Nadia Bisang: Weibliche Genitalbeschneidung
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 20.11.2020

Nadia Bisang: Weibliche Genitalbeschneidung. Ein Leitfaden für die professionelle Beratung im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich.
Interact Verlag Hochschule Luzern
(Luzern) 2019.
109 Seiten.
ISBN 978-3-906036-38-0.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 36,00 sFr.
Schriftenreihe Sexuelle Gesundheit und Soziale Arbeit - Band 4.
Thema
Das Netzwerk Mädchenbeschneidung Schweiz „fördert die Vernetzung und stellt einen niederschwelligen Zugang zu Informationen sicher. Das Ziel ist es, gefährdete Mädchen und Frauen vor weiblicher Genitalbeschneidung zu schützen und die medizinische Versorgung für die Betroffenen zu gewährleisten“ (S. 9).
Autorin
Nadia Bisang arbeitete mehrere Jahre beim schweizerischen Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung. Ihre Erfahrungen hat die Autorin in ihrer Masterarbeit im Rahmen des MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich bearbeitet.
Entstehungshintergrund
Die Publikation fußt auf einem Beschluss des schweizerischen Bundesrates vom Herbst 2015, nach dem das Engagement gegen FGM/C (female genital mutilation/cutting, weibliche Genitalverstümmelung) verstärkt werden soll. In Auftrag gegeben wurde das Projekt „Maßnahmen gegen weibliche Genitalverstümmelungen 2016 – 2019“.
Aufbau
- Weibliche Genitalbeschneidung
- Migration und weibliche Genitalbeschneidung
- Die professionelle Beratung genital beschnittener Frauen
- Handlungsempfehlungen für die Beratung genital beschnittener Frauen mit Migrationshintergrund
Inhalt
Über die gesamte Welt verteilt sind mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen von weiblicher Genitalbeschneidung betroffen. Jährlich sind etwa drei Millionen neue Fälle zu beklagen. Die weibliche Genitalbeschneidung wird in den meisten Fällen vom siebten Lebenstag bis zum Vorschulalter durchgeführt. Praktiziert wird FGM/C in vielen afrikanischen Ländern, in Asien, dem mittleren Osten oder Südamerika. „Eine Studie von Integra zu weiblicher Genitalbeschneidung in Deutschland zeigt […], dass die Mehrheit dieser Migrantinnen Situationen mit sozialem und medizinischem Fachpersonal erlebte, die sie irritierten oder gar verstörten“ (S. 33). Ärzte für Gynäkologie, dicht gefolgt von Hebammen und Fachpersonal für sexuelle Gesundheit werden am häufigsten mit genital beschnittenen Frauen konfrontiert. Damit genital beschnittene Frauen in der Schweiz ihr Recht auf eine reproduktive Gesundheit wahrnehmen können, müssen sie eine angemessene fachliche Unterstützung erfahren. Zur Gewährleistung dieser Unterstützung ist ein Hintergrundwissen notwendig, dass folgende Fragen beantwortet:
- Wo wird FGM/C praktiziert?
- Wann wird FGM/C praktiziert?
- Mit welcher Motivation wird FGM/C praktiziert?
- Welche gesundheitlichen Konsequenzen folgen aus der FGM/C?
- Was bedeutet die FGM/C für die Sexualität der hiervon betroffenen Frauen?
- Was löst die Migration bei genital beschnittenen Frauen aus?
- Was für eine (soziale) Bedeutung hat FGM/C im Herkunftsland?
- Welche Bedeutung hat die FGM/C im Einwanderungsland?
- Welche Haltung hat die beratende Person selbst zu FGM/C?
