Christian Hawellek, Arist von Schlippe: [...] Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell
Rezensiert von Prof. Dr. Lilo Schmitz, 07.03.2006
Christian Hawellek, Arist von Schlippe: Entwicklung unterstützen - Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2005. 263 Seiten. ISBN 978-3-525-46227-0. 26,90 EUR.
Das Thema
Marte Meo ist ein viedeogestütztes und entwicklungsorientiertes Analyse- und Trainingsmodell besonders für Eltern. Das Modell wird in diesem Sammelband beschrieben, in seinen Anwendungsmöglichkeiten erläutert und im Licht systemischer Philosophie und Praxis diskutiert.
Die Herausgeber
- Der Diplompädagoge Christian Hawellek leitet das Norddeutsche Marte-Meo-Institut und arbeitet bei der Caritas-Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche im Landkreis Vechta.
- Sein Mitherausgeber Arist von Schlippe ist einer der bekanntesten Autoren, Ausbilder und Therapeuten im systemischen Bereich. Er ist Lehrtherapeut am Institut für Familientherapie in Weinheim und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der Universität Osnabrück.
Die einzelnen AutorInnen stelle ich kurz zum Beginn ihrer Beiträge vor.
Der Inhalt
- In ihrem Einleitungs-Artikel erläutern die beiden Herausgeber Arist von Schlippe und Christian Hawellek ihren Untertitel "Systemisches Coaching...": Während über Jahrzehnte der familiäre Alltag therapeutisiert und nur die dunklen Seiten von Familie untersucht wurden, ist das ressourcenorientierte Marte-Meo-Modell daran interessiert, Eltern nicht zu therapieren, sondern ihnen in einem "systemischen Coaching" Hilfestellungen anzubieten. Das Modell geht davon aus, dass es ein natürliches, implizites Elternwissen gibt, das vor allem mit Hilfe der Videoanalyse sichtbar gemacht und verstärkt werden kann. Wenn Coaching definiert werden kann als "die zielgerichtete, zeitbegrenzte Unterstützung von Personen bei der Bewältigung besonderer Herausforderungen oder Aufgaben" (20), dann ist eine Marte-Meo-Beratung nichts anderes als ein Eltern-Coaching. Marte-Meo nutzt dabei moderne Medien (Videotechnik), mit deren Hilfe Mikrostrukturen und -prozesse festgehalten und analysiert werden können. Erfahrene Marte-Meo-TherapeutInnen werden vor allem an den Stärken des gezeigten elterlichen Verhaltens anknüpfen und in einem guten Beziehungsrahmen Vorschläge machen, wie diese Stärken auszubauen sind und Hinweise geben, wo die Eltern Kinder ihrer jeweiligen Entwicklung entsprechend noch besser unterstützen können. Eltern erhalten im Modell Aufklärung zu den speziellen Entwicklungsanforderungen ihrer Kinder und bekommen konkrete und praktische Hinweise, wie sie diese Schritte in ihrem Alltag unterstützen können. Im Idealfall entwickeln sich Eltern und Kinder so "koevolutiv" (28). Die visuelle Form der Marte-Meo-Arbeit bietet gegenüber den traditionellen therapeutischen Narrativen gute Chancen: Bestimmte Eindrücke der Eltern können im Detail überprüft werden und die festgehaltenen Szenen sind wesentlich eindrücklicher als wörtliche Beschreibungen.
- In einem Gespräch geben die beiden Herausgeber der Begründerin des Ansatzes Maria Aarts die Gelegenheit die Grundlagen von Marte-Meo aus ihrer Sicht darzustellen. Unter prägnanten Überschriften wie "Zeigen, nicht erklären", "Aktivieren und Stärken" "Den Initiativen folgen" und "Benennen ist die Mutter aller Dinge" formuliert Maria Aarts - geleitet durch die Fragen der Herausgeber - noch einmal die Grundlagen des Marte-Meo-Ansatzes.
