finden.
AutorIn
Mira Kaszta wurde 1980 in Hamburg geboren. Sie studierte Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg Stendal und Klinische Psychologie als Masterstudium an der Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Seit 2017 arbeitet sie als Streetworkerin im Frankfurter Bahnhofsviertel und betreut schwerstabhängige Drogengebraucher*innen. Seit 2019 befindet sie sich in der Ausbildung zur Psychoanalytikerin am Frankfurter Psychoanalytischen Institut.
Simon Reutlinger wurde 1985 in Tettnang geboren. Er absolvierte eine handwerkliche Ausbildung zum Brauer und Mälzer in Erlangen. Er studierte Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg Stendal und Klinische Psychologie als Masterstudium an der Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Seit 2014 arbeitet er in der niedrigschwelligen Drogenhilfe in Frankfurt und ist seit 2019 in der Ausbildung zum Psychoanalytiker am Frankfurter Psychoanalytischen Institut.
Entstehungshintergrund
Das Buch basiert auf einer Masterarbeit bei Prof. Dr. Habermas und Dr. med. Gschwind im Fach Klinische Psychologie an der Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Kaszta/​Reutlinger stießen 2012 erstmalig als Studierende bei Ihrer Suche nach einer Thematik für ihre Projektarbeit im Seminar über Erzählanalysen und Identitätsentwicklung auf Intergeschlechtlichkeit. Sie wurden neugierig, insbesondere da sie herausfanden, dass es kaum Literatur dazu gab. Sie versuchten Ideen dafür zu gewinnen, wie die Leerstellen im psychologischen und sozilogischen Diskurs über Intergeschlechtlichkeit geschlossen werden könnten. Die dem Buch zugrunde liegende Studie wurde 2014 konzipiert und im darauffolgenden Jahr die Daten erhoben. Nach der Einführung von Neuerungen im Recht wurde die Forschungsarbeit 2019 überarbeitet und für diese Publikation aktualisiert.
Aufbau
Das Eingangskapitel beschäftigt sich mit der Definition von Intersexualität, der Beschreibung der Körpergeschlechtsentwicklung bei Intersexualität und dem dazugehörigen medizinischen Diskurs. In einem Exkurs führt die Richterin Luisa Lettrari in die Entwicklungen der aktuellen Rechtslage ein.
In einem zweiten Kapitel werden Psychosexualität und Geschlechtsidentität skizziert und die Verführungstheorie Laplanches und das Konzept der adoleszenten Entwicklung von Laufer/​Laufer ausgeführt.
Im dritten Kapitel steht der Studienaufbau im Mittelpunkt, samt Ausführungen zur Transkription, dem narrativen Interview nach Schütz und der Methodik der Datenauswertung.
Im vierten und umfangreichsten Kapitel sind die Fallzusammenfassungen der fünf Befragten ausgeführt. Zusammenfassende Überlegungen schließen im fünften Kapitel die Studie ab. Aktuelle umfangreiche Literaturquellen und Dokumentation von Interviewleitfaden und Interviewvertrag bilden den Schluss.
Inhalt
Kaszta/​Reutlinger wollen dem Selbstverständnis intergeschlechtlicher Menschen näher kommen, indem sie sich mit ihren Lebensgeschichten befassen. „Die Studie versucht, die Verortung der Expert*innen ihrer Selbst in der Welt zu Tage zu fördern“ (10). Die Narrationen wurden qualitativ-hermeneutisch ausgewertet und als dynamische Lebensgeschichten zusammengefasst. Kaszta/​Reutlinger legen ihrer Arbeit die Definition von Intersexualität zugrunde, die von intergeschlechtlichen Menschen formuliert wurde: „Der Begriff bezeichnet biologische Besonderheiten bei der Geschlechtsdifferenzierung. Intersexuelle Körper weisen deshalb Ähnlichkeiten mit beiden, dem männlichen wie weiblichen, Geschlechtern auf. (…) Es handelt sich also um Menschen, deren äußeres geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen und der Hormonproduktion nicht nur männlich oder nur weiblich, sondern scheinbar eine Mischung aus beidem darstellt.“ (14).
Es werden die aktuellen Wissensbestände über Körpergeschlechtsentwicklung und deren intergeschlechtlichem Verlauf zusammengetragen und die aktuellen Entwicklungen der Rechtslage durch die Expertise von Lettrari, Richterin am Sozialgericht Dessau-Rosslau in einem Exkurs angereichert. Aus psychologischer Perspektive werden die theoretischen Dimensionen von Geschlecht und die psychosexuelle Entwicklung dargelegt. Vertiefend wir die Laplanche Allgemeine Verführungstheorie und das Konzept der adoleszenten Entwicklung von Laufer/​Laufer diskutiert. Eine ausführliche Offenlegung der Detailschritte der Studie leiten über zu fünf „Fallzusammenfassungen“ der Interviewten. Abschließend tragen Kuszta/​Reutlinger die zentralen Ergebnisse zusammen. Hierzu zählen unter anderem:
- „es scheint für fast alle schwer zu rekonstruieren, wie in ihrer* Kindheit mit Intergeschlechtlichkeit umgegangen wird.“ (123).
- „Die (…) die Ausdifferenzierung der Geschlechter wird erst mit der Pubertät virulent.“ (124).
- „Die Beziehungen zu den Eltern sind häufig distanziert“ (124).
- „Die unklare körperliche Entwicklung scheint eine Distanz zu schaffen, eine Distanz, sowohl zwischen den Bezugspersonen, als auch zwischen den Kindern und der Welt, (…). Häufig mündet dies in Sprachlosigkeit.“ (124).
- „Die Verunsicherung auf Seiten der primären Bezugspersonen beeinflusst die Entwicklung des Kindes.“ (125).