„Nur in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann eine professionelle Beratung als Grundlage einer angemessenen Versorgung genital beschnittener Frauen umgesetzt werden“ (S. 18). Bei der weiblichen Genitalverstümmelung handelt es sich um die Maßnahmen, bei denen die weiblichen Geschlechtsorgane – ohne medizinische Indikation – teilweise oder vollständig entfernt oder verletz werden. Die Weltgesundheitsorganisation differenziert FGM/C in vier Typen und Subtypen, als da wären:
die Klitoridektomie
- Typ I a: Entfernung der Klitorisvorhaut
- Typ I b: Entfernung der Klitorisvorhaut und äußeren Klitoris
die Exzision
- Typ II a: Entfernung der inneren Vulvalippen
- Typ II b: partielle oder komplette Entfernung der äußeren Klitoris mit Vorhaut und inneren Vulvalippen
- Typ II c: Entfernung aller sichtbaren Teile des Genitals ohne Infibulation
die Infibulation oder pharaonische Beschneidung
- Typ III a: Entfernen von Klitoris und Vorhaut sowie der inneren Vulvalippen und Zusammenhalten der Wundränder der inneren Vulvalippen
- Typ III b: vollständige Ausschneidung der äußeren weiblichen Geschlechtsorgane und Verschließen der Vulva
- alle weiteren Praktiken, die die inneren und äußeren Genitalien ohne medizinische Indikation verletzen oder verändern, z.B. durch Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben, Verätzen oder Streckung der Vulvalippen.
Für das Fachpersonal ist die Kenntnis über die große Bandbreite der FGM/C wichtig. FGM/C kann psychische und physische Folgen nach sich ziehen. So können durch eine genitale Beschneidung hervorgerufene Narben langfristig die Ursache unterschiedlichster urologisch-gynäkologischer Probleme werden. „Die unter nicht sterilen Bedingungen von medizinischen Laien mit unzureichenden Instrumenten ausgeführten Formen von FGM/C haben […] eine Vielzahl von sehr negativen Folgen für die Gesundheit und den Lebensalltag der betroffenen Frauen, die diesen häufig nicht als direkte Folgen ihrer Beschneidung bewusst sind“ (S. 42).
Psychische Folgen genital beschnittener Frauen zeigen sich z.B. in:
- Panikattacken
- Depressionen
- Angststörungen
- posttraumatischen Belastungsstörungen
- Unruhezuständen
- Schlaflosigkeit
- Beklemmung
- Alpträumen
Auf die Sexualität kann die weibliche Genitalbeschneidung:
- das weibliche Lustempfinden nicht beeinträchtigen
- die Sexualität beeinträchtigen
- die Lust vollständig unterdrücken
- durch fehlende sexuelle Befriedigung zu Promiskuität führen
- zu weniger bis gar keinem Orgasmus führen
- zu verminderter körpereigener Lubrikation der Vagina führen.
Jedoch „gibt es zur Sexualität genital beschnittener Frauen nur eine schmale Datenbasis“ (S. 47). Im professionellen Beratungskontext muss die weibliche Sexualität transkulturell und sensibel betrachtet werden. „Wichtig im Umgang mit genital beschnittenen Frauen in der Migration im sozio-medizinischen Beratungskontext scheint, dass die Vielfalt im sexuellen Erleben der Betroffenen anerkannt wird“ (S. 47).
In einem Exkurs zu den medizinischen Aspekten der weiblichen Genitalbeschneidung führt die Autorin aus, dass seit etwa der Jahrtausendwende auf dem europäischen Kontinent eine chirurgische Verjüngung weiblicher Genitalien als vaginal rejuvenation bzw. Designer-Vagina durchgeführt wird.
In der Beratung soll die beratende Person „einen gelingenderen Umgang mit Herausforderungen der Lebensumwelt finden. Die Unterstützung durch Beratung besteht vor allem darin Ressourcen hinsichtlich Persönlichkeit, Kontext und Beziehung zur Umwelt zu erschließen und zu stärken“ (S. 65). Das Ziel der Beratung einer genital beschnittenen Frau mit Migrationshintergrund ist die Stärkung der Ressourcen der Betroffenen im Umgang mit ihrer Beschneidung, „sei es, dass sie einen Veränderungswunsch hegt, sei es, dass sie mit ihrer Situation eigentlich zufrieden ist aber ihre Umwelt ihr Schwierigkeiten bereitet“ (ebd.).
In der Beratung ist es die Aufgabe der Fachpersonen:
- Kenntnis über die folgenreiche weibliche Genitalbeschneidung zu besitzen;
- mit den Betroffenen einen professionellen Kontakt herzustellen;
- die Fragen der Betroffenen respektvoll zu besprechen;
- den Betroffenen mit Informationen zu helfen oder sie an geeignete Angebote zu vermitteln.
