Gudrun Hentges (Hrsg.): Krise der Demokratie - Demokratie in der Krise?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.07.2020

Gudrun Hentges (Hrsg.): Krise der Demokratie - Demokratie in der Krise? Gesellschaftsdiagnosen und Herausforderungen für die politische Bildung.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
240 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1029-1.
D: 28,90 EUR,
A: 29,80 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Bedrohungen der demokratischen Lebensform
Es gibt vielfältige Initiativen, Visionen und Warnrufe, dass die der Menschheit bekannte, beste Lebens- und Regierungsform „Demokratie“ durch faschistische, ethnozentristische, nationalistische, rassistische und populistische Parolen und Positionen gefährdet wird (vgl. z.B.: David Goeßmann/Fabian Scheidler 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php; Julian Nida-Rümelin 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26507.php). Eine engagierte Initiative hat der Schauspieler, Oscarpreisträger und UNICEF-Botschafter Peter Ustinov 1999 ergriffen, indem er das in Wien ansässige Sir Peter Ustinov Institut mit dem Ziel gründete, wissenschaftliche Forschungen zur Abwehr von negativen Einstellungen wie Diskriminierung, Stigmatisierung, Fremdenfeindlichkeit, Stereotypenbildungen, Vorurteilen und rassistischen Haltung gegenüber Individuen und Gemeinschaften anzustoßen und einen internationalen, interkulturellen Dialog zu ermöglichen (vgl. dazu auch: Sir Peter Ustinov Institut 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12620.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
Das Institut hat im Sommer 2018 ExpertInnen zu einer internationalen Konferenz zusammengerufen, um über die krisenhaften, beunruhigenden, lokalen und globalen Entwicklungen zu diskutieren, wie demokratische, freiheitliche Errungenschaften durch menschenfeindliche Parolen und Politiken diskriminiert und beschädigt werden. Es sind zum einen unreflektierte, nicht mehr wertgeschätzte (weil als selbstverständlich und gewöhnlich angenommene) politische Situationen; zum anderen gezielte Provokationen, die demokratisch denkende und handelnde Menschen zur Verteidigung der Lebensform der Demokratie herausfordern. Die Politikwissenschaftlerin von der Universität Köln, Gudrun Hentges, gibt den Tagungsband heraus. Die interdisziplinären Beiträge der 21 Autorinnen und Autoren bewegen sich dabei in der Spannweite: Demokratie ist eine historisch gewachsene, anthropologische Errungenschaft der Conditio Humana, die mit den antiken, aristotelischen Vorstellungen des zôon politikon beginnt, bis hin zur postkolonialen, postwachstumsorientierten Kapitalismuskritik.
Aufbau
Neben dem Geleitwort durch den Vorsitzenden des Sir Peter Ustinov Instituts, Hannes Swoboda, und der Einleitung durch Gudrun Hentges, wird der Sammelband in zwei Kapitel gegliedert:
- Im Ersten werden die Beiträge zu „Menschenrechte und Demokratie versus Kapitalismus, Neoliberalismus, illiberale Demokratie“ aufgeführt;
- im zweiten Kapitel wird thematisiert: „Politische Bildung vor neuen Herausforderungen“.
Inhalt
Erster Teil
Der Generalsekretär des Global Campus of Human Rights in Venedig, Politikwissenschaftler an der Universität in Wien und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des SPUI, Manfred Nowak, reflektiert den „Einfluss des Neoliberalismus auf Demokratie und Menschenrechte“. Er zeigt die Ursachen und Entwicklungen auf: „Die wachsende ökonomische Ungleichheit geht unbestreitbar auf den Neoliberalismus zurück…, (die) den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaften untergräbt und die Demokratie akut gefährdet“ (vgl. dazu auch: Thomas Piketty 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php).
Der Wiener Historiker Philipp Ther führt diese Fingerzeige mit dem Beitrag „Vom Neoliberalismus zum Illiberalismus“ weiter. Es ist der „Marktfundamentalismus“, der die Entwicklungen hin zu nationalistischem, egoistischem, rassistischem und Illiberal-populistischem Denken und Tun begünstigt und befördert (siehe dazu auch: Joseph Stiglitz 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26587.php).
Der Berliner Staats- und Rechtstheoretiker Felix Sassmannshausen setzt sich auseinander mit „Dialektik der Demokratie in der Krise“. Am Beispiel des politisch-dialektischen Denkens und Handelns des deutsch-jüdisch-amerikanischen Politologen Franz Leopold Neumann (1900 - 1954) stellt er Parallelen und Zusammenhänge her, wie sie sich in den kapitalistischen, ökonomischen, globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen zeigen.
Die Wiener Politikwissenschaftlerin, Inhaberin des Lehrstuhls „Diversity and Social Cohesion in the Europien Union“, Stefanie Wöhl, verweist mit ihrem Beitrag „Machtverschiebungen vom Parlament zur Exekutive“ auf multiple Krisenanzeiger in der Europapolitik: „Politische Partizipation, soziale Inklusion und ökonomische Integration sollten als gleichwertig betrachtet werden und ein föderales Europa bestärken“ (siehe dazu auch: Silvio Vietta 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25740.php; sowie: Michael Gehler/Alexander Merkl/Kai Schinke 2020).
Der Politikwissenschaftler Kazim Celik, der Soziologe Elmar Brähler und der Psychologe Oliver Decker, alle von der Universität in Leipzig, fragen: „Deutschland in der Legitimationskrise?“. Sie stellen die Ergebnisse der „Leipzig Studien zu Autoritarismus“ aus den Jahren 2006 und 2016 vor und vergleichen die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der ostdeutschen Region. Dabei relativieren sie auf der einen Seite die Eindrücke, die sich als ein „Rechtsruck“ darstellen, bestätigen jedoch auch andererseits die Gefahren, die sich durch Distanz und Ablehnung der liberalen, demokratischen Werte ergeben.