- Im Anschluss befasst sich Christian Hawellek (s.o.) mit Marte-Meo in der Erziehungs- und Familienberatung. Hier berichtet der Autor auf dem Hintergrund seiner mehr als zehnjährigen Praxis mit dem Modell in der Erziehungsberatung. Der Autor beschreibt (auch historisch) unterschiedliche Schwerpunkte und Konzepte in der Erziehungsberatung und wie die Orientierung an Entwicklung und Alltagskommunikation zum Einsatz der Marte-Meo-Praxis in Erziehungsberatungsstellen beigetragen hat. Die Marte-Meo-Praxis führt die MitarbeiterInnen in die Familien, was für viele Erziehungsberatungsstellen Neuland ist, wobei Marte Meo die Auswertung der Aufnahmen aber ganz bewusst in den distanzierteren und geschützten Rahmen der Beratungsstelle legt.
- Im Methodenteil des Sammelbandes beschreiben Christian Hawellek und Kai Meyer zu Gellenbeck(Psychologe an der Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung der katholischen Jugendfürsorge Augsburg) unter dem Titel "Die "Kunst der kleinen Schritte" detailliert die Praxis des Marte-Meo-Modells. In diesem Beitrag werden mit detaillierten Übersichten die einzelnen Schritte der Marte-Meo-Praxis dargestellt und Anwendungsgebiete erläutert.
- Monica Hedenbro und Annette Liden - beide Psychotherapeutinnen und Marte-Meo-Supervisorinnen aus Schweden - sind Mitglieder einer internationalen Forschungsgruppe, die sich besonders mit der Verbesserung triadischer Beziehungen befasst. Sie schildern eindrucksvoll, wie aktiv Kinder an der Interaktion in der Familie beteiligt sind und machen deutlich, wie sie Marte Meo besonders in der Arbeit mit der Triade Mutter-Kind-Vater einsetzen.
- Colette O"Donovan, Sozialarbeiterin und Marte-Meo-Therapeutin aus Dublin beschreibt den Einsatz von Marte-Meo in der Beratung und Unterstützung von Pflegefamilien.
- Terry Hofmann-Witschi (Heilpädagogin) und Paul Hofmann (Sozialpädagoge) leiten eine heilpädagogische Lebensgemeinschaft in der Schweiz und sind damit selbst Pflegeeltern für KlientInnen. In einem informativen und durch Fotos bereicherten Fallbericht schildern sie, wie eine sehr junge Mutter in der heilpädagogischen Lebensgemeinschaft mit Hilfe des Marte-Meo-Modells dabei unterstützt wird eine tragfähige Beziehung zu ihrer kleinen Tochter und neue Erziehungsfähigkeiten zu entwickeln.
- Ingeborg Kristensen, Public Health nurse und Marte-Meo-Therapeutin in Dänemark, stellt die Ergebnisse eines Forschungsprojektes vor, das die Veränderungen und Verbesserungen im elterlichen Verhalten nach Marte-Meo-Arbeit dokumentiert.
- Jörn Borke, Anne Werchan, Monika Abels und Verena Kantrowitsch, PsychologInnen (Kantrowitsch in Ausbildung) aus der Baby-Sprechstunde Osnabrück stellen ihr Projekt der Baby-Sprechstunde vor, das im Anschluss an ein Seminar zu "Schreikindern" von Prof. Heidi Keller initiiert wurde und die eigentliche Marte-Meo-Arbeit durch eine breite Asessment-Phase und Beratungselemente unterschiedlichster Herkunft ergänzt.
- Kai Meyer zu Gellenbeck und Arist von Schlippe (zu den beiden Autoren vgl. oben) stellen unter dem Titel "Wahrnehmen, folgen, lenken" ein Analyseschema als Orientierungshilfe für die Arbeit mit Müttern von Kleinkindern vor. Ausgehend von einer Fallgeschichte schildern die Autoren ein eigenes Analyseschema, das sowohl für Videoaufnahmen als auch für "Mikrointerviews" dienen kann. In "Mikrointerviews" werden im Gespräch charakteristische Abläufe des Alltags so verdichtet erfragt, dass die Informationen an die Genauigkeit einer Videoanalyse heran reichen. Das Analyseschema selbst scheint mir etwas sperrig und schwerer zugänglich als die Original-Anregungen von Maria Aarts.