Für die Beratung wird der Beraterin empfohlen sich mit der plastisch chirurgischen Rekonstruktion des äußeren Genitals auseinanderzusetzen. Ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil ist die Vernetzung mit entsprechenden interkulturellen Dolmetscherinnen, um so Sprachbarrieren zu überwinden. Sprachbarrieren stellen ein großes Beratungshindernis dar.
Genital beschnittene Frauen mit Migrationshintergrund haben ein Recht auf professionelle und menschrechtsbasierte Unterstützung und Hilfe. Hierfür formuliert Bisang Handlungsempfehlungen für die Beratung: Zur Vorbereitung auf die Beratung dient die Auseinandersetzung mit den Prävalenzraten von FGM/C in den spezifischen Herkunftsländern. „Dies ermöglicht bereits vorab eine gute Einschätzung, ob das Thema weibliche Genitalbeschneidung ein Aspekt des bevorstehenden Beratungsgesprächs sein könnte oder eher nicht“ (S. 84). Beratungsvorbereitend ist auch die Kenntnis der verschiedenen Formen der weiblichen Genitalbeschneidung, „denn für ein hilfreiches und nachhaltiges Beratungsgespräch ist es von grosser Bedeutung, dass sowohl die Klientin als auch ihre Beraterin hinsichtlich dieses heiklen Themas vom Selben sprechen“ (ebd.).
Es werden drei Reaktionsmuster auf weibliche Genitalbeschneidung aufgeführt:
- die Frauen plagen sich mit großen Gesundheitsprobleme und einem enormen Leidensdruck herum;
- die Frauen fühlen sich als normale Frauen
- die Frauen erkennen im Beratungsprozess „für sich, dass ihre physischen, psychischen und sexuellen Probleme in direktem Zusammenhang mit der an ihnen praktizierten Form weiblicher Genitalbeschneidung stehen und wollen diese Probleme lösen“ (S. 85).
Um genital beschnittene Frauen mit Migrationshintergrund für die Beratung zu erreichen, ist eine Vernetzung sinnvoll, als da wären:
- Migrantenvereine;
- Asylorganisationen und Institutionen der Flüchtlingsbetreuung;
- Integrationsfachstellen und -projekte;
- Gesundheitsfachpersonen.
Für die Beratung wird einer solide Kommunikationskompetenz gefordert. Es ist sich hier der personenzentrierten Gesprächsführung nach Carl Rogers zu bedienen, also Akzeptanz, Empathie und Kongruenz. Für Letztgenanntes ist eine inter- oder transkulturelle Spezialisierung wünschenswert.
Im Beratungsgespräch folgt die Problemlösung den Prinzipien methodischen Handelns – und das ist:
- das Erfassen und die Klärung der Ausgangslage;
- das Bilden einer Hypothese;
- das Formulieren eines Ziels
- die Intervention
- die Evaluation.
Das Ziel ist dann die:
- Befähigung zum Treffen begründeter und informierter Entscheidungen;
- Hilfe zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten;
- Erleichterung bei der Konfliktlösung;
- Bewusstmachung von externen Ressourcen.
Fazit
Die besprochene Publikation soll ein Beitrag dazu sein, Unsicherheiten bei z.B. medizinischem Personal zum Thema FGM/C zu überwinden. Sie „ist als Unterstützung gedacht, damit Fachpersonen aus dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich einen adäquaten Umgang mit genital beschnittenen Migrantinnen finden“ (S. 13).
Die Beschneidungsform, das Alter, in welchem sie durchgeführt wird und die Begründung für die weibliche Genitalbeschneidung sind sehr unterschiedlich. Bei der Beratung ist Kultursensibilität außerordentlich wichtig.
Für den Beratungskontext wird auf die personenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers verwiesen. Zur Kongruenz hält Nadia Bisang fest, dass hier das dosierte Mitteilen des eigenen Erlebens, so „es im Zusammenhang mit der Klientin und ihrem Anliegen steht“ (S. 89) zum Einsatz kommt. Bemerkenswert ist die Mitteilung des selbst Erlebten, weil hier das Peer Counseling, die Beratung Betroffener durch Betroffene, zum Einsatz kommt.
„Selbstreflexion, Hintergrundwissen, Erfahrung und narrative Empathie“ sind die vier Kompetenzen, die eine Beraterin qualifizieren, das Thema weibliche Genitalbeschneidung professionell, hilfreich und nachhaltig anzusprechen.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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