Der Soziologe Jörg Flecker und die Soziologinnen Saskia Schindler und Carina Altreiter, alle ebenfalls an der Universität in Wien tätig, machen sich auf die „Suche nach der einen Ursache“ (mit Fragezeichen!), indem sie über die Erfolge der extremen und populistischen, rechtsextremen Parteien nachdenken. Sie beziehen sich dabei auf Forschungsergebnisse, wie sie im Rahmen des Projektes „Solidarität in Zeiten der Krise. Sozioökonomischer Wandel und politische Orientierungen in Österreich und Ungarn“ 2017 durchgeführt wurden. Deutlich wird, dass die üblichen Unterscheidungen in einerseits primär sozioökonomische und andererseits identitätsverunsichernde Ursachen keine treffsicheren Antworten bieten können; es sind vielmehr situative, emotionale, spontane, unpolitische Gründe, die den rechten Gruppierungen Zustimmung bringen.
Gudrun Hentges und der Doktorand Georg Gläser stellen mit ihrem Beitrag „Metapolitik und das Konzept der (direkten) Demokratie in der Ideologie der Neuen Rechten“ ihre Untersuchungen zu den medialen Verlautbarungen von Pegida, AfD und der Zeitschrift „Sezession“ vor. Mit dem ideologischen (und finanziellen) Anschub durch die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung und den Sommer- und Winterakademien des „Instituts für Staatspolitik“ des „Vereins für Staatspolitik“, Rittergut Schnellroda in Steigra, werden Formen der „identitären Demokratie“ (Carl Schmitt) propagiert.
Der Wiener Politikwissenschaftler Dieter Segert schaut mit seinem Beitrag „Lernen aus der Krise der Demokratie in Osteuropa“ auf die Entwicklungen in diesen Regionen. Die Unterschiede, wie sie sich als (demokratische) Erwartungshaltungen nach 1989 und den heutigen, politischen, vielfach antidemokratischen Entwicklungen darstellen, lassen sich in zweierlei Hinsicht erklären. Zum einen: „Die Grundlage der politischen Institution ‚Demokratie‘ bröckelt, wenn die politisch organisierte soziale Solidarität verloren geht“; zum anderen: Partizipatorische Demokratie verliert, wenn kapitalistische, egoistische und ideologische Einstellungen und Politiken gewinnen!
Den zweiten Teil, in dem Politische Bildung gefordert wird, beginnt der Präsident der Bonner Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, mit dem Beitrag: „Beutelsbach 2.0“. Er stellt zehn Thesen zur politischen Bildung auf, die den „Beutelsbacher Konsens“ aktualisieren und erneuern sollen. Sie stellen sich dar mit den Forderungen:
- Position einnehmen und rote Linie ziehen
- Demokratiebildung ist mehr als kognitive Wissensvermittlung
- Neue Partner finden
- Demokratiepädagogik ist Dialogfähigkeit
- Demokratische Meinungsbildung
- Politische Desintegration verhindern
- Digitale Souveränität fördern
- Politische Bildung ist Lebenslehre
- Gemeinsam statt einsam
- Politische Bildung ist frühe und lebenslange Allgemeinbildung.
Die Hannöverschen Politikdidaktiker Malte Kleinschmidt und Dirk Lange plädieren mit dem Beitrag „Demokratie in der Migrationsgesellschaft“ für eine globale, interkulturelle Bildung. Sie stellen das didaktische Konzept „Inclusive Citizenship Education“ vor und zeigen an Fallbeispielen auf: „Die gesellschaftspolitisch relevanten Vorstellungswelten der Lernenden sind konfliktiv und bergen unzählige ungewohnte (unfamiliar) Acts of Citizenship“.
Der Bildungswissenschaftler der Universität Duisburg-Essen, Klaus-Peter Hufer, liefert „Argumente gegen rechtspopulistische Stammtischparolen“. Nur souveränes Wissen und standfeste Identität vermögen es, Widerspruch gegen Vorurteile und Stereotypenbildungen zu leisten (vgl. dazu auch z.B. die Wortmeldungen und Positionen, wie sie von Oskar Negt vorgelegt werden: www.socialnet.de/rezensionen/11988.php u.v.m).
Marion Wisinger, Trainerin für politische Bildung, berichtet mit dem Beitrag „Sich richtig gut unterhalten“ über ihre Konzepte und Erfahrungen beim Argumentationstraining gegen Stammtischparolen.
Die Wiener Aufklärer Richard Hufschmied und Laura Casanova gehen zum Abschluss des Sammelbandes auf die Informations- und Bildungsarbeit beim Projekt „Parlament erklärt“ ein, als Bestandsaufnahme der demokratiepolitischen Vermittlungsarbeit im österreichischen Parlament.
Fazit
Demokratiebildung und -bewusstsein sind unverzichtbare Bildungs-, Erziehungs- und Aufklärungs-Aufgaben und Herausforderungen. Dort, wo sie nicht sach- und wahrheitsgerecht eingesetzt werden oder sogar fehlen, sind Ideologien, Manipulationen und Indoktrinationen Tür und Tor geöffnet. Weil Demokratie nicht nur die beste, mögliche Regierungs-, sondern auch die humanste, menschenwürdigste Lebensform ist, sind Du und Ich, Er und Sie, alle Menschen aufgefordert, Demokratie zu verteidigen und weiterzuentwickeln, hin zu einer allgemeingültigen globalen Ethik. So ist Demokratiebildung nicht mehr und nicht weniger, als den Homo responsabilis (Hans Lenk) zu schaffen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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