- Thomas Mittler, Jana Grobel, Judith Berkenheide (Studierende im Graduierten bzw. Postgraduiertenbereich an der Universität Osnabrück) und Arist von Schlippe (s.o.) beschreiben die Einsatzmöglichkeiten von Marte-Meo für die Beratungsarbeit mit Eltern sprachauffälliger Kinder. Sehr gut nachvollziehbar wird hier das Marte-Meo-Modell für diese besondere Zielgruppe formuliert und mit Praxisbeispielen erläutert.
Zwei interessante Grundsatz-Artikel zum Verhältnis von systemischer Therapie und Marte-Meo runden den Band ab:
- Annegret Sirringhaus-Bünder, Marte-Meo-Supervisorin und Familientherapeutin in freier therapeutischer und Beratungspraxis sowie Ausbilderin in Systemischer Therapie, beschreibt in ihrem Beitrag "Marte Meo - ein systemisches Coachingmodell?" ausgehend von den logischen Ebenen bei Dilts, wann und zu welchen Beratungsanlässen klassische systemische Beratungselemente sinnvoll sind und wann der Einsatz von Marte Meo nützlich und fruchtbringend ist. So muss die Arbeit anders aussehen, wenn ein Verhalten konkret erlernt werden soll und wieder anders, wenn an Überzeugungen und Glaubenssätzen gearbeitet wird. Fallbeispiele erläutern ihren Ansatz praktisch. Annegret Sirringhaus-Bünders Modell des differenzierten Methodeneinsatzes ist über die Marte-Meo-Methode hinaus als originelle und interessante Grundlage für die Auswahl beraterischer und therapeutischer Methoden geeignet.
- Arist von Schlippe (s.o.) stellt in seinem Beitrag "Psychoedukative Ansätze und systemische Perspektive" die Frage, in wie weit sich Philosophie und Praxis von systemischer Therapie und Marte Meo (als eine Art psychoedukatives Verfahren) nicht widersprechen. Ähnlich wie Sirringhaus-Bünder kommt auch Arist von Schlippe zu dem Schluss, dass es von den KlientInnen und ihrem Anliegen abhängt, welche Methode sinnvoll wie eingesetzt werden kann. In einem kritischen Rückblick auf die Geschichte der Familientherapie (Familie als Schuldige - vereinfachte Kausalzuschreibungen) macht der Autor deutlich, wie gut wir daran tun, jenseits von Zeitgeist unsere Arbeit durch Bescheidenheit, Respekt und Vorsicht leiten zu lassen. In einem abschließenden Statement macht Arist von Schlippe deutlich, was Marte Meo von der systemischen Praxis und was die systemische Praxis von Marte Meo lernen kann.
Zielgruppe und Fazit
Insgesamt sind die Beiträge des Sammelbandes geeignet, eine gute Einführung in die Marte-Meo-Methode zu geben. Darüber hinaus finden erfahrene Marte-Meo-TherapeutInnen zahlreiche Anregungen für die Übertragung in spezielle Felder der Therapie- und Beratungsarbeit. Die Beiträge sind gut ausgewählt, übersichtlich gestaltet und das Buch ist für alle Interessierte zu empfehlen. Es sollte auch in keiner Hochschulbibliothek fehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Lilo Schmitz
Hochschule Düsseldorf (Ruhestand) und ILBB - Institut für Beratung Brühl
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Es gibt 131 Rezensionen von Lilo Schmitz.
Zitiervorschlag
Lilo Schmitz. Rezension vom 07.03.2006 zu:
Christian Hawellek, Arist von Schlippe: Entwicklung unterstützen - Unterstützung entwickeln. Systemisches Coaching nach dem Marte-Meo-Modell. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2005.
ISBN 978-3-525-46227-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2724.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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