- „Deutlich ist, dass Irritationen vorhanden sind und es an einem intergeschlechtlichen Identitätskonzept fehlt welches ein Vorbild sein könnte.“ (125).
- „Die intergeschlechtliche Körperentwicklung wird (…) meist als unproblematisch geschildert, auch wenn Irritationen bei ihnen* auftreten.“ (127).
- „Gesellschaftliche Wertvorstellungen (…) und das normierende Gesundheitssystem verstärken die Irritationen. Insbesondere, wenn es zu medizinischen Eingriffen, meist in Form von Hormonsubstitution kommt oder kommen soll.“ (127).
- „Gängige Praxis war lange Zeit die Vereindeutigung gepaart mit Tabuisierung der Intergeschlechtlichkeit.“ (129).
- „Durch Hormongabe verändert sich der Körper, diese Veränderungen lösen (…) Ängste aus und sind nur schwer zu integrieren.“ (129).
- „Sexualhormone bergen die Schwierigkeit, dass sie ein Geschlecht zuweisen, die körperliche Entwicklung in eine Richtung formen, männlich oder weiblich.“ (130).
- „… die Ärzt*innen (…) greifen medizinisch in die körperliche Entwicklung ein und weisen ein Geschlecht zu (…).“ (130).
- „Der Rückgriff auf gesellschaftliche Rollenklischees bietet zwar Erleichterung, da diese Anhaltspunkte im verwirrenden Koordinatensystem bieten. Es handelt sich jedoch um ein unbefriedigendes Hilfskonstrukt.“ (132).
- „Es mangelt allen Parteien an intergeschlechtlichen Identitätskonzepten und Positionen, alle scheinen wie gelähmt zu sein.“ (132).
- „Vor allen das Gesundheitswesen müsste über Intergeschlechtlichkeit aufgeklärt sein und dieses Wissen weitergeben. Es ist unerlässlich, dass hier eine bessere Aufklärung stattfindet.“ (133).
- „Es stellt sich überhaupt die Frage, ob behandelt werden muss.“ (133).
- „Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Intergeschlechtlichkeit begegnen die Interviewpartner*innen (…) Selbsthilfegruppen, welche von da an eine wichtige Rolle in deren Leben einnehmen.“ (133).
- „Selbsthilfegruppen sind ein Ort, (…) der zum ersten Mal Lösungen präsentiert und ein Ort des Verständnisses.“ (133).
- „Die Selbsthilfegruppen bieten einen wichtigen Halt und nehmen quasi familiäre Strukturen an.“ (134).
- „Die Selbsthilfegruppen sind aktiv an gesellschaftlichen Umgestaltungen beteiligt. So gehen auch viele der aktuellen Gesetzesänderungen auf ihr Engagement zurück.“ (134).
- „In fast allen Narrationen spielt das Thema Unfruchtbarkeit eine Rolle, in der impliziten und expliziten Trauer darüber, keine Kinder bekommen zu können.“ (136).
- „Im krassen Gegensatz zu dem Raum der Selbsthilfegruppen, (…) steht die Sprachlosigkeit, die unsere Interviewpartner*innen sonst umgibt.“ (136).
- „Verstärkt durch die ärztlichen Leitlinien, scheint es einen Konsens des Schweigens zu geben.“ (S. 136).
- „Es gibt keine intergeschlechtliche Pronomen und noch keine bedeutsame gesellschaftliche Position, nur männlich oder weiblich. (…) eine Situation die mit massiven Problemen und Beeinträchtigungen einhergeht. Es scheint als ob alle massiv irritiert und angegriffen davon sind.“ (136f).
Diskussion
Kaszta/​Reutlinger lassen intergeschlechtliche Menschen selbst zu Wort kommen. Die qualitativ-hermeneutisch ausgewerteten Narrationen sind in dynamischen Lebensgeschichten zusammengefasst. Für die Leser*innen erschließt sich diese eigenwillige Form der Darstellung nicht immer reibungslos. Aussagen der Interviewpartner*innen sind extrem zerlegt – durch andere Schriftform kenntlich gemacht – in die psychoanalytisch orientierten Ausführungen von Kaszta/​Reutlinger eingewoben. Dies Textgestaltung ist vermutlich vielen Sozialwissenschafter*innen nicht so vertraut, wie für Berufsgruppen, die der psychoanalytischen Ausbildungspraxis des Frankfurter Instituts näher stehen. Diese Herausforderung macht die Publikation zu einer Fundgrube neuer Perspektiven sowohl auf die Folgen dichotomer Geschlechtswelten und die Navigationsversuche intersexueller Menschen, als auch auf die eigenwillige Textgestaltung als Webteppich von Zitation und eigenen Gedankengängen. In den zusammenfassenden Überlegungen wird die inhaltliche Fülle der Narrationen kompakt herausgearbeitet und ergeben ein Gesamtbild.
Fazit
Kaszta/​Reutlinger ist es hervorragend gelungen, eine Studie zu konzipieren und publizieren, die für eine breite Leser*innenschaft Einblicke in die emotionalen, politischen und juristischen Dimensionen von Intergeschlechtlichkeit ermöglicht. Intersexuelle Menschen bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung der LSBTTIQ Community häufig unsichtbar und still oder sie werden fälschlicherweise mit Transsexualität gleichgesetzt. Die Detailgenauigkeit der Studie zeigt das Spezifikum intersexueller Menschen und macht diese Publikation zu einer inspirierenden Lektüre.
Rezension von
Prof´in Dr´in (em.) Monika Barz
Evangelische Hochschule Ludwigsburg, Frauen- und Geschlechterforschung, Praxis- und Politikberatung
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